Edessa

Edessa

 

 

A. Die gegenwärtige Lage

 

I. Das einstige „Edessa“ heißt heute „Urfa“1


1. Das historische Edessa existiert nicht mehr. Nur geringfügige Spuren zeugen noch von seiner früheren Existenz und seinen wechselhaften Schicksalen.


Heute ist das auf dem Boden von Edessa gelegene Urfa eine „dichtbevölkerte, ganz und gar islamische Stadt“ (Drijvers). Alle Spuren seiner christlichen Frühzeit sind weitestgehend verschwunden bzw. beseitigt worden. Nichts mehr erinnert an seine kulturell bedeutende Rolle für die frühe orientalische Christenheit.


2. Touristische Sehenswürdigkeiten/ Hauptattraktionen (Bilder nach Wikipedia)


Im Basar von Urfa


Zitadelle


Teich des Abraham


Mevlid-i-Halil-Moschee



3. Die Bedeutung der Stadt Urfa heute (im Grenzgebiet zu Syrien)2


3.1 Viele (Klein-) Städte in diesem Grenzbereich haben überwiegend nur eine lokal begrenzte, jedenfalls keine über die nähere Umgebung hinausgehende wirtschaftliche Bedeutung gewonnen. Denn der Warenexport landwirtschaftlicher und anderer Güter (z. B. über die Grenze nach Syrien) hat dort soweit erkennbar keinen nennenswerten Umfang erreicht.


3.2 Die Provinz Urfa mit ihren rund 1,8 Mill Einwohnern3 ist dagegen auch als Wirtschaftsfaktor von nationalem Interesse. Immerhin gehört der Basar von Urfa (Stadt) zu den bedeutendsten in der ganzen Region.4

Insgesamt kann man jedoch den 40-60 km breiten Grenzstreifen östlich von Urfa bis zum Tur Abdin und darüber hinaus als ein türkisches „Zonenrandgebiet“ bezeichnen, jedenfalls müßte er wegen seines Förderbedarfs auf dem nationalen Entwicklungsplan verzeichnet sein (wo ich allerdings die Provinz Sanliurfa nicht entdeckt habe).


3.3 Um diesen ganzen Wirtschaftsraum zusammenzufassen und zu stärken, betreibt die Türkei seit den 70er Jahren in dieser Region ein gigantisches Staudammprojekt zur Gewinnung von Elektroenergie und Bewässerungswasser (das sog. „Südostanatolien-Projekt“), um die Wirtschaft in der Grenznähe anzukurbeln, vielleicht auch um dem kurdischen Vorwurf der Vernachlässigung dieses Gebietes „das Wasser abzugraben“. Wegen der Finanzierungsprobleme ist aber ein Ende der Aufbauphase noch nicht absehbar.

 

Außerdem wird das Projekt von vielen Seiten wegen seiner Risiken und Belastungen für die regionalpolitische Situation und wegen der damit verbundenen militärischen Zielsetzungen (gegenüber den Kurden und Syrien), aber auch wegen der sozialen und ökologischen Auswirkungen sowie unter Menschenrechts-Aspekten im In- und im Ausland äußerst kritisch gesehen.


4. Religiöse Situation

Urfa besitzt eine ausschließlich muslimische Bevölkerung, ein ausreichender Minderheitenschutz für die verbliebenen Christen im Lande (besonders in Tur Abdin) und soweit vorhanden in der Stadt selbst dürfte sehr stark von den politischen Verhältnissen und Stimmungen abhängen.


5. Flüchtlinge

Die Stadt beherbergt anscheinend, wie auch andere türkische Städte im Grenzgebiet, eine beachtliche Anzahl von Syrern, die vor dem Assad-Regime, inzwischen auch vor den IS-Truppen geflohen sind.


6. Gefechte zwischen türkischen Einheiten und Kurden oder IS-Soldaten sind in Urfa bis jetzt nicht bekannt geworden.



 

B. Geschichte der Stadt Edessa

 



I. Handelsstadt und Militärstadt


 

1. Gründung und Vorgeschichte:

 

Keilschriftlich belegter, vorhellenistischer Name einer Vorgängerstadt ist Urschu, aber auch „Adme“ ist überliefert. Seit alter Zeit wurde Edessa bzw. die Vorgängerstadt der parthischen Einflußsphäre zugerechnet.


(Bild des Partherreiches)


Parther reich“. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons - https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Parther_reich.jpg#/media/File:Parther_reich.jpg


2. Bereits um 300 vor Chr. kommt es zur Neugründung der Stadt unter den Seleukiden mit dem Namen Edessa5, nach dem Namen einer makedonischen Stadt.


3. Wegen seiner besonderen geographischen Lage (80 km östl. des Euphrat in einem Korridor zwischen dem Taurus-Gebirge und der syrischen Wüste gelegen) eignete sich Edessa sowohl als Garnisonsstadt und Versorgungsdepot für Heere, die hier vorbeizogen, als auch als Umschlagplatz und Transportweg für den Austausch von Wirtschaftsgütern zwischen Antiochia und asiatischen (gemeint sind vor allem arabische und iranische) Handelszentren, aber auch Indien.



 

II. Vielfältige kulturelle Einflüsse

 


1. Zunächst im Wirkungsbereich griechisch-hellenistischer Kultur gelegen, später verstärkt iranischem Einfluß ausgesetzt, bis es schließlich nach der Eroberung durch die Araber (639 n. Chr.) dem arabischen Machtbereich eingegliedert wurde, hat es nach dem Ende der Kreuzzüge erst langsam, dann immer schneller seine christliche Identität verloren.


