"Soweit die Wolken gehen..."

„Soweit die Wolken gehen …“

 

Vielleicht erinnern Sie sich an die berühmte Zeile aus dem Psalm 36: „Herr, Deine Güte reicht, soweit der Himmel ist und deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen.“ (Vers 6)  Den gleichen oder fast gleichen Wortlaut dieses Verses finden Sie auch in den Psalmen 57 und 108, und was noch auffällt: bei allen Unterschieden zu unserem Psalm 36 handelt es sich auch bei ihnen um gebetsartige Texte, in denen Gottes Güte und Wahrheit über Willkür und Gottlosigkeit der „Andern“ triumphieren.

Psalm 36 ist inhaltlich zweigeteilt:

Der erste Teil (einschließlich der Schlußverse 11-13) stellt die „Glatten“ und „Scheinheiligen“ denen gegenüber,  die in der nachexilischen Zeit in ehrlicher Bewunderung als die „Gottesfürchtigen“ und „Frommen“ oder, wie es im hebr. Text heißt,  als  Menschen „aufrechten Herzens“  (V. 11) anerkannt wurden, zu denen sich auch unser Psalmist zählt.

Der zweite Teil (V. 6-10)wendet sich nun wie in einem Gebet direkt an Gott („Du“, steht bei Buber). Denn für den Psalm-Dichter ist Israels Gott jetzt „sein“ Gott, nicht mehr der Gott des ganzen Volkes, sondern nur noch eines Teils, eben der Gottesfürchtigen. Die  Gottlosen, von denen anfangs ausgiebig die Rede war, haben ihren Anspruch auf ihn verwirkt,  haben sie doch mit diesem Gott gebrochen und kennen ihn nicht mehr. Daher erfahren sie auch  von seiner „Güte“ und „Wahrheit“ nichts mehr, die Gott jetzt ganz allein denen zuwendet, die „ihn erkennen“. Ihnen, den Wenigen, aber hält Gott  die „Treue“.

Aus christlicher Sicht  sollte freilich jeder Beter auch wissen, dass die Liebe Gottes zu den Seinen kein Grund für falsche Sicherheit ist.

Auch das Heiligtum, in dem der Verfolgte Asyl gefunden hat, kann ein gefährlicher Ort der Gottlosigkeit sein, wenn die Gerechtigkeit Gottes, die der Fromme im Heiligtum als seine Schutzmacht erfahren hat, in seinem Alltag keine Relevanz für ein anderes Leben hat, wenn also „nach dem Heiligtum“ dasselbe ist wie „vor dem Heiligtum“, soll heißen wenn sich der Beter und die Gruppe der Frommen, für die er spricht, jeder selbstkritischen Prüfung ihrer eigenen Lebensführung durch Gottes Gerechtigkeit entziehen. Wer auch nur einmal im Schutzraum des Tempels Gottes Gerechtigkeit und Beistand erfahren hat, kann und darf nicht länger glauben,  dass nur die „Andern“ sich zu ändern hätten, während die eigene Gerechtigkeit untadelig sei.  

Daß Gerechtigkeit sich auch in Schuld verwandeln kann, wenn sie dem Schwachen nicht entgegenkommt, kann allerdings nur der wissen, der auf eine intakte Gemeinschaft angewiesen ist, dem das Leben der Andern daher nicht egal ist. Wenn der Psalmist von dieser Einsicht noch weit entfernt zu sein scheint, so vielleicht deshalb, weil er selber sich nicht den Starken, sondern eher den Schwachen zurechnet.

Tatsächlich entschwindet uns im  Alltag  nicht selten dieser biblische Gott mit seiner Gnade und Barmherzigkeit, die uns gerade auch in seiner Gerechtigkeit begegnen wollen.

Das geschäftige Treiben, die ewige Jagd nach Profit, die keinen Gedanken an die Verluste derer verschwendet, die dafür bezahlen müssen, der Säkularismus unseres Lebens, die Unfähigkeit das eigene Leben in neue Bahnen zu lenken, verurteilen Gott zur Wirkungslosigkeit und lassen die Beziehungen zu unseren Mitmenschen ausdünnen. Manchmal spüren wir, wie verblüffend nahe sich auch in unserem Leben Schein und Wahrheit kommen können.

Oft muß man sich erst wieder Zeit für sich selber nehmen können, Urlaub machen, ausspannen, den Blick in die Ferne schweifen lassen, um Gott im eigenen Leben auf die Spur zu kommen.

