Schuld und Vergebung

Schuld und Vergebung

Eine Anfrage an das Gesetzesverständnis im Judentum

am Beispiel von Psalm 19 B

 

Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen Sünden! Bewahre auch deinen Knecht vor den Stolzen, dass sie nicht über mich herrschen; so werde ich ohne Tadel sein und rein bleiben von großer Missetat.“ (Ps 19, 13f.)

 

Der zweite Teil dieses Psalms (V. 8-15) lässt uns nachempfinden, wie groß damals die Freude  am Gesetz für den gläubigen Juden war. Gottes Weisungen verhelfen ihm bei seinen Lebensentscheidungen zu einer klaren Erkenntnis von richtig und falsch. Umso erstaunlicher, dass in dieses Lob des Gesetzes hinein der Beter auch von unbewusster Schuld spricht, Schuld, die offenbar auch der gesetzestreue Mensch durch ihm verborgene Sünden auf sich lädt, und für die er Gott um Vergebung bitten möchte. Eigentlich sollte es doch keine unbewussten Sünden geben können, wenn man das Gesetz als Richtschnur besitzt! 

Schuld entsteht allerdings nicht erst durch die Übertretung des Gesetzes – egal ob willentlich oder unwissentlich –, sie  ist vielmehr  ein urmenschliches Phänomen.

Von der Blutrache (1. Mose 4, 14ff.), die im AT bereits als eine überwundene Rechtsidee zurückgewiesen wurde, über die genaue Entsprechung von Vergehen, Schuld und Strafe („Auge um Auge, Zahn um Zahn“ 2. Mose 21, 24) bis zur Überzeugung, dass der unschuldige Einzelne nicht länger für die Schuld der Gemeinschaft („Väter“) büßen dürfe (Hesekiel 18, 2ff), wird im AT durchgängig – auch schon vor der Gabe des Gesetzes am Sinai – danach gefragt, was Gerechtigkeit ist und auf welche Weise Schuld  gesühnt werden kann. 

Gott handelt dabei nicht immer so, wie die menschliche Justiz handeln muß. Er kann Schuld vergeben. Sogar der Mörder Kain kommt mit dem Leben davon, weil Gott es so will.

Im Rechtsstreit mit Gott ringt ihm Abraham um zehn Gerechter willen, die in Sodom leben könnten, sogar das Zugeständnis ab, die ganze Stadt zu verschonen.

So lässt Gott um seiner Gerechtigkeit willen wiederholt Gnade vor Recht ergehen, anstatt Gericht und Vergeltung zu üben[1].

Wie Gott die Übertretung seines Gesetzes (Thora) ahndet, liegt ebenfalls in seinem Ermessen.

Ihm sind durch das Gesetz keineswegs die Hände gebunden. Er kann gnädig sein, wem er gnädig sein will.

Damit durchzieht das AT von Anfang an eine tiefgreifende Spannung zwischen Glaube (Gnade) und Gesetz, die ihre endgültige Auflösung erst durch Jesus gefunden hat, wobei das Gesetz mit dem Glauben in der Gott hingegebenen Person Jesu verschmolzen ist. Dieser Glaube ist freilich ohne Kreuz und Auferstehung Jesu nicht zu haben[2] und wird in dieser Form erst im NT entfaltet.

Wenn damit in Christus die Heilsmacht des Gesetzes an ihr Ende gekommen ist (Röm 10, 4), so handelt es sich um ein Ende, in dem das Gesetz als ursprüngliche Willensbekundung Gottes durch den Glauben (an Christus) zugleich „aufgerichtet“ (Röm 3, 31) wird. So jedenfalls hat Paulus die Versöhnung der alttestamentlichen Spannung von Glaube und Gesetz in Christus gedeutet.

Das gänzliche Auseinanderfallen von Gesetz und Glaube ist in der Gesetzesfrömmigkeit des spätbiblischen Judentums vor allem durch die Frage nach der Schuldvergebung verhindert worden. Denn durch sie wird deutlich, dass es nicht genügt, sich allein auf das Gesetz zu verlassen.

Wenn da kein „gnädiger Gott“ ist, nach dem bekanntlich auch Luther in seiner Verzweiflung fragte, wer kann uns dann von unserer (verborgenen) Schuld befreien, für die wir keine Erklärung haben und für die wir uns auch nicht vor Gott rechtfertigen können? 

Die Frage nach der Schuld und der Schuldvergebung trieb jeden  Gesetzeskundigen zur Zeit Jesu (und wohl schon lange vorher)  um.

Wieso kann die Ausrichtung des eigenen Lebens am Gesetz das Entstehen von Schuld nicht verhindern? Und wozu ist sonst das Gesetz in seinen verschiedenen Formen dem Gottesvolk gegeben, wenn nicht zur Vermeidung von Fehltritten auch solcher Art?