2. In einer geschichtlichen Zwischenphase – Griechen nicht mehr dominierend, Rom abwartend, die Sassaniden (Iran) noch nicht auf dem Plan – wurde Edessa Mittelpunkt der syrisch-aramäischen Kultur.

Syrisch, die Sprache der Edessener, wurde sogar lingua franca der vorderorientalischen Christenheit.

 

3. Sein wechselhaftes Schicksal als eine Art Vorposten und Grenzstadt6 zwischen den Vormächten des Vorderen Orients hielt solange an, bis es fester Bestandteil des arabischen Reiches wurde (639 n. Chr.), was es dann sogar mehr als 400 Jahre lang ohne Unterbrechung blieb.



III. Edessa unter seinen Königen


1. Schon um 70 v. Chr. hören wir von einem Königtum von Edessa, das bis ins 3. Jahrhundert hinein Bestand hatte7. Seine Führungsschicht scheint mit Adiabene (parthisch) verbunden gewesen zu sein, obwohl die Faktenlage z.T. sehr unsicher ist.


1.1 Das Königtum Edessas endete mit dem Tod seines letzten Königs (richtiger wäre er wohl als Phylarch = Stammesherzog zu bezeichnen) im römischen Exil 242; es spielte allerdings schon seit 214 nurmehr eine untergeordnete (symbolische) Rolle.


1.2 Insgesamt ist es schwer, die einzelnen Könige mit Namen Abgar auseinanderzuhalten. Erwähnt seien nur Abgar II. (mit der Jahreszahl 67 v. Chr.), Abgar VIII. (von 176/79 bis 212, siehe C. I.1.5) und Abgar IX. (212-214). Und wie man sieht, gab es noch viele andere Könige dieses Namens, die in der Regel nur als „Abgar“ zitiert werden.


2. Aber auch in den knapp 100 Jahren (123 n. Chr. - 214 n. Chr.), als Edessa mit seinem Königtum eine relative Selbständigkeit gegenüber den Großmächten in der Region besaß – möglicherweise mithilfe von Bündnispartnern oder eigener wirtschaftlicher und militärischer Stärke, – fehlte es nicht an Versuchen auswärtiger Mächte, hier einzudringen.


 

(Bild aus Wikipedia) Adiabene

 



3. Zunächst gelang es Rom unter Caracalla, sich Edessa als Kolonie (colonia Romana) zu sichern (214 n. Chr.).


3.1 Doch unangefochtener Herr in dieser Region und über Edessa war Rom keineswegs. So erlitten die römischen Truppen im Jahre 260 n.Chr. unter Kaiser Valerian in einer Schlacht bei Edessa eine verheerende Niederlage durch die Sassaniden unter deren Großkönig Schapur I. Valerian selbst geriet in schmachvolle Gefangenschaft, die er nicht überlebte.


3.2 Es dauerte lange, bis sich Rom von diesem Schock (und den daraufhin eingetretenen Machtkämpfen um die Führung Roms) erholte und erneut in die Offensive gehen konnte.


3.3 300 n.Chr. wurde die strata Diocletiana gebaut (im heutigen Syrien und Jordanien gelegen). Sie diente wohl mehr der militärischen Präsenz Roms als dem Handel.


4. Ein gutes Jahrhundert später standen die Sassaniden8, denen inzwischen Nisibis (363) kampflos übergeben wurde, erneut vor den Toren von Edessa.


Doch blieb Edessa das Schicksal der Fremdherrschaft (wie Nisibis) zunächst erspart. Im Gegenteil, der Verlust von Nisibis sicherte Edessa als exponierter Grenzfestung im römischen Verteidigungssystem in Nordmesopotamien sogar eine besondere Stellung zu.


5. Erst als das Römische Reich militärisch und politisch immer mehr an Macht einbüßte, verlor Edessa seine Schutzmacht. Auf sich selbst gestellt, konnte es auf Dauer nicht in diesem Umfeld um Vorherrschaft kämpfender Mächte bestehen. Mehrmals wurde es von den Persern belagert (503/544), wenn auch nicht erobert. Erst 609 n. Chr. fiel Edessa an die Sassaniden. Zwar konnte es von Byzanz (628 n. Chr.) für kurze Zeit an dessen Machtbereich angeschlossen werden, aber 639 wurde es endgültig von der neuen arabischen Führungsmacht erobert, wenn man die Zeit ab ca. 1050 (als die Herrschaft mehrmals wechselte) und das Zwischenspiel als christliche „Grafschaft Edessa“ von 1098-1144 einmal beiseite läßt. Zu dieser für das Christentum äußerst bedenklichen und verlustreichen Entwicklung trugen allerdings auch die inneren Gegensätze innerhalb des östlichen Christentums bei.



IV. Merkmale der edessenischen Kunst und Kultur


1. Die Kultur Edessas läßt in einzelnen Überresten erkennen, wovon sie in ihrer unbedrohten vorchristlichen Blütezeit besonders geprägt wurde: religiös von aus dem mesopotamischen oder dem angrenzenden syrisch-kanaanäischen Kulturland stammenden Kulten (z. B. gab es die Verehrung der Göttin Taratha), künstlerisch vom „syrisch-mesopotamischen Hellenismus“.


2. Insgesamt heißt es etwas vage, daß Traditionen semitischer Kultur in Edessa ihren Ausdruck z. T. auch in der Formensprache des griechisch-römischen Westens fanden, ohne daß die „Eigenprägung“ darüber verloren ging.


3. Ein herausragendes Zeugnis für die Leistungsfähigkeit der edessenischen Kultur stellt das Werk von Bardaisanes9 dar. Als besonders kreativ muß seine universalgeschichtliche Darstellung der Gesetze und Gebräuche der ihm damals bekannten Nationen und Völker beurteilt werden.


