Paul Tillich

Paul Tillich (1886 - 1965) war ab Spätsommer 1912 bis Mai 1913 Hilfsprediger an der 1911 eingeweihten ErlöserkircheMoabit.

Mit seinen inbesondere als Hilfsprediger der Erlöserkirchengemeinde in Moabit gehaltenen Predigten beschäftigen sich die Artikel und Thesen von Pfarrer Wolfgang Massalsky, die anläßlich des 90-jährigen Gemeindejubiläums im Mai 2001 entstanden.

 

 

Inhalt:

 

 


 

Paul Tillichs Theologie in ihren Grundentscheidungen in 8 Thesen

1. These: Die Frage nach Gott wird bei Tillich nicht nur abstrakt aus der Heiligen Schrift und der dogmatischen Tradition beantwortet, sondern immer auch auf die heutige menschliche Erfahrung bezogen. Darin unterscheidet er sich entschieden von der "dialektischen" Theologie der 20er Jahre.

2. These: Das, was das menschliche Dasein zu definieren scheint, die Ziele, die wir Menschen uns setzen, die Rahmenbedingungen, der Kontext, in dem wir unser menschliches Dasein zur Entfaltung bringen, werden von ihm auf den uns unsichtbar umgreifenden letzten Horizont unseres Lebens bezogen, und zwar so, dass es erst von diesem her seine eigentliche Sinntiefe empfängt. (Aber wie ist dieser letzte Horizont zu verstehen?)

3. These: Die Gotteslehre wird damit von Tillich einerseits (anthropologisch) bestimmt durch das Wissen um eine transzendente Dimension, die in allem konkret Erlebten mitschwingt, andererseits durch eine Metaphysik, die den biblischen Gottesgedanken mit einem Seinsdenken auf eine Stufe stellt, wonach "Gott" nur eine Chiffre oder besser ein Symbol für das uns "unbedingt angehende" Sein in seiner Tiefe darstellt. (Dabei übersieht Tillich allerdings völlig, dass die biblische Gotteserfahrung aus geschichtlichen Widerfahrnissen erwachsen ist und der Gott der Bibel kein unveränderliches geschichtsloses Wesen ist!)

4. These: Freilich gewinnt Tillich damit einen von der doktrinären christlichen Tradition befreiten Glaubensbegriff. Während letzterer Heilige Schrift, Verkündigung und Glaubensgehorsam als Wirklichkeiten des Heiligen Geistes mit den Lebensordnungen der Kirche als Heils-Institution unauflöslich verband, so dass es eine Christenheit ohne Kirche nicht geben konnte, kann Tillichs Glaubensverständnis als Ausdruck der modernen Emanzipation der Christenheit und ihres Glaubens aus den autoritären Formen kirchlicher Glaubenssysteme verstanden werden. Damit ist er zum Wegbereiter eines Christentums ohne Kirche oder eines "anonymen" Christentums, eines in diesem Sinne "freien" Christentums geworden.

5. These: Jede Form eines den Menschen bis in sein Innerstes beanspruchenden und ausfüllenden Engagements konnte nun als "Glaube" ausgegeben werden, wobei man jedoch fragen müsste, woran solcher Glaube eigentlich wirklich glaubt. Darf die Frage nach dem (objektiven) Grund des Glaubens übersprungen werden? Und ist Glaube anders als an einen personhaft handelnden, mich ansprechenden, mich engagierenden Gott vollziehbar? Und schließlich ist noch zu fragen: Vermag die Rede von Gott als Symbol eines unauslotbaren Seins-Geheimnisses der atheistischen Gottesleugnung auf Dauer standzuhalten?

6. These: Tillich leugnet nicht, dass es falsche, dämonische Glaubensformen, wahnhafte Glaubensideologien gibt: darunter viele Nationalismen und Imperialismen des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch die marxistische Utopie von der klassenlosen Gesellschaft zählt er dazu. Im persönlichen Bereich mag es das unbedingte Streben nach Erfolg sein, das dem Menschen immer neue Ziele vorgaukelt, das aber sehr oft in Selbstzerstörung umschlagen kann, wenn man ihm alles andere, was das Leben erst wertvoll macht, zu opfern bereit ist. Das zeigt sich in der Begierde nach grenzenloser Sicherung des eigenen Daseins genauso wie in den vielen Formen der Selbstverwirklichung auf Kosten des anderen und der Natur. Aber trifft Tillichs Charakterisierung der Sünde als bloße "Entfremdung" vom eigentlichen Sein überhaupt den Sinn der biblischen Rede von der Sünde als Selbstverfehlung (Röm 7) und der Missachtung der Gebote Gottes? Und was bedeutet es, dass Jesus Christus als der Repräsentant eines "neuen Seins" verstanden werden soll? Kann auf der Sündlosigkeit eines unentfremdeten Lebens - wie sie im Prinzip jedem Menschen möglich sein sollte - die Lehre von Christus als allein "wahrer Mensch und wahrer Gott" aufgebaut werden?

