Matthäuspassion

 

 

       Die Passion Jesu

              Nach der Textvorlage der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach

Während die Kirchen voll sind, wenn die Musik Bachs erklingt, hat das Interesse an der Passion Jesu, die die Vorlage seiner großen Passionsmusik bildet, eher nachgelassen. Wir sind zu sehr mit uns selber, mit unseren eigenen Passionen beschäftigt. Wir betrachten die Gestalten im Umfeld Jesu in unseren Predigten allenfalls daraufhin, ob wir darin auch vorkommen und wenn ja, ob wir uns das gefallen lassen, so den Spiegel vorgezeigt zu bekommen. Das Volk, die Gegenspieler Jesu, die hohen Herren in ihrer Schuld und in ihrer Unschuld, der leidende Mensch in allen Varianten, die Verleugnung (Petrus), der Verrat (Judas), die leidenden und klagenden Frauen, das alles sind wir und doch wieder nicht.

Bachs Musik zehrt von einer Erkenntnis, die uns heute fremd zu sein scheint: Solange wir nicht im Glauben die Erfahrung machen, durch unsere Sünde verloren zu sein vor Gott und der Erlösung bedürftig, werden wir nicht durch Leiden und Tod Jesu von uns selbst erlöst werden, unserem übermächtigen Ego, unserer Gier nach Leben und zugleich unserer übergroßen Angst vor dem Leben, in das wir hineingestellt sind.

Bach gehört einer fernen Zeit an, sein Glaube an Gottes Erlösungstat in Jesus Christus war ungebrochen. In allem Leiden des Menschen an sich selbst und im Schmerz über die vielen unmenschlichen, unerlösten Zustände dieser Welt, fragt uns Gott: Wohin geht Dein Weg, was ist Dein Leben? Welchem Gott dienst Du? Für Bach war im Blick auf das Kreuz Jesu unendlich viel Leben enthalten. Darum überstrahlt letzte Zuversicht dessen Passion, Zuversicht, die jedoch das lähmende Entsetzen über uns selbst nicht vergessen macht, den Abgrund nicht verschleiert, der sich zwischen uns und Gott und damit auch zwischen uns und dem Nächsten auftut, wenn Gottes Liebe uns nicht wieder daraus befreit. Diese Zuversicht macht seine Musik in unserer nach Aufbauendem so süchtig gewordenen Zeit mit Recht populär. Aber kennen wir noch den dazu gehörigen Text?

Für die Verarbeitung der Passion Jesu hatte die Zeit nach Luther die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen der bloßen Geschichte der Passion Jesu (die Historia) und der Art und Weise, wie wir von ihr Gebrauch machen, ihre Nutzanwendung, also wie wir das Geschehene verstehen, wie wir damit umgehen, ob wir es als Gottes erlösendes Handeln für uns gelten lassen. Die im Luthertum jener Zeit entwickelte Passionsdeutung geht dabei von der Vorstellung des stellvertretenden Strafleidens aus: Christus leidet, Christus stirbt für uns den Tod, den wir verdient hätten. D.h. Christus leidet an unserer Stelle, er steht oder hängt da, wo eigentlich wir sein müssten. Denn die Sünde verdient den Tod, die Sünde trennt uns von Gott, die Sünde macht uns einsam. Aber Christus gehört zu Gott, er lebt von ihm, er verkündigt sein Kommen, er handelt aus seinem Geist, der ihn mit dem Vater verbindet. Noch im Sterben ruft er Gott an, sucht er seine Nähe. Für Luther bedeutete daher Glauben: dieses unverdiente Geschenk, dass Gott in Christus für uns einsteht, annehmen zu können. Glauben heißt darum für ihn, immer wieder neu die Stelle aufsuchen, an der Christus vor seinem himmlischen Vater für uns eingestanden ist und das ist das Kreuz Jesu. In ihm hebt Gott jenen Passus seines bis dahin universal gültigen Strafgesetzbuches auf, dass unsere Sünde nur durch unseren Tod ausgelöscht werden kann. Unser Leiden an uns selbst, wenn wir denn an uns, an unserer Unvollkommenheit, an unserer Unzulänglichkeit noch leiden, ist kein metaphysisch verordnetes Leiden mehr. Es ist kein von Gott trennendes Leiden mehr. Es ist Leiden an unserer Endlichkeit, die aber von Gottes Liebe umfangen ist. Jetzt können und dürfen wir wieder mit Lust Gottes Geschöpfe sein. Die Passion Jesu ist das Bad der Erneuerung des Menschen, die geistige Heils-Taufe: Sterben des alten Menschen und Auferstehen des neuen. Die sakramentale Taufe kann daher für Luther immer nur Ausgießung dieses Geschehens über uns durch den Heiligen Geist sein und damit Eingliederung in den Leib Christi, "für uns dahin gegeben".

In den alten lutherischen Passionsliedern werden diese Zusammenhänge immer wieder neu zum Klingen gebracht. Man denke an J. Heermanns Lied "Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen...", dessen 3. und 4. Strophe in der Matthäuspassion von Bach als Verweis auf die Verkehrtheit und Ungerechtigkeit des unschuldigen Leidens und Sterbens Jesu für uns und uns zugute dienen. Darum kann Bach auch die andere Seite dieses Geschehens nicht unerwähnt lassen: Sie zielt auf uns, auf unser Tun. Im Glauben an Christus sollen wir eigenes Leiden ertragen lernen und nicht immer auf andere abwälzen, weil nur das der Gewalt ein Ende setzt und dem Frieden und der Versöhnung unter uns Menschen dient, so schwer es uns fällt. Doch die Tränen, die wir dabei über uns und andere vergießen, haben heilende Kraft.