 

 

C. Die Bedeutung Edessas für die orientalische Christenheit

 


I. Prestigegewinn als angeblich erstes christliches Königtum


1. Missionarische Ausbreitung des Christentums von Antiochia aus. Edessa Bestandteil der Diözese von Antiochia


1.1 Missionarische Drehscheibe für die Ausbreitung des Christentums in West und Ost war Antiochia (Antakya). Von hier aus begann der Apostel Paulus die Mission in Richtung Westen (durch die hellenistischen Provinzen Kleinasiens und Griechenland), die ihn bis nach Rom und Spanien führen sollte. Andere Apostel und Missionare brachen von hier in den Osten auf, Thomas soll in östlicher Richtung sogar bis nach Indien gelangt sein (und die sog. Thomas-Christen gegründet haben).10


1.2 Die syrisch-aramäischen Christen gleich welcher Couleur sind ursprünglich sehr wahrscheinlich aus dieser Missionsarbeit hervorgegangen.

1.2.1 Erst später, im Zuge der christologischen Auseinandersetzungen (4./5. Jht.), brachen Kämpfe um den rechten (orthodoxen) Glauben aus, spaltete sich das Christentum des Orients in verschiedene Konfessionen11 auf.

1.2.2 Zwar spielte dabei auch die Rangelei um Macht und Status zwischen den Ortskirchen der sich immer mehr ihrer politischen Bedeutung bewußt werdenden Christenheit eine negative Rolle (bei gegenseitigen Exkommunikationen bzw. deren Rücknahme). Doch primär war es eher das Fehlen einer einheitlichen Begrifflichkeit in den wichtigsten Lehrfragen der damaligen Zeit (Trinität und Christologie), das zu vielen Mißverständnissen zwischen ihnen führte. Die gegensätzlichen Auffassungen der Christen des Ostens (repräsentiert durch die Patriarchate von Konstantinopel, Alexandria, Antiochia) zum Arianismus (Gottessohn nur ein Geschöpf oder „wesenseins“ mit Gott?) und die Gegensätze zwischen Alexandrinischer Theologie und Nestorianismus (sog. Trennungschristologie), die sich durch Kompromißversuche eher noch verschärften als überbrücken ließen – wie die Ablehnung der sog. Zweinaturenlehre (Chalkedon) zeigte – , zerrütteten das gegenseitige Verhältnis und führten schließlich zur Bildung selbständiger, von einander getrennter Kirchentümer.12


1.3 Umso wichtiger war es daher für die dortigen (den Titel der Orthodoxie für sich allein beanspruchenden) Christen, mit der Abgarlegende13 eine Urkunde vorweisen zu können, die ihnen das Privileg verschaffte, mit der Urkirche, ja dem Urchristentum und Jesus selbst in direktem Kontakt gestanden zu haben. Demzufolge wären Edessas christliche Anfänge gar nicht allein auf die von Antiochia14 ausgehende Mission zurückzuführen, sondern unmittelbar aus einem brieflichen Kontakt mit Jesus selbst hervorgewachsen.


1.4 Nach Segal waren jedoch die Christen Edessas, seitdem geordnete kirchliche Organisationsformen in West und Ost bestanden, nicht selbständig, sondern der Diözese (bzw. dem Patriarchat) von Antiochia unterstellt, u.z. standen sie nachweislich seit dem 3. Jht. unter deren Jurisdiktionsgewalt15.


1.5 Der erste christliche Kirchenbau (oder einer der ersten) ist aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich unter Abgar VIII. (176/9-212) in Edessa errichtet worden, weil ein solcher nachweisbar im Jahre 201 bei einer Überschwemmung zerstört wurde.


1.6 233 n. Ch. sind nach kirchlicher Überlieferung die Gebeine des heiligen Thomas nach Edessa überführt und zunächst in einem Martyreion, später in der Hauptkirche bestattet worden, was die Stadt zu einem bedeutenden Pilgerzentrum gemacht haben dürfte.



 

II. Die Abgar-Jesus-Korrespondenz (A-J-K) (= sog. Abgarlegende)

 


1. Die Sichtweise der Forschung


1.1 Nach Bauer („Rechtgläubigkeit und Ketzerei...“) handelt es sich bei der in aller Welt berühmten A-J-K um eine erst im 3. Jahrhundert16 entstandene Legende, die den Zweck hatte, die „heterodoxen“ Strömungen in Edessa zurückzudrängen und Edessa mit dem Glaubensgut der sich gesamtkirchlich immer mehr formierenden und durchsetzenden „Orthodoxie“ bekanntzumachen.17


1.2 Die A-J-K spricht zwar von Abgar ukkama18 als dem Urheber dieser Verbindung zu Jesus, aber zu Unrecht. Zwar regierte jener Abgar tatsächlich zur Zeit Jesu in Edessa, aber Jesus war damals noch ein Kind (oder ein junger Mann) und von ihm waren auch keine Wunder bekannt, die auf ihn aufmerksam gemacht hätten.


1.3 Schon aus diesem Grunde ist die alte kirchliche Ansicht mit Vorsicht zu genießen, daß es sich bei der mündlichen (oder gar schriftlichen) Nachricht von Jesus um eine authentische Botschaft handelte, jedenfalls kann sie nicht von jenem Abgar veranlaßt worden sein.


1.4 Sollte es diese einmalige Verbindung tatsächlich gegeben haben, dann kann sie nur aus einer Zeit stammen, bevor Jesus als Messiasanwärter in Jerusalem eingezogen ist, allerspätestens vor seiner Kreuzigung. Im Neuen Testament gibt es aber keine Hinweise auf eine solche Anfrage an Jesus aus Edessa (oder einer anderen Stadt), die nach Euseb sogar schriftlich beantwortet worden sei. Auch in der Apostelgeschichte gibt es keinen einzigen Hinweis auf eine entsprechende missionarische Aktion.


