Joh 20, 24-29

Glauben und Sehen

Eine theologische Deutung nach Joh 20, 24-29

 

Der christliche Glaube steht durch das Bekenntnis der frühen neutestamentlichen Gemeinden zur  Auferstehung Jesu heute vor einer besonderen Herausforderung, weil sich die damalige Wirklichkeitsauffassung inzwischen vollständig verändert hat. Der jüdisch-apokalyptische Endzeitglaube zur Zeit Jesu sah die Wirklichkeit dieser Weltzeit als zum Gericht Gottes bestimmt an, das Gott in Bälde vollziehen wird. Zu diesem Zweck sollten zuvor die Toten auferstehen, damit auch an ihnen, nicht nur an den Lebenden Gottes Gericht vollstreckt werden kann. [1]

Wenn man dagegen heute von einer in der Zukunft möglicherweise oder gar sicher bevorstehenden Katastrophe spricht, die über die ganze Menschheit hereinbrechen kann, dann denkt man entweder an Gefahren, die im Weltraum auf uns lauern können, oder an globale ökologische Veränderungen auf der Erde mit katastrophalen Folgen, aber nicht an ein göttliches Endgericht, dem wir nur durch die Hinwendung zu Gott, genauer gesagt zum Gott Jesu [2] entgehen können, wie  der Apostel Paulus einst in seiner Heidenmission argumentierte [3]. Wie soll man vor diesem Hintergrund noch sinnvoll von einer „Auferstehung“ Jesu von den Toten sprechen können?

Doch auch damals wurde selbst unter Juden dem christlichen Bekenntnis zur Auferstehung des nach dem Gesetz zu Recht hingerichteten Jesus von Nazareth nicht nur gläubige Zustimmung entgegengebracht. Im Gegenteil viele, die davon erstmalig hörten, hielten diese Behauptung für unglaubwürdig [4], und selbst unter den Jüngern erhob sich dagegen vereinzelt Protest, wie die Geschichte des „ungläubigen“ Thomas zeigt, die uns in Joh 20 erzählt wird.

Zwischen der allgemeinen Totenauferstehung am Ende der Zeiten und einer hier und jetzt tatsächlich erfolgten Auferstehung eines einzelnen Menschen und noch dazu des zum Tode verurteilten Jesus bestand für viele jüdische Hörer dieser Botschaft ein unüberbrückbarer Gegensatz. Das zeigt auch der Einwand der Martha in ihrer Unterredung mit Jesus wegen des Todes von Lazarus in Joh 11, 24. Ja, am Ende der Tage wird es eine Auferstehung der Toten geben, aber hier und jetzt? Unvorstellbar!

Also nicht nur auf der Seite der Gegner Jesu, sondern auch im eigenen Lager gab es Skeptiker, die nicht daran glauben mochten, daß Gott in einem Einzelfall eine Ausnahme von dieser Regel machen könnte bzw. gemacht habe, zumal es auch gar nicht so aussah, als stünde der Jüngste Tag unmittelbar bevor. Eben darum war Thomas auch nicht bereit, sich einzig und allein auf das  Wort seiner Mitjünger zu verlassen, dass Jesus auferstanden sei. Er wollte selber „sehen“, ob das wirklich stimmt. Und Jesus nimmt es ihm auch gar nicht übel. Er geht bereitwillig zu Thomas und lässt sich von ihm „beschauen“.

Zweifellos geht es dabei nicht nur um Thomas als Person. Aller Welt soll so ein für allemal  „bewiesen“ werden, dass Jesus tatsächlich auferstanden ist.

Das Privileg, eine Art „Leibesvisitation“ [5] oder „Autopsie“ an Jesus vornehmen zu können, dürfte Thomas also in erster Linie deshalb gewährt worden sein, um so jedermann die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens vor Augen zu führen, der ja ganz eindeutig an der Tatsache der Auferstehung Jesu hängt. Denn ein nach seiner Kreuzigung im Tod gebliebener Jesus hätte nach damaliger Auffassung als gescheitert und nicht mit Gott im Bunde beurteilt werden müssen.

Ein „Beweis“ im heutigen Sinne ist das trotzdem nicht. Denn heute könnte die Auferstehung Jesu empirisch nur als Wiederbelebung eines Toten verstanden werden, während nach damaligem Verständnis die Auferstehung der Toten ja keine Rückkehr ins vorherige Leben bedeutete, sondern Auferstehung zum Gericht meinte. Und außerdem war ja Jesus als vorläufig einziger Auferstandener  bereits Teil der göttlichen Welt.

Abgesehen davon stellt die moderne Geschichtswissenschaft die heutige Theologie vor das weitere Problem, wie die an Jesus „vorweg-ereignete“ Auferstehung (um den Ausdruck des evang. Theologen Pannenberg zu gebrauchen) nach 2000 Jahren Christentumsgeschichte und langandauernder Judenfeindschaft noch immer als Bestandteil der allgemeinen jüdischen Totenauferstehung ausgegeben [6] und auch im Rahmen einer nicht-apokalyptischen Weltsicht weiterhin festgehalten werden kann, ohne sinnlos zu werden.

Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Auferstehung Jesu, die die Evangelisten (bes. Mt, Lk, Joh) mit so viel Aufwand als tatsächlich geschehen darzustellen versuchten,  in der Theologie des 20. Jahrhunderts immer wieder als bloßes Interpretationsmittel eines anderweitig begründeten Glaubens an den in den Herzen seiner Jünger sozusagen unsterblichen Jesus abgeschwächt wurde, wobei das Entscheidende der Auferstehung Jesu darin gesehen wurde, dass  das Anliegen Jesu, die „Sache“ Jesu, im Engagement der Jünger weiter getrieben wurde und durch uns auch in Zukunft weiter getrieben  wird.

Zweifellos ist das eine Sicht, die heute vielen hilft, mit der Auferstehung Jesu klar zu kommen, ja ihr sogar einen positiven Sinn abzugewinnen, zumal wir in einer Zeit leben, in der immer mehr Menschen die Menschheits-Geschichte (nach Auschwitz) nicht mehr als von Gott bestimmt ansehen können und wollen, sondern sie vielmehr in erster Linie als ein Schlachtfeld menschlicher Interessen und Mächte mit ungewissem Ausgang (open end) erfahren.

Aber so hilfreich diese Sicht ist, sie entspricht ganz sicher nicht  dem, was die Evangelisten und Apostel mit ihrer Schilderung der Erscheinungen des auferstandenen Herrn sagen wollten: Sie wollten offenbar keinen Zweifel daran bestehen lassen, dass Jesus wirklich auferstanden ist und kein Wunschbild oder eine Halluzination war, die sich die trauernden Jünger eingebildet haben, um mit der tragischen Situation seines Todes fertig zu werden.

Man mag in der Steigerung dieser Tendenz von Matthäus bis Johannes eine apologetische Absicht erkennen, aber das zeigt nur, wie wichtig ihnen dieser Realismus (einschließlich leeres Grab) war und dass ihr Glaube an Jesus, den Sohn Gottes und Herrn über Leben und Tod, ohne echten Realitätsbezug in der Luft hängen würde. Wir müssen darum die sie leitende Absicht sehr ernst nehmen und können sie nicht in irgendeiner Form abschwächen oder gar entwerten, ohne dem Evangelium von Jesus Christus sein Fundament zu nehmen.

Das Sehenkönnen des Auferstandenen ist daher keine übertriebene oder gar anmaßende Forderung des Thomas, die nur seinen Unglauben verrät, sondern nach damaligem Wirklichkeitsverständnis die einzige Möglichkeit, sich über die Verkündigung (Tradition) hinaus ein eigenes Bild von der Wahrheit der christlichen Botschaft zu verschaffen. Und diese Forderung wird ihm von Jesus anstandslos, ohne ihn zu demütigen, erfüllt.

Freilich kann diese Forderung nach der Himmelfahrt Jesu keinem weiteren Menschen mehr erfüllt werden, denn seitdem kehrt er nicht mehr (als Schauwunder) auf die Erde zurück. Das ist ja auch der Sinn der Himmelfahrt: seine definitive Entrückung vor den Augen der Jünger in den Himmel (vgl. Luk 24, 52; Apg 1, 9). [7]

Irgendwann muß sich der Glaube von seinem Fixiertsein auf das Sehen- [8] und Selbererlebenwollen frei machen, weil der Gegenstand des Glaubens eben immer der unsichtbare Gott ist, auch wenn er in Jesus Christus als dem Gottessohn einmal vor aller Welt sichtbar geworden ist.

Die einzige Verbindung, die wir als Glaubende zu Jesus haben können, ist die (vom Geist Gottes gestiftete Verbindung) des Gebets [9]. Aber darum sollen wir uns auch intensiv (durch Bitten und Danken) bemühen. Nur so erhält auch unser Handeln die notwendige Ausrichtung auf das kommende Gottesreich. Die Meinung, „er (Jesus) kommt auch noch heute“, wie ein Buchtitel  von M. Doerne (3. Auflage 1948)  lautete, muß darum als verfehlt zurückgewiesen werden.

Aber richtig ist offenbar, dass damit auch die Möglichkeit einer subjektiven Überprüfung des überlieferten Glaubens an der Gegenwart des Auferstandenen, wie sie Thomas gestattet wurde, für uns entfällt. Wir müssen uns ganz auf das Zeugnis der Evangelisten und Apostel verlassen. Aber wir können es auch!

An den „Wahrheitsstandards“ ihrer Zeit und ihres Weltbildes haben sie sich redlich bemüht, zu demonstrieren, dass dieser Jesus tatsächlich auferstanden ist. Wenn in unserer Zeit andere, ausschließlich von den Naturwissenschaften abgeleitete Wahrheits-Standards gelten, ist dann alles, was uns die Früheren (als für sie feststehende Tatsachen) überliefert haben, falsch?

Der Weg des Thomas zum Glauben kann freilich nicht der einzige Weg sein. Sonst gäbe es heute überhaupt keine Christen. Auf welche Weise können wir heute in aufrichtiger Weise zum Glauben an Jesus Christus gelangen?  Vielleicht so:  Wenn wir danach  fragen, was der Sinn unseres Lebens ist und ob der "christliche" Gott eine auch uns und unser Leben tragende Antwort auf diese Frage sein könnte.  