Diesen geistlichen Standpunkt galt es nun für Bach, in spannungsvoll-meditative Musik, die der Aneignung des Passionsgeschehens dient, zu übersetzen. Dazu eignete sich das Libretto von Picander (Pseudonym für den Leipziger Dichter C.F. Henrici, 1700-1764), der für seine Textvorlage im wesentlichen auf einen Predigtzyklus von H. Müller (1631-1675) zurückgegriffen hat. Dessen meditative Darstellung der Liebe Gottes hat noch viel von der alten mittelalterlichen Jesus-Minne an sich, die der Versenkung in die Passion Jesu nicht selten beigemischt war.

Bach schätzte Müllers Predigtweise sehr, möglicherweise hat er Picander sogar auf ihn aufmerksam gemacht. Die Arien "Gebt mir meinen Jesum wieder" oder "Aus Liebe will mein Heiland sterben" drücken diese teils fordernde, teils inniglich-liebevolle Jesus-Minne sehr gut aus. Auch die wichtigsten dogmatischen Aussagen Müllers lassen sich in der Textvorlage Picanders nachweisen: die Versöhnungslehre, wie sie oben erwähnt wurde, die Liebe Jesu auch zu seinen Feinden, die trotz allem Leiden ungebrochen spürbar sei, die Notwendigkeit, das eigene Leben im Glauben an Christi Versöhnungstod zu ändern.

An manchen Stellen geht aber Picander auch über Müller hinaus. Wo dieser Gottes richtendes Handeln verborgen in allem, was Jesus geschieht, am Werk sieht, tritt im Text von Picander Jesus in erster Linie als der Liebende auf, auf dessen in Liebe erduldetes Leiden Gottes Wohlgefallen ruht, während der andere Aspekt seines Sterbens, Gericht zu sprechen über die Sünde, merklich zurücktritt. Darin zeigt sich doch schon eine gewisse Abschwächung des metaphysischen Sinns des Todes Jesu, des um unserer Sünde willen notwendigen Todes, damit wir vor dem ewigen Tod bewahrt werden, und deshalb wird das Sterben Jesu bei Bach zu einem durch und durch menschlichen Liebesakt verklärt.

Diese Seite, das Wohltun Jesu für uns, dominiert zwar bei Bach, aber in Form von Reminiszenzen (wie sie im oben genannten und in anderen Kirchenliedern wie z.B. "O Haupt voll Blut und Wunden", "O Mensch, bewein dein Sünde groß", "O Lamm Gottes" u.a. anklingen) ist auch die andere Seite, das Erschrecken über diesen Tod, das Erschrecken über uns weiterhin präsent.

Es geht Picander und mit ihm Bach also vor allem um eine allgemein-menschlich nachvollziehbare Verlebendigung und Vergegenwärtigung dieser außerordentlichen Liebe Gottes in Jesus zu uns verlorenen Menschen, während andere Vorstellungsinhalte des lutherisch-orthodoxen Versöhnungsglaubens des 17. Jahrhunderts verdrängt werden: Der stellvertretend für uns Sünder erlittene Tod als Strafe für unsere Sünde wird zu einem willig ertragenen Opfertod aus Liebe zu uns, auf sich genommen in der grenzenlosen Bereitschaft zur Vergebung unserer Sünden. Im Grunde zeigt eine solche Interpretation eine ganz neue Tendenz auf: Wäre es doch nicht durch die menschliche Vermessenheit und Bösartigkeit dazu gekommen, dass der einzig Schuldlose so leiden und sterben musste!

Die mitmenschlich-klagende, Mitleid hervorrufen sollende Tendenz dieser Passionsgeschichte ist zwar außerordentlich eindrucksvoll musikalisch inszeniert, aber darüber darf doch nicht vergessen werden, dass der Tod Jesu um unserer Sünde willen geschieht und, um von ihr befreit zu werden, notwendig ist und dass der Wunsch, dass wir bessere Menschen werden mögen, solange ein frommer Wunsch bleiben muss, als wir von ihr nicht in der Wurzel befreit und erlöst werden, wie das nur im Glauben geschehen kann, in der Hingabe an Gott.

Sonst kommen wir sehr leicht zu der nur wenige Jahre später in der Aufklärung erfolgenden Neubewertung des Menschen (durch den Aufklärer J.-J. Rousseau), dass er zwar in der Wurzel gut, aber durch gesellschaftliche Umstände verdorben sei und dass man dementsprechend an sich arbeiten müsse, um wieder mit sich und seiner Umwelt ins Lot zu kommen.

So leicht aber ist der Frieden mit der Umwelt, mit den "bösen" andern und mit sich selbst nicht zu gewinnen.

 Wolfgang Massalsky, 30. 3. 2003

Literaturhinweis:
Elke Axmacher, "Aus Liebe will mein Heyland sterben"
Beiträge zur theologischen Bachforschung, Bd. 2, 1984