Gemeinde weiterdenken

Die Kirche der Zukunft in unserer Region Tiergarten

Thesen und Überlegungen  im Anschluß an ein  Symposion unseres Kirchenkreises

zum Thema „Gemeinde weiterdenken“ vom 2. –3.  Sept. 2011

Die reformatorischen Kirchen haben »Kirche« von Anfang an als »Gemeindekirche« verstanden und diese vom Ort her, an dem sie sich befindet, und durch die Wohnbevölkerung (der Stadt) definiert, die sich in ihr sammelt. Denn wo man wohnte und lebte, ging man in der Regel auch zur Kirche.

Damit ist die Grundform der evangelischen Kirche die sogenannte »Parochialgemeinde« (= Ortsgemeinde).

Allerdings gab es immer auch Gebiete vor allem im ländlichen Raum, von wo aus es zur nächsten Kirche einen langen Anmarschweg gab. Vor allem in den früheren Ostgebieten Deutschlands. Aber auch da wußte man, zu welcher Kirche (und damit Gemeinde) man gehörte.

Das Prinzip der Gemeindekirche wird auch in Zukunft Bestand haben, auch wenn über das Ortsgemeinde-System auf lange Sicht sicher keine flächendeckende pastorale Versorgung mehr garantiert werden kann. Das Prinzip Gemeindekirche wäre übrigens selbst da noch nicht durchbrochen oder aufgegeben, wo die Zusammensetzung einer Gemeinde überwiegend aus „umgemeindeten“ Gemeindegliedern bestünde, die ihren Wohnsitz nicht vor Ort haben.

Ausnahmen bilden »Personalgemeinden«, die keine spezielle Ortsanbindung haben.

Das Prinzip »Ortsgemeinde« bildet bis heute zugleich die Grundlage der Gemeindeetat-Finanzierung. Denn die Zuweisungsmittel, die eine Gemeinde aus dem Kirchensteueraufkommen (nach Abzug der Mittel, die die Landeskirche bzw. der Kirchenkreis erhalten) erhält, richten sich primär nach der Gemeindegliederzahl. Bei Vorliegen einer  besonderen Notlage (Sanierungsmaßnahmen) kann sie nach geltender Haushaltsordnung zusätzlich beim Kirchenkreis die Zuweisung von Ergänzungsmitteln beantragen, wenn die für solche Fälle vorgesehenen Gemeinde-Mittel nicht ausreichend sind. Für besondere kirchliche Leistungen, die eine Gemeinde erbringt, kann sie normalerweise kein zusätzliches Geld erhalten. Genau dafür sollen in Zukunft Mittel bereitgestellt werden, freilich müssen dafür auch besondere Bedingungen erfüllt sein.

Vor allem Gemeinden in zentraler Lage (die sog. City-Kirchen) in Städten wie Berlin, Hamburg, München, Köln können die von ihnen zu bewältigenden Aufgaben (nach eigenen Angaben) bei oft kleiner Gemeindegliederzahl (im Verhältnis zu den in gutbürgerlichen Wohngegenden oder am Stadtrand liegenden Gemeinden) nur dann erfüllen, wenn sie über zusätzliche Finanzierungsquellen verfügen.

Aus diesem Grund wird in unserem Kirchenkreis über 5 Jahre hinweg die Etablierung eines Fundraising-Projekts mit erheblichen Mitteln finanziert mit der Zielsetzung, neue Geldquellen zu erschließen, die den Gemeinden insgesamt, aber natürlich vor allem den City- oder Profilgemeinden zufließen sollen.

In unserer Region werden, wenn es zum Zusammenschluß der fünf  Gemeinden zu einem Gemeindeverbund mit einem  gemeinsamen GKR kommt, Schwerpunktgemeinden gebildet werden müssen, in denen bestimmte Arbeitsbereiche für die ganze Region konzentriert werden können. Vorstellbar wäre z. B. „St. Johannis“ Jugendarbeit, "Moabit West" (Heiland) Kulturkirche, „Erlöser“ Kinderchorarbeit, „Heilige Geist“ Junge Gemeinde, „Kaiser-Friedrich-Gedächtnis“ Familienbildungsarbeit o. ä. Es ist daher davon auszugehen, daß auch die regionalen Schwerpunktgemeinden in dieses Förderprogramm aufgenommen werden, wenn sie die von allen Gemeinden  bzw. der Synode beschlossenen Förderungskriterien erfüllen.

Eine denkmalsgeschützte Bausubstanz eines Kirchengebäudes kann allein kein ausreichendes Kriterium für zusätzliche Unterhaltungsmittel sein. Ebenso wenig rechtfertigt die Höhe eines Gebäudes, seine Kubatur, automatisch mehr Bauzuweisungsmittel, wie neuerdings gefordert wird, obwohl der städtebauliche Wert einzelner Stadtteilkirchen nicht geringzuschätzen ist. Gerade für solche Kirchen sollte es allerdings möglich sein, auch andere Geldquellen, z. B. der Kommune, aufzutun. Oft genug ist es gerade die „säkulare“ Bevölkerung, die sie in einem guten Zustand erhalten sehen möchte.