1.5 So spricht alles dafür, daß die A-J-K eine fiktive Aktion schildert. Ihr wirklicher Urheber könnte Abgar der Große (VIII.) gewesen sein, der in starkem Maße das Christentum begünstigt und als eine Art Hauptstadtkult eingeführt zu haben scheint. Ob er selber Christ gewesen ist, ist jedoch unsicher. Immerhin ist er mit dem (christlich-stoischen) Philosophen Bardaisanes befreundet gewesen.


1.6 Aber selbst wenn der Anfang des rechtgläubigen Christentums in Edessa erst auf ihn zurückgehen sollte, gehört diese Königsstadt jedenfalls zu den „frühen weitgehend christianisierten Zentren der syrischen Welt“ (Deichmann).


1.7 Doch wahrscheinlich waren die ersten Christen schon vor diesem Abgar durch missionarische Werbung unter den Bewohnern der Stadt gewonnen worden, und vielleicht waren die ersten Christen auch gar keine Einheimische, sondern Fremde, Zugewanderte. Und diese brachten ganz sicher nicht nur falsche Vorstellungen des neuen Glaubens aus Palästina mit! Noch weniger kann man das von offiziellen missionarischen Aktionen behaupten, die von Antiochia aus ins Umland und in den Osten führten.


1.8 Richtig ist allerdings, daß man sich das edessenische Christentum von Anfang an nicht als homogen und einheitlich vorstellen darf.

Es gab vermutlich zu Beginn der Christianisierung Edessas sehr verschiedene christliche Richtungen, darunter auch gnostische (markionitische und enkratische) Gruppierungen, wobei die Mehrheit der Stadtbevölkerung um 200 sowieso überwiegend heidnischer, jedenfalls nichtchristlicher, Herkunft gewesen war. (Was sich jedoch innerhalb der folgenden 100 Jahre, also bis zur Schwelle ans 4. Jahrhundert, vollständig umkehrte.)


1.9 Gerade deshalb ist die Auffassung von Bauer sehr plausibel, daß die sog. Abgarlegende als eine Art Propagandaschrift zu verstehen sei, mit deren Hilfe sich eine bestimmte christliche Gruppierung in Edessa im Sinne der Orthodoxie bescheinigte, daß allein sie das wahre authentische Christentum lehre und praktiziere.


2. Vergleich der beiden Fassungen der Abgarlegende


2.1 Der früheste Bericht19 über die Existenz dieser (fiktiven) „Gründungsurkunde“ des christlichen Edessa stammt von Euseb20 (260/264 – 339/40). Er muß von ihr also spätestens bis zum Abschluß seines Werkes Kenntnis erhalten haben, u.z. wie er selbst sagte, durch Einblick in das Archiv der Stadt, wobei er die von ihm gefundenen Briefe Wort für Wort aus dem Syrischen ins Griechische übersetzt haben will.

2.1.1 Daneben gibt es noch einen zweiten Text, der als Doctrina Addai überliefert ist.21 Handelt es sich dabei um das Archivmaterial, das Euseb vorgelegen habe, oder ist es ein späterer Text, in den noch andere Überlieferungen eingeflossen sind?

2.1.2 Da die Erzählung der Kontaktaufnahme eines edessenischen Königs mit Jesus, um ihn zu einem Besuch nach Edessa einzuladen, in zwei Versionen vorliegt, ist es im einzelnen schwierig, den Textbestand einer (möglichen) Urfassung genau zu bestimmen und Erzählkern (Briefwechsel mit den sich daran anschließenden Ereignissen) sowie Ergänzungen klar zu trennen.22


2.2 Euseb beschränkt seinen Bericht auf folgende Informationen:


Exposition: Die Kunde von Jesu Heilungen, und die unheilbare Krankheit Abgars, Jesus der Wunderheiler.

1. Akt: Sendung nach Jesus mit der Bitte, nach Edessa zu kommen, Abgar möchte von ihm geheilt werden. Den Glauben daran hat er schon. Und er verspricht Jesus gleichzeitig Schutz vor den Juden, die ihm nach dem Leben trachten.

2. Akt: Jesus ist zwar verhindert, selber zu kommen. Denn er hat noch allerlei zu erledigen (Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt stehen bevor!). Aber dafür schreibt er Abgar einen Brief, in dem er für später die Ankunft eines seiner Jünger ankündigt.

3. Akt: Tatsächlich kommt Einer aus dem erweiterten Jüngerkreis (der „72“ vgl. Luk 10, 1.17.; Euseb schreibt versehentlich „70“), die zur Mission ausgesandt werden, Thaddäus = Addai mit Namen, nach Edessa, gesandt von (Judas) Thomas, einem der Zwölf. Thaddäus, zu Beginn bei Tobias, dem Sohn eines Juden wohnend, heilt aber außer Abgar noch viele andere, wie es Jesus wohl kaum besser gemacht hätte. Schließlich verkündigt er die Heilstaten Jesu vor den Großen der Stadt und vor allem Volk.

So hat also Edessa den (wahren) christlichen Glauben kennengelernt und nach und nach auch angenommen.23 Eine derartige Formulierung fehlt allerdings bei Euseb; stattdessen spricht er abschließend davon, er hoffe, daß seine Wiedergabe dieses Schriftwechsels „nicht ohne Nutzen“ bleiben werde.