Der Blick, den der Beter unseres Psalms und wahrscheinlich schon viele andere Menschen vor ihm, die den Himmel in solchen Momenten betrachtet haben, den dahineilenden Wolken nachschickt, lenkt seinen Blick aus der Ferne auf die Gegenwart des eigenen Daseins oder vielmehr aus der Enge des eigenen Daseins in die Weite der die Erde und den Himmel umspannenden Wahrheit und Treue Gottes.

An ihr kann er sich erfreuen. Sie ist ihm Trost angesichts des wachsenden Unglaubens um ihn herum und der Vielzahl von Bedrängnissen, die ihm das eigene Leben schwer machen.

Insofern ist dies doch  ein sehr glaubensstarker Blick „nach oben“ zu Gott, zu den Wolken, über denen oder in denen verhüllt Gott thront.

Dagegen mögen Menschen unserer Zeit manchmal in ganz anderer Weise ins Grübeln kommen, wenn sie den Weg der Wolken am Firmament verfolgen. Beobachten wir heute nicht oft etwas ganz anderes? So wie an manchen heißen Tagen die Wolken am Himmel sich verziehen und langsam in Luft auflösen, wenn sie  keinen Regen mit sich führen, so scheint auch unser Glaube oft nicht die nötige Kraft zu haben, um sich in den Wirbeln unseres Alltags zu behaupten. Aber das muß uns nicht entmutigen. Sollten wir nicht gerade dadurch erkennen, wie sehr wir täglich von Gottes Liebe und Gnade abhängig sind, damit unser Glaube lebendig bleibt?

Wenn man von hier aus die Bibel unter dem Aspekt „Wolken“ durchblättert, merkt man bald, dass es kaum unsere Urlaubsbilder sind, an die wir denken, wenn von „Wolken, Luft und Winden“ die Rede ist, die die Bibel vor allem auch im Zusammenhang mit Gott von Wolken reden lässt, sondern das in sich geschlossene Weltbild zur Zeit der Entstehung der Bibel. Himmel und Erde gehörten zusammen. Und Gott ist in diesem Weltbild eigentlich unsichtbar.  Er steht über den Wolken und ist zugleich in ihnen verborgen. Aber weil Gott da ist, der in ihnen seinen „Bogen“ stehen hat (1. Mose 9, 13. 14),  ist  der Himmel unterhalb des Firmaments nicht leer. Zweifellos ist dieser Himmel primär als Lebensraum gedacht für die Tierwelt wie das Meer und die Erde auch. Die Wolken darin durchziehen den Himmel wie Luftschiffe, Transportmittel zwischen der oberen Welt (Himmel) und der unteren Welt (Erde). In erster Linie transportieren sie Wasser durch die Luft, Wasser das nicht aus dem Meer aufsteigt, sondern hinter dem Firmament aufgestaut ist. So spenden die Wolken Wasser (Regen), machen das Land fruchtbar und schützen vor der sengenden Hitze der Sonne. Aber sie haben noch eine tiefere Bedeutung.

Wenn Gott auf Erden in Erscheinung treten will, kann er die Wolken am Himmel immerhin als Vehikel benutzen, um auf die Erde zu kommen, wie es vor allem das 2. Buch Mose beschreibt. Darüber hinaus haben sie aber auch  Offenbarungsqualität: Sie reflektieren Gottes Licht, wenn sie leuchten. Und wenn sie den Himmel verdüstern, droht Unheil.

Betrachtet man sie als Gleichnis und Bild  für einen Ausschnitt des  menschlichen Daseins, so  symbolisieren sie zugleich Schnelllebigkeit und Vergänglichkeit unseres Lebens, wie sie auch als Boten der Treue und Beständigkeit Gottes dienen können.

In unserem Psalm dürfen wir vermutlich von einer ähnlichen Denkweise ausgehen. Die Wolken markieren demnach die äußersten Grenzen dieser Welt, hinter denen Gottes Reich beginnt. Auch wo wir nicht hinkommen – denn die Welt ist ja viel größer, als wir mit bloßen Augen sehen können – , auch da gibt es Wolken, d.h. wo immer diese Wolken sich am Himmel zeigen, da ist Gottes Macht nicht weit weg. Und wenn diese Macht besonders den Frommen zugetan ist, dann werden auch die Wolken wie alles in dieser Welt zu Zeichen der gnädigen Gegenwart Gottes, der den Seinen seine huldvolle Nähe und Güte nicht versagt, wenn sie in den Nöten des Alltags zu ihm rufen.

Wolfgang Massalsky, 31. 5. 12