7. These: Tillich möchte eigentlich verhindern, dass ein Vorletztes zu etwas Letztem verabsolutiert wird. Aber kann das gelingen, wenn "Gott" selbst nur den Wert eines Symbols hat und damit als Richter über den Unglauben ausfällt? Wie kann Gottes Abwesenheit im Alltag überhaupt noch als Gericht verstanden werden, wenn sein Fehlen jederzeit durch einen anderen symbolischen Gegenstand ersetzt werden kann? Hat sich Gott nicht am Kreuz unverwechselbar und unauflösbar mit Jesus Christus identifiziert? Inwieweit können andere Symbole dasselbe leisten?

8. These: Andererseits bemüht sich Paul Tillich doch darum, Gott als Seinsmacht und Lebensgrund mit dem Lebensgefühl des Menschen in Beziehung zu setzen, wobei Gott als eine Macht verstanden wird, die stärker ist als alle Seinszerstörung. Im Gegenteil: Gott ist die in allem Seienden gegen seine Zerstörung ankämpfende Urmacht des Seins, die Quelle unseres Seinsvertrauens, das im "Mut zum Sein" trotz aller Katastrophen und Erschütterungen spürbar ist. Darum ist Gott selber das nicht personifizierbare, ungegenständliche Geheimnis des Daseins, Grund und Abgrund allen Seins (im Sinne Schellings), das in sehr verschiedenen Formen und Bildern angeschaut und aktualisiert werden kann. Ist der dreieinige Gott, zu dem sich die Christenheit bekennt, in diesem Schemen noch erkennbar?

Pfarrer Wolfgang Massalsky, zum 16. 5. 2001


Tillichs Predigten aus seiner Vikariats- und Hilfspredigerzeit (1909-1913)

Die im Karton im Paul-Tillich-Archiv zu Marburg vorhandenen Predigten Tillichs lassen sich theoretisch verschiedenen Zeiten und Orten zuordnen. Als Lehr-Vikar war er zuerst in Lichtenrade und Mahlow (Irrenanstalt), später in Nauen und Treptow, als Hilfsprediger (nach seiner Ordination 1912) in "Erlöser1" eingesetzt. Unter den in Frage kommenden Abschriften der Berliner Predigten fand ich in dem Predigt-Karton die folgenden:

Nr. 2

 

Predigttext/
Textverweis

 

Zeit
Kirchenjahr
Sonntag

 

Lieder-
angaben
(GB?)

 

Thema

 

1.

 

Mt 10, 16

 

Keine Angaben gefunden

 

 

 

Der Mensch zwischen Wahrheit und Lüge

 

2.

 

Ps 130, 6

 

Advent

 

 

 

Das Warten der Menschenseele auf Gott

 

3.

 

Phil 4, 5

 

4. Advent

 

55, 1-4.5-8;70,9.10

 

Der Herr ist nahe zum Gericht und zur Errettung

 

3a. (daran beigeheftet) fragmentarische Predigt zu Jer 31, 31

 

 

 

1. Advent

 

 

 

Der neue Bund

 

4.

 

"Niemand hat Gott je gesehen"

 

Heilig Abend

 

 

 

Gott sehen

 

5. angetackert bei Nr. 4

 

 

 

 

 

 

 

Entwürfe für Taufen, Abendmahl, Trauung

 

5a. (mit 5 verklammert)

 

 

 

"Fest der Toten"

 

643, 1-4;624, 1-4. 9. 10

 

"Heilig ist der Tod"

 

5b. (dazu Anfang von Nr. 3a)

 

Jer 31, 31

 

 

 

70, 1-4. 5-8. 9. 10

 

 

 

6.

 

Jes 9, 6

 

Weihnachten

 

 

 

Des göttlichen Kindes vierfacher Rätselname

 

7.

 

1. Kor 13, 5

 

Nach Weihnachten (E.S. Januar 1913)

 

 

 

Von der Hingebung (wahrlich sie sucht nicht das Ihre)

 

8.

 

Röm 12, 15

 

 

 

 

 

Einheit mitten in Vielheit und Selbstsucht

 

9.

 

Joh 5, 7

 

1. Passionssonntag

 

 

 

Vom Leiden an der Einsamkeit

 

10.

 

Hebr. 12, 1-6

 

Passion

 

124, 1-5; 138, 1-4. 5.8

 

Weltwiderspruch

11.3

 

Joh 6, 63

 

Ostern (E.S. O II)

 

 

 

Welterlösung: Der Geist ist es, der da lebendig macht

 

12.

 

Joh 14, 1-6

 

 

 

 

 

Die vielen Wohnungen und der eine Weg

 

13.

 

Mt 5, 48

 

 

 

 

 

Von der vollkommenen Forderung Gottes

 

14.

 

Mt 6, 7-8 (kombiniert mit 1. Thess 5, 17)

 

Rogate

 

 

 

Die Aufhebung und Einsetzung des Gebets

 

15.

 

Kol 3, 1-4

 

Himmelfahrt

 

 

 

Des Christen wahres Leben - verborgen und offenbar

 

16.

 

Joh 12, 32

 

Himmerlfahrt (E.S. Exaudi 13)

 

 

 

Von der Heimkehr der Seele zu Gott

 

17.

 

2. Kor 3, 17

 

Pfingsten

 

 

 

Der Geist der Pfingsten

 

18.

 

Gal 5, 22

 

Pfingstfestabend

 

 

 

Die dreifache Frucht des Geistes

 

19. (+ 19a.)