Nur wenn sich Gott (Vater) zur Geschichte dieses Menschen Jesus von Nazareth als zu seinem "Sohn" bekannt hat – und dafür steht die Auferstehung Jesu offensichtlich auch – , können wir in das Herz dieses Gottes  blicken, wird für uns im irdischen Leben Jesu (in seinem Verkündigen, Handeln und Erleiden) bis zu seinem Tod am Kreuz [10] Gottes inneres Leben sichtbar.

Das ist zugleich auch der Kern des altkirchlichen Dogmas vom dreieinigen Gott, der sich uns in Jesus Christus in seiner ganzen Wesenstiefe offenbart hat – und das ist übrigens auch für die Reformatoren die Grundlage ihres Glaubens an die Rechtfertigung des sündigen Menschen durch den gnädigen Gott, ohne die wir nicht einen freien Atemzug machen könnten.                                                                                             

 

Wolfgang Massalsky, 15. April 2013


 

Literaturhinweise: 

Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, 1964 (grundlegend)

Ulrich Wilckens, Auferstehung, 1970, bes. 157ff., 72ff.



[1] siehe dazu  die ganz und gar jüdische Weltgerichtsdarstellung Jesu (nach den Werken) von Mt 25.

[2] Wobei  im Zeitalter des heraufziehenden europäischen Säkularismus  der Glaube an einen Gott im Sinne der jüdisch-christlich-islamischen Tradition schwerer  zu vermitteln sein wird, als eine unbestimmte transzendente Größe oder der sog. „eigene Gott“ (U. Beck), den sich jeder Mensch aus verschiedenen religiösen Lebenshaltungen wie ein Menü  fernab von allen vorgegebenen (geschichtlichen)  Inhalten zusammenstellen kann.

[3] 1. Thess 1, 9 f. und 5, 9

[4] Manche  hielten es sogar für ein bloßes Gerücht oder witterten einen Betrug. Wer nicht an eine Auferstehung glaubte, konnte damit sowieso nichts anfangen, vgl. Mk 12, 18. Nach 1. Kor 1, 23 war auch die Vorstellung eines „Gekreuzigten“ (als Gottessohn) mehr oder weniger absurd.

[5] Vgl. Joh 20, 25b

[6] Nach Mt 27, 52f. kommen mit der Auferstehung Jesu auch "viele Leiber der Heiligen"  aus den Gräbern - vielleicht  in Erinnerung daran, daß die Auferstehung Jesu nicht isoliert von der allgemeinen jüdisch-apokalyptischen Totenauferstehung geschehen sein kann, mit der das Ende dieser Weltzeit anbricht? Allerdings ist hier die Auferstehung eindeutig nicht neutral, sondern als Heilsereignis aufgefaßt worden.

[7] Die traditionell  mit der Himmelfahrt Jesu verbundene Vorstellung einer königlichen Erhebung des auferstandenen Herrn zur Rechten Gottes (im Sinne einer Inthronisation) gehört  ursprünglich nicht zum Gedanken der  Himmelfahrt Jesu (wie sie von Lukas verstanden wurde), sondern primär zur Erhöhungschristologie, die sich in der Perspektive von Ps 68, 19 bereits im Anschluß an die Auferstehung Jesu entwickelt hat (vgl. Eph 4, 8; 1, 20b; 1. Petr. 3, 21c und 22).  Die Himmelfahrt als Einsetzung in die himmlische Machtstellung Jesu findet sich als Abschluß der Reden des Auferstandenen an die Jünger sonst nur noch im unechten Markusschluß (16, 19), während die Machtstellung Jesu in Mt 28, 18b dem Auferstandenen direkt zukommt.

[8] Das vor allem will V. 29c zum Ausdruck bringen. Im übrigen ist die Seligpreisung der Nichtsehenden und doch Glaubenden höchstwahrscheinlich redaktionell hinzugefügt.

[9] Exemplarisch ist dafür das Vaterunser, das uns als Gebet Jesu im Heiligen Geist zugleich mit Gott, dem Vater verbindet. - Die Realpräsenz Christi im Abendmahl kann im Prinzip keinen anderen Status haben als die Gegenwart Jesu in der Gebetsversammlung (Mt 18, 20). Die Vorstellung,  dass die sakramentalen Gaben  Brot und Wein durch Konsekration in Leib und Blut  des gekreuzigten Christus „umgewandelt“ (transformiert) werden,  ist selbstverständlich nicht identisch mit der leibhaft gedachten Gegenwart des Auferstandenen im Sinne der Ostererfahrung der Jünger und muß außerdem als Ausdruck eines verfehlten Substanzdenkens abgelehnt werden.

[10] So ist er eingegangen in das Wesen des ewigen, dreieinigen Gottes, als die 2. Person, der Erlöser und Versöhner, der unverwechselbar mit dem Vater und dem Heiligen Geist der eine Gott ist, der die Welt erschaffen hat und bis zu ihrer Vollendung (Neuschöpfung) erhalten will.