 

3. Die Hauptunterschiede zwischen der Doctrina Addai und Eusebs Wiedergabe der von ihm eingesehenen und übersetzten Korrespondenz (nebst Einleitung):


3.1 Die Doctrina Addai bietet über das bei Euseb Berichtete hinaus weitere mit A-J-K zusammenhängende, aber von Euseb entweder unterdrückte oder ihm nicht vorliegende Informationen einer früheren Traditionsstufe der Doctrina, wobei als wichtigster Unterschied festzustellen ist,


a) daß die Doctrina gar keinen schriftlichen Antwortbrief Jesu kennt24, aber dafür eine Segnung der Stadt25 durch Jesus erwähnt.


b) Statt des Antwortbriefs26 Jesu (und gewissermaßen in Konkurrenz dazu) kennt sie ein gemaltes Jesus-Bild27, das der Gesandte Abgars eigenhändig als Porträt von Jesus angefertigt habe.


c) Außerdem erfahren wir einiges über einen Bischof Paluta und die von ihm in Edessa eingesetzte Priesterschaft.28


d) Weitere Neuerungen gegenüber Euseb sind eine Erzählung über die Auffindung der Kreuzes Jesu und ein Schriftwechsel Abgars mit Kaiser Tiberius über die Juden, offensichtlich rein legendarische Anreicherungen.



III. Die theologie- und kirchengeschichtliche Entwicklung Edessas


1. Bedeutende Gestalten des christlichen Lebens in Edessa im 2. und 3. Jht. sind Bardaisanes (vgl. Anm. 9, s. o. II. 2.5) und Tatian (ca. 120-180) mit seinem Diatessaron – obwohl dessen Aufenthalt in Edessa nach seiner Rückkehr aus Rom um 170 n. Chr. eigentlich nur eine Vermutung ist. Ihr geistiger Einfluß reicht jedoch über ihre Lebenszeit weit hinaus.


2. Im vierten Jht. ist besonders Ephraem der Syrer (306-373) hervorzuheben, der als Kirchenvater der syrischen Kirche gilt und als solcher auch von der römisch-katholischen Kirche hochverehrt wird. Aus Nisibis stammend, ist er nach der Aufgabe seiner Heimatstadt nach Edessa übergesiedelt, wo er die letzten 10 Jahre seines Lebens eine große Wirkung entfaltete. Unter seinen bedeutenderen Werken sind u.a. die Nisibenischen Hymnen zu nennen, berühmt sind auch seine antiarianischen Hymnen über den Glauben.


3. Die (persische) „Schule29 von Edessa“

Ausgangspunkt war die Einrichtung einer theologischen Forschungsstätte für die Ausbildung des kirchlichen Amtspersonals in Edessa und die Notwendigkeit, für das an die Sassaniden gefallene Nisibis eine Ersatzuniversität zu schaffen.

Edessa galt schon vor der Gründung einer theologischen Akademie als „das Athen des Ostens“ (Drijvers, 285). Aber durch die Mitarbeit Ephraems und anderer Gelehrter (Theodor von Mopsuestia) bekam sie zusätzlichen Auftrieb und strahlte auf die ganze Region aus. Nach ihrem Vorbild wurde später die Schule von Nisibis neu aufgebaut, als Edessas Schule 489 auf kaiserlichen Befehl geschlossen werden mußte. Die literarischen Arbeiten und Traditionen dieser Schule wirkten jedoch noch lange nach (z. B. in der bedeutenden syrischen Schriftsammlung „Schatzhöhle“, aber auch in der Doctrina Addai).


4. Die weitere Entwicklung im 5. und 6. Jht.


Nach der Schließung der edessenischen Schule, spaltet sich das syrische Christentum in einen westlichen (überwiegend monophysitischen) und in einen östlichen (nestorianisch-dyophysitischen) Zweig. Nach dem Vornamen von Bischof Burdaya (Baradaeus) von Edessa wurden die monophysitischen Christen Edessas auch als „Jakobitische Kirche“ zusammengefaßt (vgl. Anm. 11 und 12).

Im 5. Jahrhundert wirkte Bischof Rabbula in Edessa. Seine Theologie lehnt sich stark an Ephraems Vorstellungen an. Wie letzterer widmet er den Großteil seiner Schaffenskraft der Bekämpfung der innerkirchlichen Häresien, aber er war auch als Bauherr aktiv und führte wie Ephraem ein monastisches Leben (Drijvers, 286).

Im 6. Jht. wird von außen immer wieder Einfluß auf die edessenischen Verhältnisse genommen, was mit den Gegensätzen zwischen den Orthodoxen, den Melkiten, den Jakobiten und den Nestorianern zusammenhängt. Nach der arabischen Eroberung blieb Edessa überwiegend jakobitisch, aber das Zentrum der syrisch-jakobitischen Kirche war es nicht mehr.



D. Bedeutungsverlust und Niedergang


I. Die letzten fünf Jahrhunderte von 639 bis 1144 Edessas (unter dem Islam und in der Kreuzzugszeit)


1. Die Bedeutung Edessas als Zentrum des kulturellen Lebens in dieser Region, aber auch als Zentrum der syrischen Christenheit insgesamt, schwand schon in dem letzten Jahrhundert vor dem Einbruch des Islam immer mehr dahin und unabänderlich wurde dieser Bedeutungsverlust unter der von 639 an bestehenden islamischen Herrschaft.


2. Daran änderte auch die Wiedererstehung eines selbständigen Edessa unter christlicher Kreuzzugsflagge seit 1098 nicht mehr viel: Der Geist einer Frontstadt als christlicher Brückenkopf in einer überwiegend islamisch gewordenen (Um-) Welt bewirkte eher eine moralische Aufrüstung, ja Uniformierung des kulturellen Lebens, als daß neue kulturelle Kräfte freigesetzt worden wären.