 

1. Thess 5, 4-8

 

Möglicherweise für einen Abendgottesdienst

 

360, 1-4;374, 6.7

 

 

 

20.

 

Mt 9, 35. 36 (besser 35 - 38)

 

 

 

 

 

 


nach obenNach den Unterlagen, die ich einsehen konnte und der Sekundärliteratur zu diesem Komplex, ist im Einzelfall nicht mit letzter Sicherheit festzustellen, ob alle hier aufgelisteten Predigten auch wirklich in der Erlöserkirche gehalten wurden bzw. welche sonstigen Predigten in der Erlöserkirche gehalten worden sein könnten. Wenn sich Tillich mit seinem Amtskollegen 14-tägig im sonntäglichen Predigtdienst abgewechselt hat, könnte die Zahl der Predigten in etwa stimmen. Dann müssten allerdings Nachmittag- oder Abendpredigten im wesentlichen Wiederholungen gewesen sein 4 . Seine Moabiter Kasualpredigten(bei allein mehr als 90 Taufen, an den beiden Weihnachtstagen 1912 allein 34 Kinder) müssen hingegen fast alle als verschollen gelten. Da Lichtenrade, Mahlow, Nauen, Treptow seinerzeit nicht zu Berlin gehörten, bleibt aber praktisch nichts anderes übrig, als die "Berliner" Predigten direkt Moabit zuzuordnen, wenn keine andere Zuordnung verzeichnet oder zwingend geboten erscheint. (Immerhin sind Nr. 19 + 19a offenbar primär Treptow zuzuordnen! Und Nr. 20 führt A. Rössler in seiner Dissertation zu Tillichs Predigttheorie im Gegensatz zu E. Sturms Edition der Frühen Predigten Tillichs nicht unter den Moabiter Predigten auf, - wenn ich meine flüchtigen Notizen aus dem Paul-Tillich-Archiv heute richtig lese.) Die von mir nach dem eben benannten Verfahren festgestellten Moabiter Predigten (wobei ich die ursprüngliche Bündelzählung weglasse) lege ich im Anhang bis auf die Nr.n 1 und 18 kopiert vor, die ich als Abschriften nicht erhalten konnte.

Wolfgang Massalsky

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1In "Erlöser" stand übrigens die Wahl des ersten ordentlichen Pfarrers der Gemeinde unter seiner Leitung; er war damit rund 5 Monate als Hilfsprediger nicht nur Verwalter einer Pfarrstelle, sondern vorübergehend auch kommissarischer Vorsitzender des Ältestenrats.
2 Einige wenige Predigten habe ich im Paul-Tillich-Archiv zu Marburg leider nicht zu Gesicht bekommen: eine zu Gen 3, eine zu Röm 5; sie sind dokumentiert bei E. Sturm (Hg.), Frühe Predigten
3Eine Predigt, die schon aus Nauen stammen könnte (so A. Rössler), aber für E. Sturm erst in Moabit gehalten worden sein dürfte.
4Erstaunlich ist es außerdem, dass Tillich während der Nach-Trinitatis-Zeit von August bis November 1912 so gut wie keine Predigten gehalten haben sollte.

                                                                                                                                                                        28. Mai 2002

 


Überlegungen zu den Moabiter Predigten Paul Tillichs

Um Tillichs Moabiter Predigten zu verstehen, wird man zwei Dinge zu beachten haben, einmal dass er Student bei Martin Kähler in Halle war, zum andern dass er durch seine frühe Beschäftigung mit Schellings Philosophie einen eigenen theologischen Standpunkt gewonnen hat, auf dem es ihm offenbar von Anfang an klar gewesen ist, dass die allgemein-menschlichen Grundfragen der Philosophie (des deutschen Idealismus) in Beziehung zu bringen sind mit den Grundaussagen der evangelischen Theologie, die ihm während seines Studiums in Halle besonders eindrucksvoll in der Gestalt von M. Kählers biblischer Rechtfertigungstheologie begegnet war.

Dabei ist deutlich, dass er die Aussagekraft des christlichen Glaubens nicht allein aus den Formeln der positiv-kirchlichen Dogmatik erhebt, sondern daneben die Lebenswelt der Menschen, ihre Gegenwartsinteressen daraufhin befragt und untersucht, ob darin ein Bezogensein dieser Menschen in ihrem Fragen und Leben auf eine in der Tiefe sie angehende geistige Macht zum Ausdruck kommt (vermutlich der allererste Ansatz für Tillichs Symboltheorie), in der sich der biblische Gott verbergen kann, den die christliche Theologie nicht nur als den Schöpfer, sondern zugleich auch als den Erlöser des Menschen aus seiner Sünde verkündigt. Dabei kann Tillich Sünde und soziale Missstände einerseits sowie das damit verbundene Lebensganze (Gefühle, Empfindungen, Verhaltens- und Handlungsweisen) der Menschen auf der zwischenmenschlichen Ebene in engen Zusammenhang bringen.

Das Ernstnehmen der sozialen Lebensverhältnisse sowie die symbolischen und apologetischen Tendenzen seines späteren Werkes scheinen in diesem Ansatz grundgelegt.