Gemeinde baut sich allerdings nach altem christlich-reformatorischem Verständnis durch die Evangeliums-Verkündigung (in) der Kirche auf. Größe, städtebauliche Bedeutung oder historisch-architektonischer Wert von Kirchgebäuden sind im Grunde für die Kirche der „Gläubigen“ kein Wert an sich. Welchen Wert sollte denn ein Kirchgebäude haben, das überwiegend leer steht oder nur zum Schein durch Pseudoaktivitäten gefüllt werden kann und ansonsten ein erheblicher finanzieller Klotz am Bein der restlichen Gemeinden ist, wie z. B. die Reformationskirche? Die Kirche (Gemeinde) der Zukunft wird aus „lebendigen Steinen“ aufgebaut sein müssen. In die Arbeit und Ausstattung der „Gemeinde“-Kirche muß investiert werden, hier ist in der Vergangenheit  zu wenig geschehen. Neue Pfarrstellen in den City-Kirchen zu schaffen mag dazu helfen, den Touristenstrom zu bewältigen, bedeutet aber nicht automatisch Gemeindeaufbau.

Was wir brauchen ist eine Kirche, die aus ihren eigenen Kräften durch ihre Mitglieder das Zeugnis ihres Herrn missionarisch hochhalten kann und will. Dazu sollte die Stärkung  der Zusammenarbeit in den Regionen dienen. Die Fokussierung auf City- und andere „Strahlemann“-Kirchen,  die die Schablonen des alten „Volkskirche“-Denkens meist nicht verleugnen kann, verschleppt die fällige Diskussion um die Kirche der Zukunft.

Wie muß man sich strategisch auf die neuen Herausforderungen einstellen, um auf die massiven Veränderungen in der Demographie, der Bevölkerungszusammensetzung, der religiösen und theologischen Bildung bei Erwachsenen sowie der religiösen Sozialisation bei Kindern  in passender Weise antworten  zu können?  Alle diese Probleme fließen häufig schon in die Verhandlungen um Regionalbildungen ein. Wenn es sie nicht lähmt, ist das sogar ein Zeichen dafür, dass verstanden wurde, warum die Kirche bei aller Ortsgebundenheit  zu neuen Ufern aufbrechen muß.

Das Schwerpunkt-Prinzip der Regionen kann also dazu beitragen, die pastorale Versorgung in den Großstädten mit teuren Kirchen ohne ausreichende Gemeindebasis im Sinne einer Art von Subsidiarität langfristig sicherzustellen.

Schon jetzt können auch unsere Pfarrerinnen in ihren Gemeinden nur dadurch eine volle Stelle antreten, daß sie ein gewisses Deputat ihres Dienstumfangs für regionale Aufgaben abzweigen. Bei weiter sinkender Gemeindegliederzahl ist auch das vermutlich nicht auf Dauer zu gewährleisten, wenn nicht noch andere Faktoren eine weitergehende Förderung rechtfertigen.

Entscheidend ist, daß die Kriterien gerecht und allgemein akzeptiert sind, damit das Gefühl der Ungleichbehandlung zwischen den Gemeinden gar nicht erst aufkommen kann.

 Zwei Positionen, die in diesem Zusammenhang immer wieder vertreten werden, wird man zurückweisen müssen:

1.     daß die Kirche der Zukunft mehr von »situativer« „Laufkundschaft“ (gemeint sind die Touristen) und weniger von einer ortsgebundenen Kerngemeinde geprägt sein wird und

2.     daß die sozialen Bindungen an die Ortsgemeinden immer mehr zurückgehen werden (zugunsten einer allgemeinen Zugehörigkeit zur Landeskirche), also daß das Prinzip Ortsgemeinde früher oder später gänzlich aufgegeben werden müsse.

Man kann daher auch nicht sagen, daß die Sozialform, in der die christliche Existenz gelebt wird, beliebig sei, denn auch wenn die Sozialität des Glaubens im Umkreis der Reformation und in den von ihr geprägten Gemeinden eine freiheitliche bleiben muß, darf sie doch nicht beliebig sein. Ganz im Gegenteil!

1.     geht Christsein ohne die Bindung an eine realexistierende Gemeinde im säkularen Alltag verloren. Die Bindung an eine virtuelle (als bloßes elektronisches Netzwerk existierende) Gemeinde reicht nicht aus, um den Vereinsamungstendenzen unserer individualistischen Gesellschaft entgegen zu wirken.

2.     hat der  christliche Glaube von sich aus eine „kommunitäre Struktur“, wie der Theologe Prof. N. Slenczka auf dem Symposion deutlich gemacht hat, d.h. er ist nicht nur angelegt auf Gemeinde, er kann  ohne sie gar nicht entstehen und bestehen,  –  welche Form von Ortsgemeinde sich auch immer im Rahmen von Regionalbildungen unter dem erhöhten Finanzdruck der Zukunft entwickeln wird. Bloße „kirchliche Orte“ sind jedenfalls kein Gemeindeersatz.

Wolfgang Massalsky, 31. 10. 2011

(aktualisiert Sept. 2012)