3. Im Gegenteil bekam Edessa nun sehr bald die ganze Kampfkraft der gegen diese christliche Insel angreifenden Muslime zu spüren, unter deren Wucht die Grafschaft Edessa schließlich 1144 zusammenbrach.


 


Bild der Grafschaft Edessa30 und andere Kreuzfahrerstaaten um 1135 (nach Wikipedia: Grafschaft Edessa)


II. Erneut unter muslimischer Gewalt


1. Aus islamischer Sicht habe allerdings die Aggressivität des lateinischen Christentums mehr zum Niedergang der Stadt beigetragen als die islamische Herrschaft selbst. Jedenfalls sei nach dem Kollaps der christlichen Grafschaft Edessa die Bevölkerung so stark dezimiert gewesen, daß sie sich davon nicht mehr erholte.


2. Doch kann kein Zweifel daran bestehen, daß die militärischen Aktionen der Seldschuken, Mongolen und Mamelucken in der Folgezeit und später dann die repressiven Maßnahmen im osmanischen Reich (seit 1637) den Christen in Edessa jede Entwicklungsperspektive nahmen und sie immer mehr marginalisierten und dezimierten.


3. Auch wenn sich kleine christliche Gemeinden noch bis ins frühe 20. Jht. erhalten haben (und sogar manche Rückkehrergruppen aus Europa in diesem Gebiet in letzter Zeit wieder aktiv geworden sind), ist doch der politische und religiöse (missionarische) Bewegungsspielraum für das Christentum in dieser Region weitgehend zum Erliegen gekommen.


Wolfgang Massalsky, 16. 10. 2015



Benutzte Sekundärliteratur:


W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, 1934

ders., Abgarsage, in: Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, 1959, S. 325-329

J. B. Segal, Edessa: The Blessed City, 1970

dazu die Rezensionen von Deichmann, Byzantinische Zeitschrift, Bd. 69, 1976, 105-108, und

Howard Crane, in The Muslim World, Vol. 62/1 (1972), S. 76f.

Das ältere Standardwerk zum Thema Edessa von R. Duval, Histoire politique, religieuse et littéraire d' Edesse jusqu'à la première croisade, 1892, ist über Internet zugänglich, konnte aber nicht mehr berücksichtigt werden.

A. v. Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 1924, bes. 678 ff.


Artikel zu Edessa und Abgarlegende:

in: Kleines Lexikon für den christlichen Orient (ed. Kaufhold, 2007) und LThK (3. Auflage)


Art. Edessa, in:TRE 9 (Drijvers) 277-288

Art. Euseb, in:TRE 10 (Wallace-Hadrill) 537 -543

Art. Ephraem, in: TRE 9 (Murray) 755-762


Art. Abgar in: LThK 1 (1957) 43

Art. Edessa, in: LThK 3 (1959) 658f.


Eusebius, Kirchengeschichte (griech.), Hrsg. E. Schwartz, 1952

Kirchengeschichte des Eusebius Pamphili, Bischofs von Cäsarea, übersetzt Phil. Haeuser, SA d BKV, 1937

 

Johannes Kollwitz, Zur Frühgeschichte der Bilderverehrung, in: Das Gottesbild im Abendland, 1957 (Hrsg. Günter Howe), S. 57-76

H. Frhr. von Campenhausen, Die Bilderfrage als theologisches Problem der Alten Kirche, ebd. S. 77-108


Das Zitat zu Bardaisanes (Anm. 9) ist zu finden unter:

https://www.gorgiaspress.com/bookshop/p-55701-the-book-of-the-laws-of-countries-dialogue-on-fate-of-bardaisan-of-edessabrby-hjw-drijvers.aspx



Anmerkungen:

 

1 und seit den 80er Jahren (des vergangenen Jahrhunderts) sogar Sanliurfa (=Heiliges Urfa)

2 Die Angaben sind hierzu und zu Punkt 5 und 6 teilweise unsicher, weil ich des Türkischen nicht mächtig bin und ich mich hier – von den wenigen Angaben aus dem Internet abgesehen – auf Angaben türkischer und syrischer Bekannter verlassen muß, die die Verhältnisse im Grenzstreifen von früher gekannt haben.

3 Die Zahl konnte nicht überprüft werden. Die Stadt selbst soll (im Jahre 2012) ca. 500 000 Einwohner gehabt haben.

4 Auch Gaziantep westlich von Urfa gehört zu den Wirtschaftszentren in dieser Grenzregion.

5 Unter diesem Namen ist diese Stadt noch weit in das Mittelalter hinein bekannt (und berühmt) gewesen, auch lange nachdem sie offiziell umbenannt worden war.

6 Häufig wurde in Verträgen der Euphrat von den ihre Interessenssphären absichernden Vormächten in diesem Teil des Orients als die eigentliche Grenze festgeschrieben, aber nur selten respektiert.

7 Man spricht von ca. 380 Jahren, die es existierte (zwischen 132 v. Chr., dem Ende der Seleukidenherrschaft, bis 248 n. Chr.) allerdings mit wechselnden Abhängigkeiten, sei es von Rom oder den Parthern; eine eigene Münzprägung gab es wohl erst seit ungefähr 160 n. Chr.

8 Die Sassaniden besiegten im 3. Jahrhundert die Parther und lösten sie damit als Vormacht in diesem Teil des Orients ab, manche sprechen aufgrund der weitgehenden Kontinuität in Kultur und Herrschaft beider Systeme bloß von einem Dynastienwechsel.