Daraus ergibt sich als erste Feststellung, dass wir seine Predigten generell, aber auch bereits in dieser Phase, keineswegs immer als konventionelle Gemeindepredigten bezeichnen können, wenn man darunter entweder eine Themapredigt oder eine den Schritt vom biblischen Text zum Hörer nachvollziehende, ihn zur Umkehr rufende Predigt versteht. Eher kann man sie als "religiöse Reden" bezeichnen mit argumentativ-lebensverstehender Struktur, weniger appellativ als vielmehr aufzeigend und mitnehmend.

 

Sprachlich und formal ist sein damaliger Predigtstil:

 

  1. Manchmal ausgesprochen hymnisch oder sogar mystisch
  2. oft seelsorgerlich-meditativ, trotzdem meist sehr lehrhaft;
  3. nicht ungern werden gegensätzlich klingende Bibelworte nach ihrem tieferen Sinn befragt.
  4. Die Perikopenordnung wird von Tillich nur selten streng befolgt! (Daher ist auch eine chronologische Einordnung nicht immer einfach, immerhin gibt es nicht selten Hinweise auf den Predigtzweck, auf die homiletische Situation, auf den Kirchenjahressonntag.)
  5. Häufig wird nur über einen einzelnen Bibelvers gepredigt.
  6. Die gedankliche Gliederung variiert nicht selten den Dreischritt These, Antithese, Synthese;
  7. der Zusammenhang mit dem biblischen Text ist manchmal recht lose;
  8. obwohl er von der Sprache der Bibel und des Gesangbuchs gern Gebrauch macht.

Seine dogmatischen Grundgedanken:

Die Schöpfung ist Produkt eines göttlichen Willensaktes, weshalb sie nach dem Sündenfall des Menschen nicht mit Naturnotwendigkeit zum Ursprung des innergöttlichen Lebens zurückkehren kann. Der Sündenfall bedeutet Aufstand der menschlichen "Selbstheit" gegen Gott; die Erlösung in Christus dagegen Preisgabe dieser natürlichen Selbstheit und Gewinnung einer neuen höheren Einheit von Mensch und Gott.

Im Unterschied zu späteren Predigten von Tillich fällt in seinen frühen auf, dass er zuerst viel stärker die einzigartige Verbindung Jesu mit Gott betont hat, ja darüber hinaus sogar von einer Identität Jesu mit Gott sprechen konnte. Davon ist später leider nicht mehr viel zu lesen. Andererseits finden sich vereinzelt bereits hier Ansätze zu einer Christologie von unten. Darunter versteht man eine Lehre von Christus, die vom Menschen Jesus und seiner Verbundenheit mit Gott ausgeht. So finden wir hier bereits eine starke Betonung der Menschlichkeit Jesu. Statt von der Gottheit Jesu spricht er daher manchmal lieber von der Gottessohnschaft Jesu. Die Einheit Jesu mit Gott gründet in erster Linie in der Willenseinheit Jesu mit Gott. Die Zwei-Naturen-Lehre hält er für das Erzeugnis eines falschen naturgesetzlichen Denkens, das in der Theologie nichts zu suchen habe. Das Kreuz gilt als Aufrichtung des ersten Gebotes, als Ernstnehmen des göttlichen Willens, zugleich aber als Angebot der Versöhnung mit Gott für alle Menschen. Weil die Gläubigen (Seelen) am Geschick Jesu Anteil haben, können sie durch ihn (im Durchgang durch den Tod) zu Gott zurückkehren und so das Heil wiedererlangen, das sie durch den Sündenfall verloren haben, sofern die Christustat die Seele des Menschen ganz erfüllt und darin gleichsam imaginiert wird. Die Kirche kommt in diesem System nicht an zentraler Stelle vor.

Bei aller Lehrhaftigkeit seines Predigtstils, ist die dogmatische Argumentation aber angenehmerweise fast immer mit den allgemeinmenschlichen oder speziell religiösen Problemen der Hörer verbunden. Der Ausgangspunkt behandelt zumeist das Verhältnis von Gott und Mensch oder unsere Schwierigkeiten mit Gott aufgrund des in der Geschichte bzw. Gesellschaft Erlebten oder Erlebbaren, um sich mit Fragen der Moral, der Ehe, der Liebe oder nach dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen. Interessant ist, dass die Stoffe in Tillichs Perspektive meist schon von sich aus einen Bezug zur religiösen Sphäre des Menschen haben.

In spiritueller Absicht werden die verschiedensten Aspekte des christlichen Lebens behandelt wie z.B. Frömmigkeit, Gebet, persönliche Erbauung, Schwachheit und Kraft des Gotteswortes, Leben und Tod, Leiden und Gottverlassenheit, die Zweifel des Frommen, die Früchte des Glaubens, aber auch Furcht vor ungewissem Lebensschicksal und Einsamkeit. Seinen gebildeten Hörern macht er deutlich, dass der Zweifel an Gott nicht immer Zeichen von Glaubensschwäche sein muß, sondern zur Ehrlichkeit des Menschen gehören kann.