Dennoch geschieht es immer wieder, dass trotz aller Wachsamkeit auch der das Gesetz sehr genau nehmende Fromme die eigentliche Intention des Gesetzes verfehlt, selbst wenn er es Wort für Wort befolgt. Für ihn sind das die „verborgenen“ Sünden, über die niemand genau Bescheid weiß.  Weiter kommt er in seiner Selbsterforschung allerdings nicht.

Der Gedanke eines „Sünderseins“, das mit den begangenen Tatsünden nicht identisch ist, sondern den ganzen Gott-losen Menschen meint, der nur im Glauben (und nur von daher durch das Tun des Gesetzes) mit Gott vereint ist, ist unserem Beter wie den meisten seiner Glaubensgenossen damals noch fremd gewesen.

An diesem in sich selbst verschlossenen Ich scheitert auch der gesetzestreueste Mensch immer wieder. Dieses sein Sündersein, das auch die edelste Tat (vor Gott) zunichte machen kann, ist der Grund, warum er durch das Gesetz und aus dem Gesetz nicht vor Gott gerechtfertigt werden kann und warum er immer wieder neu Gott um Vergebung seiner Schuld bitten muß.

Das Problem sind nämlich nicht nur die eben doch nicht immer ausreichend verinnerlichten oder gar vergessenen Gebote, das Problem sind aber auch nicht die für heilig und unabänderlich gehaltenen Gesetzestexte selbst, die in veränderten gesellschaftlichen Situationen nicht mehr ohne weiteres anwendbar sind, ohne dass ihr ursprünglicher Sinn verloren geht.

Das Problem ist der Mensch, die alltägliche Gottlosigkeit, in der nicht nur der säkulare Mensch, sondern auch der an sich gläubige Mensch lebt.

Erst wenn dieser Zusammenhang gesehen wird, kann die eigentliche Unzulänglichkeit des Gesetzes für  die Gewinnung und Erhaltung der heilsentscheidenden Gemeinschaft mit Gott erkannt werden.

Wer das Sündersein des Menschen nur im falschen Tun erblickt, kann die fundamentale Schwäche des Gesetzes nicht erkennen.

Sie ist auch dem Beter dieses Psalmteils verborgen geblieben.

Ihm geht es um eine Vertiefung der Gesetzesfrömmigkeit, nicht um ihre Infragestellung oder Relativierung. Er ist ja im Gegenteil dankbar für dieses Gesetz.

Die gesetzliche „Reinheit“ vor Gott nicht zu verlieren, bleibt sein Heilsziel, auch wenn sie angesichts immer neuer, sogar ihm selbst unbekannter Schuld, in immer größere Ferne zu rücken scheint. Immerhin weiß er, daß sie nicht durch das eigene Handeln äußerlich „herstellbar“ ist. 

Der Gesetzesfromme, der hier in Ps 19B spricht, hat also erkannt, daß das Gesetz nicht verabsolutiert werden darf:  Es kann und darf Gott nicht ersetzen.

Er weiß durchaus, daß das Leben nach dem Gesetz das lebendige Gespräch des Herzens mit Gott (V. 15) braucht, durch das der Beter Belehrung und Weisung empfängt, Weisung, die mehr ist, als Buchstabengläubigkeit aus dem Gesetz herauslesen kann. 

Der Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und dem die Himmel ihr „unhörbares“ (Ps 19, 4) Schöpfungslied singen, will nicht als eine Buchstabenweisheit behandelt werden. Vielmehr wurde das Gesetz Gottes Israel zu treuen Händen übergeben, um mit (dem Schöpfer-) Gott in einer nie abreißenden Gemeinschaft (vgl. V. 3-5) zu sein und nach dem Vorbild der Schöpfung und mit ihr zusammen diesen Gott zu „ehren“ (2f.). Lob Gottes aber schließt immer auch die Dankbarkeit des Beters für Gottes Bereitschaft zur Vergebung aller Sünden ein, wenn wir ihn ernsthaft darum bitten, sogar der "verborgenen", die der unvollkommene Mensch in seinem Eigensinn  trotz der Gabe des Gesetzes nicht nur an dem vollkommenen Gott, sondern auch an der Schöpfung begeht und leider nicht erkennt.

  

Wolfgang Massalsky, 13. 2. 2013



[1] was Gott aber schließlich doch tat, weil es außer Lot und seiner Familie eben keine Gerechten mehr dort gab (Gen 18f.).

[2] Wer das Kreuz und insbesondere die Auferstehung Jesu  in der  von den Evangelien geschilderten Form  d.h. als ein wirkliches Geschehen nicht annehmen kann und will, für den kann Jesus streng genommen nur ein Gescheiterter sein, der sein Leben umsonst dahingegeben hat, so dass wir, wie Paulus sagte,  weiterhin mit unserer unvergebenen Schuld leben müssten (1. Kor 15, 17).