9 „The Book of the Laws of Countries (BLC) by Bardaisan of Edessa belongs to the most important writings of early Syriac literature. Bardaisan (154-222), a courtier at the court of King Abgar VIII of Edessa, was one of the most influential thinkers of his time. The BLC reflects the various cultures and the intellectual climate of northern Mesopotamia, and in particular that of the city of Edessa, at the end of the second century and the first decades of the third century CE. The BLC is the primary text for our knowledge of Bardaisan's ideas, as no writings of his have been preserved. The text can be divided into two parts. In the first part Bardaisan sets out his ideas about nature, fate and free will. In particular the liberty of man to act as he desires and the responsibility he has for his actions is emphasized by Bardaisan. This book includes the Syriac text of the BLC and the English translation by Han J.W. Drijvers.“ (Also eine Art Vorläufer von Montesquieus „Der Geist der Gesetze“ aus dem 18. Jht.)

10 Ist das Christentum eventuell sogar über Armenien oder Adiabene, also aus dem Osten, nach Edessa gekommen? Der Apostel (Judas) Thomas z. B., den manche mit Addai (Judas Thaddäus) identifizieren, soll zuvor bei den Parthern und Medern missioniert haben. Siehe zum „Addai-Thaddaeus-Thomas-nexus“ Segal S. 65/6.

11 U.a. waren das die Melkiten (mit Byzanz liiert) und die Nestorianer (Anhänger von Nestorius, ca. 381 – ca. 451). Der Name der Jakobiten in Edessa, der dritten Konfessionsgruppe, geht auf Yakub Baradai (Baradaeus, ca. 498-578), den Erzbischof von Edessa, zurück.

12 Deshalb blieb das edessenische Christentum (hauptsächlich vertreten durch die Jakobiten) monophysitisch bzw. miaphysitisch ausgerichtet (also nicht dyophysitisch = zwei Naturen in Jesus, weil dadurch die Einheit der Person des Gottessohnes mindestens gefährdet, wenn nicht zerstört werde).

13 Siehe dazu den folgenden Abschnitt über die A-J-K.

14 das nicht nur als missionarisches Hauptquartier der frühen Christenheit (für Paulus und andere Apostel), sondern zugleich als unmittelbarer Ableger der palästinischen Urchristenheit verstanden werden kann.

15 Segal hält es für kaum wahrscheinlich, daß die Gemeinde von Edessa diese geistliche Vormundschaft akzeptiert hätte, wenn die Herrscher Edessas und die Mehrheit der Bürger das Christentum schon kurz nach der Kreuzigung Jesu angenommen hätten (S. 65).

16 Segal ordnet die Entstehung der sog. Abgarlegende (in erweiterter Form) der Mitte des 4. Jahrhunderts zu und Bauer geht von ihrer noch späteren Entstehung aus (um 400). Demnach ist davon auszugehen, daß die Doctrina eine Erweiterung oder Umarbeitung des Euseb'schen Archivfundes ist, und daß die von ihm rezipierten Briefe (die offensichtlich selber schon legendarisch sind) im weiteren Verlauf ihrer Rezeption die Bildung der erweiterten (eher kirchlich als städtisch ausgerichteten) Abgarlegende (Doctrina) inspirierten. Wann der Segensspruch entstanden ist, ist unsicher. Daß er nach der Katastrophe Valerians ein ermutigendes (und erwünschtes) Signal für die christliche Stadtbevölkerung gewesen wäre, läßt vermuten, daß er nicht sehr lange nach diesem Ereignis entstanden ist. Über dem Stadttor (mit anderen Teilen des Briefwechsels) als Phylakterion angebracht wurde er nach Segal jedoch erst im 5. Jht. Die Nonne Egeria, die diese Inschrift nicht gesehen hatte, als sie 384 besuchsweise vorbeikam, muß daher zu einem Zeitpunkt dort gewesen sein, als es sie noch nicht gab. Daß sie im 4. Jahrhundert nach Anbringung kurzzeitig wieder entfernt worden ist, ist möglich, aber unwahrscheinlich.

17 Auf diese durchaus ernstzunehmende These ist Segal jedoch leider nicht eingegangen. Im Gegenteil hält er es für möglich, daß der Brief Abgars eine Sekundärbildung sei, um den angeblichen Jesus-Brief als Antwort zu motivieren (vgl. S. 64), was schon Sebastian Brock in seiner Rezension bemängelt hat (im Internet herunterzuladen).

18 Der angegebene Abgar Ukkama (vgl. auch TRE 9, 278) kann es jedenfalls nicht gewesen sein, da seine zweite Amtszeit bereits im Jahre 15 (13?) endete. Segal geht darum von einem anderen Abgar aus, eigentlich kommt nur Abgar V. (13-50) in Frage. Die Argumente dafür, daß Abgar VIII. hinter der Aktion A-J-K stehen könnte, hält Drijvers für „wenig tragfähig“ (280). In der Tat gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß dieser Briefwechsel vor dem 4. Jht. öffentlich zugänglich gemacht wurde. Aber seine Absicht ist nicht, Abgar VIII. mit Abgar Ukkama zu identifizieren, sondern einen möglichst frühen Zeitpunkt für die Verbindung Edessas mit dem ursprünglichen Christentum nachzuweisen, insbesondere im Kampf um den wahren Glauben. Daß bestimmte geschichtliche Tatsachen aus der Zeit Abgars VIII. den Kontext auch der A-J-K bestimmt haben (Palut), sollte deshalb nicht geleugnet werden. Drijvers bemüht sich seinerseits die A-J-K religionsgeschichtlich mit bestimmten Elementen der manichäischen Glaubensgeschichte zu parallelisieren (281, cf. Segal 66), was rein formal möglich ist, aber zu ihrer Entstehungszeit wenig austrägt. Auch über eine mögliche Verbindung mit jüdischem Milieu kommt man hier nicht weiter.