Wo Tillich von der Situation des Menschen ausgeht, da erhält sie ihre eigentliche Seinstiefe erst dort, wo sie durch das Brennglas der christlichen Botschaft ihr Licht empfängt. Dieses Licht scheidet das Vorletzte vom Letzten, das Vergängliche vom Ewigen. Dabei betrachtet er den Menschen als ein Geschöpf Gottes, das in irgendeiner Weise durch seine Natur auf seinen letzten Seinsgrund in Gott bezogen ist, wie sehr es auch jetzt von ihm entfernt sein mag. Kein noch so tiefsitzender Zweifel an der Existenz Gottes kann ihm dieses Bezogensein auf seinen letzten Seinsgrund rauben.

Damit können wir zweitens feststellen: Es gibt bei Tillich in jener Zeit entgegen allen anderslautenden Behauptungen kein einheitliches Predigt-Schema!

Es werden fast ausschließlich individuelle und typische menschliche Situationen, aber kaum politische Probleme aufgegriffen! Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse in jener Zeit fehlen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) fast vollständig.

In einer einzigen Predigt werden die Probleme der Industrialisierung und der Fabrikarbeit angesprochen, ansonsten überwiegt in Moabit das Allgemeinmenschliche, das Existenzielle.

Der Gesamtduktus seiner Predigten lässt nicht vermuten, dass er zu jener Zeit ein ausgesprochen politisches Interesse an der Verbesserung der sozialen Lage der arbeitenden Bevölkerung gehabt hätte, eher schon an der Hebung und Festigung des religiösen Bewusstseins seiner Zuhörer und sicher auch an der Veränderung ihrer persönlichen Einstellung zu den vom damaligen Bürgertum meist etwas verächtlich behandelten Menschen in den Hinterhöfen Moabits, wobei davon auszugehen ist, dass zu Tillichs Predigthörern weniger die reichen Fabrikbesitzer gehörten, die meist ganz woanders wohnten, als vielmehr die einfachen Bürger und die Angehörigen der arbeitenden Bevölkerung, die sich durch ihre Nähe zur Kirche einerseits von den verelendeten Massen positiv abzuheben suchten, andererseits ihre soziale Verantwortung durchaus (zumindest für die Menschen in ihrem familiären Umfeld) erkannten und wahrzunehmen suchten.

Ein bestimmter politischer Standpunkt etwa links von der konservativen Mitte ist in Tillichs Predigten jener Zeit nirgendswo deutlich erkennbar, so dass sein späterer "religiöser Sozialismus" eher als der Versuch verstanden werden muß, einen neuen theologischen Rahmen zu schaffen für die Auseinandersetzung mit den schwerwiegenden existenziellen Krisen der Menschen während und nach dem 1. Weltkrieg und den tragischen sozialen Verwerfungen, die mit dem Verlust der traditionellen Wertvorstellungen und Hierarchien seit der Abschaffung des Kaiserreiches einhergingen und große Teile der notleidenden Bevölkerung verunsicherten.

Wenn man von hier aus einen Blick auf seine spätere Theologie der Kultur wirft, so lässt sich nach dem bisher Gesagten feststellen, dass er fast mit keinem Wort eine Trennung von sakraler und profaner Sphäre propagiert. Das Heilige kann bei Tillich durchaus sehr alltäglich sein, und die Religion ist der Sache nach bereits jetzt als die eigentliche Substanz der Kultur, ihre Geheimnistiefe verstanden. Indem wir alles uns angehende Irdisch-Weltliche vor Gott bringen und bedenken, erhält es so auch eine eigene Weihe, freilich nicht bloß im Sinne einer affirmativen Verklärung und Bestätigung der vorhandenen Verhältnisse, sondern auch im Sinne einer kritischen Wertung des Bestehenden. Die religiöse Interpretation der Wirklichkeit ist somit schon vom jungen Tillich als eine legitime Zielsetzung des Gottesdienstes anerkannt.

Wirft man von hier aus einen Blick auf die etwa zur selben Zeit, als er an der Erlösergemeinde wirkte, niedergeschriebenen Thesen zur Systematischen Theologie aus dem Jahre 1913 (abgedruckt in: A. Bernet-Strahm, Die Vermittlung des Christlichen, 1982, bes. die Thesen 72, 73, 113, 116) so zeigt sich, dass für Tillich ganz im Sinne seines Lehrers Martin Kähler die christliche Glaubensgewissheit nicht an der historisch feststellbaren Gestalt Jesu festgemacht werden könne und dass die Offenbarung Gottes in Jesus Christus für unseren Glauben nur insoweit Bedeutung gewinnt, als sie den Gläubigen mit Gott direkt in Gemeinschaft bringt. Tillich behauptet sogar, dass es ganz in der Konsequenz der Rechtfertigungslehre liege, dass wir über den historischen Jesus durch Forschung keine letzte Sicherheit erlangen können, weil wir sonst gezwungen wären, einen doppelten Glauben zu entwickeln, den an den historischen Jesus und den an den in Christus angeschauten Gott. Die Eindeutigkeit des Glaubens und die Erfahrung der durch Christus vermittelten Gemeinschaft mit dem ewigen Gott dulden mithin keine Eintrübung des Glaubens durch die Historie. Die Frage nach der historischen Gewissheit des über Jesus Berichteten stelle sich nur für eine Metaphysik, die mit Hilfe von Begriffen wie Kausalität und Substanz nach der metaphysischen Möglichkeit der Person Jesu frage. Sie schafft sich Probleme (Trinitätstheologie und Zwei-Naturen-Lehre), wo es für Tillich keine geben müßte.