19 Der Bericht in seiner „Kirchengeschichte“ gibt sich als eine wörtliche Wiedergabe der Korrespondenz zwischen Abgar und dem historischen Jesus (vgl. I, 13, 1ff) aus, die Euseb zusätzlich mit einer Einleitung zur Vorgeschichte versehen hat.

20 Generell interessiert ihn als Anhänger Kaiser Konstantins des Großen und Vertreter einer Reichstheologie, wie sich das Christentum von Anfang an immer mehr im Reich ausbreitete und zu einem integralen und konstruktiven Machtfaktor des Reiches wurde. Ursprünglich war er Origenist, mit einer Sympathie für den Arianismus (der im übrigen auch vom Kaiser begünstigt wurde), weil die Formel homousios für ihn mit sabellianistischen (modalistischen) Vorstellungen behaftet war. Er akzeptierte allerdings die Beschlüsse des Nizänischen Konzils von 325, die dem Arianismus den Kampf ansagten.

21 Nach Drijvers (278) kann sie erst Mitte des 4. Jhts verfaßt worden sein, wobei die älteste Handschrift, die die Doctrina enthält, erst aus dem 6. Jht. stammt. Sie kann also Euseb in dieser Form nicht vorgelegen haben.

22 Eine Quellenscheidung müßte zunächst bei den Differenzen zwischen der Darstellung des Euseb und der Doctrina Addai ansetzen, und danach wäre der restliche Text zu begutachten (s. dazu Anm. 16).

23 Eine theologische Deutung der Einzelheiten, z. B. zur Erwähnung von Joh 20, 29 oder das offenbar verklärte „Gesicht“, das Abgar im Antlitz Addais gesehen haben will, sowie die Rede vom Glauben an Jesus, dessen Göttlichkeit von vornherein festzustehen scheint, und an den Vater (Gott), ohne Verweis auf den Heiligen Geist, muß ich hier unterlassen.

24 sondern nur eine mündliche Mitteilung Jesu, die allerdings schriftlich festgehalten worden ist.

25 „Eure Stadt soll gesegnet sein und ein Feind soll über sie nicht mehr herrschen bis in Ewigkeit.“ Darum the blessed City bei Segal! Zum Phylakterion, einer Art „Schutzmittel“ gegen die Angst vor feindlicher Übernahme der Stadt, siehe Anm 16.

26 Daß das Fehlen eines Antwortbriefs „keine tiefgreifende Änderung“ sei, wie Drijvers meint (279), ist ein Irrtum, denn gerade so hatte man etwas Anschauliches, von Jesus selbst Stammendes, in der Hand, das allerdings gegen das leibhaftige Bild Jesu nicht konkurrieren konnte, so daß sein Fehlen nun in der Tat kein großer Verlust mehr war.

27 Sollte schon in der A-J-K von diesem Bild die Rede gewesen sein, so könnte die Bilderfeindlichkeit Eusebs ihn dazu veranlaßt haben, davon zu schweigen. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß es erst viel später in die Korrespondenz aufgenommen worden und so die Doctrina Addai erweitert worden ist, zumal seit Konstantin dem Großen und bes. seit dem 5. Jht. die Verwendung von Bildern (Ikonen) und anderem künstlerischen Schmuck in den aufwendiger gestalteten Kirchen günstiger beurteilt worden ist als in der Urkiche (und noch bei Euseb). Fakt ist jedenfalls, daß ein Bild, wie es in der Doctrina beschrieben worden ist, erst im 6. Jht. auftaucht, genauer 593. Sicher war es in Wirklichkeit viel weniger authentisch als der Brief Jesu. Fakt ist aber auch, daß dieses Bild in der Publikumsgunst schon bald vor dem Brief Jesu rangierte (falls er zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch existierte), was wohl daran lag, daß ein angebliches Porträt Jesu natürlich eine höhere Authentizität beanspruchen kann als ein bloßer Brief. Vgl. zum ganzen Komplex Kollwitz und v. Campenhausen in: Gottesbild, S. 60f.; 81ff.

28 Damit kann die Abgarlegende auch als „doppelt legitimierende Traditionsbildung“ (TRE 9, 280) bezeichnet werden. Sie legitimiert über Addai die Authentizität der sich dort auf ihn berufenden christlichen Gemeinde und sie legitimiert mit (Bischof) Palut und seinen Priesterweihen das dort entstandene Priestertum als das mit urchristlicher Legitimität (Sukzession) und entsprechendem Segen ausgestattete.

29 Segal spricht sogar von drei Schulen. Im 5. Jht. habe es drei Bildungsinstitute (Hochschulen) in Edessa gegeben: die „Schulen“ der Armenier, der Perser und der Syrer, je nach Volks- bzw. Sprachzugehörigkeit der Studierenden (150, vgl. 208).

30 „Edessa war nach dem Umfang der größte der Kreuzfahrerstaaten, nach der Einwohnerzahl der kleinste. Die Stadt Edessa hatte rund 10.000 Einwohner, der Rest der Grafschaft bestand fast ausschließlich aus Befestigungsanlagen.

 

Die Grafschaft erstreckte sich in ihrer größten Ausdehnung von Antiochia im Westen bis über den Euphrat hinaus und reichte im Norden bis an das Königreich Kleinarmenien. Im Süden und Osten lagen die mächtigen muslimischen Städte Aleppo und Mosul, und Al Dschazira, das Zweistromland, das ebenfalls nicht mehr zur Grafschaft gehörte.

Die Bewohner waren zumeist Syrer, Jakobiten und armenische Christen, dazwischen einige griechisch-orthodoxe Christen und Muslime. Obwohl die Zahl der Lateiner immer klein blieb, gab es einen katholischen Patriarchen.“