Wolfgang Massalsky, 28. Mai 2002

                                                                                                                               

Ergebnisse eines Durchgangs durch Tillichs Moabiter Predigten

1. Generell:

Die Perikopenordnung wird von Tillich nur selten streng befolgt! (Daher ist auch eine chronologische Einordnung nicht immer einfach, immerhin gibt es nicht selten Hinweise auf den Predigtzweck, auf die homiletische Situation, auf den Kirchenjahressonntag.) Eine Themaüberschrift haben sie ursprünglich nicht gehabt. Häufig wird nur über einen einzelnen Bibelvers gepredigt.

2. Wie lassen sich die Predigten Tillichs als Predigttyp beschreiben?

2a. Den Versuch, einen korrelativen, einen meditativen und einen mythologisch-theosophischen Predigttyp zu unterscheiden, halte ich aufgrund meiner Lektüre der Moabiter Predigten für verfehlt. Man kann zwar Elemente von allen drei Typen oder einzelne Elemente des einen oder anderen Typs entdecken, doch daraus lässt sich keine generelle Typologie ableiten.
Richtig ist, dass seine Predigten auch in ihrer seelsorgerlichen Ansprache oft sehr lehrhaft wirken. Insofern können sie vielleicht sogar als Lehrpredigten bezeichnet werden. (vgl. 3a, 6, 7, 12-14, 18)
Die dogmatische Argumentation ist aber angenehmerweise fast immer mit den allgemeinmenschlichen oder speziell religiösen Problemen der Hörer verbunden. Der Ausgangspunkt behandelt nicht selten das Verhältnis von Gott und Mensch oder die Schwierigkeiten mit Gott aufgrund des in der Geschichte bzw. Gesellschaft Erlebten oder Erlebbaren. Interessant ist, dass die Stoffe nicht erst sekundär zu religiösen gemacht werden müssen, sondern meist schon von sich aus einen Bezug zur religiösen Sphäre des Menschen haben.
In seelsorgerlicher Absicht werden die verschiedensten Aspekte des christlichen Lebens behandelt wie z.B. Verhalten und Frömmigkeit, Gebet, persönliche Erbauung, Schwachheit und Kraft des Gotteswortes, Leben und Tod, Leiden und Gottverlassenheit, die Zweifel des Frommen (vgl. Nr. 2 u.6), die Früchte des Glaubens, aber auch Furcht vor ungewissem Lebensschicksal und Einsamkeit.
Groß ist sein Interesse an der inneren Dialektik biblischer Worte, ihre scheinbare Widersprüchlichkeit: z. B. "in meinem Hause gibt es viele Wohnungen" und "niemand kommt zum Vater denn durch mich"; oder "betet ohn Unterlaß" und gleichzeitig "weiß Gott ja alles, um was wir ihn bitten".
Wenn die meditativ-lehrhaften Elemente fehlen wird noch deutlicher als dies auch so schon der Fall ist, dass Tillich immer von der Situation des Menschen ausgeht, wie sie von der christlichen Botschaft aus beleuchtet bzw. beantwortet werden kann. Dabei betrachtet er den Menschen als ein Geschöpf Gottes, das in irgendeiner Weise durch seine Natur auf einen letzten Seinsgrund in Gott bezogen ist, wie sehr er auch jetzt noch von ihm entfernt sein mag. Und kein noch so tiefsitzender Zweifel an der Existenz Gottes kann ihm dieses Bezogensein auf diesen letzten Seinsgrund rauben.
Wenn von einer mythologisch-theosophischen Seite seiner Predigten gesprochen werden kann
1, dann hängt sie mit seiner Vorstellung von einem ganz ins Innerliche des Menschen eingelassenen Erlösermythos zusammen, der in Jesus Christus Gestalt angenommen und den Menschen (fast gnostisch anmutend) aus seinem todverfallenen (wenngleich nicht als böse Natur abgewerteten) Dasein befreit habe und immer wieder neu befreie, wenn die Christustat in das Innere der Seele des Menschen aufgenommen und darin gleichsam imaginiert werde (vgl. Nr. 1, 7, 8).

2b. Damit können wir feststellen: Es gibt bei Tillich kein einheitliches Predigt-Schema!
Es werden fast ausschließlich individuelle und typische menschliche Situationen, aber kaum politische Probleme aufgegriffen!
Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse in jener Zeit fehlen fast vollständig:
Ausnahme Nr. 3, wo möglicherweise auf Ereignisse auf dem Balkan angespielt wird, wo vom Oktober 1912 an kriegerische Kampfhandlungen stattfanden, die zur Niederlage der mit Deutschland verbündeten Türkei führten.
In einer einzigen Predigt (Nr. 20) werden die Probleme der Industrialisierung und der Fabrikarbeit angesprochen, ansonsten überwiegt in Moabit das Allgemeinmenschliche.
Der Gesamtduktus seiner Predigten lässt nicht vermuten, dass er zu jener Zeit ein ausgesprochen politisches Interesse an der Verbesserung der sozialen Lage der arbeitenden Bevölkerung gehabt hätte, eher schon an der Hebung und Festigung des religiösen Bewusstseins seiner Zuhörer und gegebenenfalls an der Veränderung ihrer persönlichen Einstellung zu den vom damaligen Bürgertum meist etwas von oben herab behandelten Werktätigen, wobei davon auszugehen ist, dass zu Tillichs Predigthörern weniger die reichen Fabrikbesitzer gehörten als vielmehr die einfachen Bürger und die Angehörigen der arbeitenden Bevölkerung, soweit sie nicht völlig verelendet oder der Kirche entfremdet waren.
Ein bestimmter politischer Standpunkt etwa links von der rechts-konservativ-vaterländischen Mitte ist in Tillichs Predigten jener Zeit nirgendwo deutlich erkennbar, so dass sein späterer "religiöser Sozialismus" eher als der Versuch verstanden werden muß, einen neuen religiösen (religionssoziologischen) bzw. theologischen Rahmen zu schaffen für die Auseinandersetzung mit den schwerwiegenden existenziellen Krisen der Menschen während und nach dem 1. Weltkrieg und den tragischen sozialen Verwerfungen, die mit dem Verlust der traditionellen Wertvorstellungen und Hierarchien seit der Abschaffung des Kaiserreiches einhergingen und große Teile der notleidenden Bevölkerung tief verunsicherten
2.

Wie schon gesagt: Die soziale und politische Dimension des menschlichen Daseins wird im allgemeinen von Tillich in jener Zeit nicht thematisiert.
Die Stimmung seiner Moabiter Predigten (und der meisten anderen jener Jahre vor dem Krieg) ist insgesamt eher unpolitisch.
Fragen der individuellen Moral, des Familienlebens, der Berufsbewältigung und der zwischenmenschlichen Beziehungen stehen im Vordergrund.
Im einzelnen beschreibt der junge Tillich die Situation des Menschen als Bestimmtsein durch die Sünde, und d. i. für ihn damals ein grundsätzlich verkehrtes Verhältnis zu Gott, wie es in einzelnen Verfehlungen und Verirrungen aufweisbar ist.
Daneben kommt er immer wieder auf die Probleme der Vergänglichkeit und des Todes zu sprechen.
In fast schon platonisierender Sprache wird dabei die Ewigkeit als die eigentliche, wahre Sphäre der Vergänglichkeitssphäre dieser Welt des Scheins und Betrugs entgegengesetzt. Doch will er diesen Gegensatz nicht verabsolutiert sehen, da er im Prinzip überwindbar ist: Ebenso wie der Apostel Paulus den Tod als der Sünde Sold beurteilt, sieht auch Tillich das Leiden an der Vergänglichkeit des Menschen in erster Linie als Ergebnis seiner Abwendung und Abgewandtheit von Gott an (vgl. dazu Nr.n 11 u. 15).
Hinsichtlich der später in apologetischer Absicht entwickelten Überlegungen über ein allgemeinmenschliches Transzendenzbewusstsein (indem er das Bezogensein des Menschen auf etwas Unbedingtes als maßgeblich ansieht, vgl. Nr. 16), das an keinen konkreten Glauben gebunden ist, kann man erste Anzeichen dazu auch schon in diesen Predigten entdecken. Allerdings würde man darüber vielleicht Konkreteres lesen wollen. Denn im Rückblick aus einer späteren Kenntnis seines Werkes mag man aus seinen damaligen Predigten mehr herauslesen als faktisch darin steht.
Immerhin wird die Existenzfrage des Menschen, von der er in verschiedenen Formen umgetrieben wird, in Tillichs Predigten bereits damals als Sehnsucht nach Lebenserfüllung und Erlösung und sogar als Wahrheitsfrage verstanden, die im ethischen Bewusstsein (Gewissen) sich als Wissen um Zurückbleiben hinter in unseren letzten Lebensentscheidungen verborgenen unabweisbaren Forderungen (Gottes) niederschlägt. Auch wenn diese unbedingten Forderungen von uns zeitweilig verdrängt werden, gelingt es uns doch niemals, uns ihrer ganz zu entledigen.
Dieser Sicht des Menschen korrespondiert in seinen Predigten eine starke Akzentuierung der Kreuzeserfahrung Jesu, in der sich Selbsthingabe Jesu und Ausgeliefertsein Jesu an Gottes Willen zu einer letzten Einheit von Mensch und Gott verbinden. Indem Tillich zugleich unsere Erfahrung des Scheiterns an uns selbst in unserer Gottlosigkeit in Verbindung mit unserer Sehnsucht nach einer letzten Sinnerfüllung unseres ständig (von Vergänglichkeit und Zerstörung) bedrohten Lebens in dieser Kreuzeserfahrung Jesu aufgehoben sieht, vermag er auch dem Menschen in seiner Zeit einen Weg aus der Entfremdung von Gott zu einer Neubestimmung seiner Existenz zu zeigen. (vgl. bes. die Nr.n 1 (leider nicht mitabgedruckt), 3, 5a, 5b, 7-13, 15, 17.
Dieser zunächst noch weitgehend aus der lutherischen Predigt-Tradition übernommene Ansatz seiner Kreuzestheologie tritt allerdings doch später gegenüber einer neuartigen Geist-Theologie in den Hintergrund, und aus Predigten werden allmählich "religiöse Reden", die ein neues Selbstsein proklamieren, für das das Christliche immer mehr zur bloßen Illustration eines Allgemein-Menschenmöglichen wird.
So können wir unter dem Strich festhalten: In seinen Predigten herrscht die Tendenz vor, alles Heteronom-Positive am christlichen Glauben zu überwinden und die Autonomie des Gedankens auch in der christlichen Kerngemeinde zu etablieren. Die Wahrnehmung der religiösen Erfahrung wird dabei legitimer Bestandteil seiner Predigtkonzeption.
Wenn man von hier aus einen Blick auf seine spätere Theologie der Kultur wirft, so lässt sich schon jetzt feststellen, dass er fast mit keinem Wort eine Trennung von sakraler und profaner Sphäre propagiert, das Heilige kann bei Tillich durchaus sehr alltäglich sein, und die Religion ist der Sache nach bereits jetzt als die eigentliche Substanz der Kultur, ihre Geheimnistiefe verstanden. Indem wir alles uns angehende Irdisch-Weltliche vor Gott bringen und bedenken, erhält es so auch eine eigene Weihe, freilich nicht bloß im Sinne einer affirmativen Verklärung und Bestätigung der vorhandenen Verhältnisse, sondern auch im Sinne einer kritischen Wertung des Bestehenden. Die religiös-soziale Interpretation der Wirklichkeit ist somit schon vom jungen Tillich als integrale Aufgabe innerhalb des Gottesdienstes anerkannt.
Man mag hinsichtlich dieses alles Soziale überwölbenden religiösen Universalismus bei Tillich einen gewissen Pan(en)theismus bemerken, den man vielleicht als Erbteil des Schellingschen Idealismus ausgeben kann, und der ihn umso stärker in Richtung einer allgemein-religiösen Kulturanthropologie treiben muss, je weniger er an einer umfassenden Trinitätstheologie interessiert ist, die freilich mehr sein müsste als eine christologische Verlängerung einer christlichen Erlösungs- oder Rechtfertigungserfahrung.

2c. Wie über das inhaltlich richtige Predigen in jener Zeit geurteilt wurde, dazu folgende Zitate aus: Theozentrische und christozentrische Predigtweise (in: Protestantische Monatshefte, Hg. J. Websky, 1913) S. 464: "Demgegenüber ist festzustellen, dass unsere denkenden Gemeindeglieder von den immerwährenden christozentrischen Predigten nicht angezogen, sondern zuerst gelangweilt und dann peinlich berührt werden. Sie fühlen und wissen, dass Gott der Mittelpunkt aller Religion, also auch der christlichen, ist und bleiben muß und dass dieser Mittelpunkt auch durch die Person Jesu nicht verrückt oder gar ersetzt werden kann."
"Das Ideal einer christlichen Predigt muß uns doch wohl die Predigt Jesu sein, so wie wir sie in den ersten drei Evangelien vor uns haben. Und da steht es außer Zweifel, dass Gott, der himmlische Vater, überall den Kern und Stern in der Predigt Jesu bildet." (465)
"Ohne den allein wirksamen Gottesglauben würde der Heilandsglaube in der Luft hängen." (471)
"Die Religion ist die Gemeinschaft des Menschen mit Gott, und die christliche Religion die durch Christus vermittelte Gemeinschaft mit Gott. Also immer, wir wiederholen es, bleibt Gott der Mittelpunkt aller Religion. Dies muß der erste unumstößliche Grundsatz bei der Predigt sein." (474)
"Er ist das Leben, d.h. er trägt das göttliche Leben in einer uns unbegreiflichen Fülle in sich, deshalb kann er nicht sterben und ist auch für seine Gläubigen, die sein Leben in sich aufnehmen, der Todesüberwinder und Bürge der ewigen Seligkeit. Aber wohlgemerkt: alles, was Jesus so ist, ist er nicht durch sich selbst, sondern durch Gott, seinen himmlischen Vater, der immer unsichtbar hinter ihm steht und ihn zu dem gemacht hat, was er ist und für uns ist." (474)
"Für uns ist es also keine Frage, dass die theozentrische Predigtweise die einzig richtige ist und dass alle Predigten über Jesus und das Heil, das er uns erworben hat, zuletzt in einem theozentrischen Ton enden müssen." (476)

Wolfgang Massalsky

1Was vermutlich mit seinen Schelling-Studien zusammenhängt.
2Dagegen nahm Barth für sich in Anspruch, nicht nur die richtige Gesinnung, sondern auch die richtige politische Theorie zu besitzen. In seinen Augen ist "religiöser" Sozialismus wohl nichts anderes als eine gutgemeinte Absichtserklärung des Bürgertums gewesen, die der Arbeiterschaft in ihrem politischen Tageskampf nur wenig nutzen konnte; insofern vielleicht sogar Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Unentschlossenheit zwischen einem politisch-parteilichen Engagement zugunsten von Arbeiterinteressen und reiner bürgerlicher Indifferenz, wie es ja auch der Briefwechsel zwischen Barth und Tillich wegen dessen Aufgabe seiner Mitgliedschaft in der SPD anzudeuten scheint.)