3. n. Tr.

3. Sonntag nach Trinitatis:

Hesekiel (Ezechiel) 18, 1-4. 21-24. 30-32


(16. 6. 2002)

 

Die "Gnade der späten Geburt" (ein Wort des früheren Bundeskanzlers Kohl) ist schon fast so etwas wie ein geflügeltes Wort geworden, manchmal wird es allerdings eher kritisch als zustimmend zitiert. Viele misstrauen solchen gutgemeinten Parolen, glauben nicht, dass wir das Recht hätten, unter die Geschichte deutscher Judenfeindschaft und Judenvernichtung endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Der sog. Antisemitismus-Streit der letzten Wochen machte dies wieder einmal deutlich. Kann man dem Fluch der Geschichte nie entfliehen? Selbst dann nicht, wenn man zu jener Zeit noch gar nicht auf der Welt war? Gibt es für uns Deutsche niemals eine Generalamnestie von der Last der Geschichte?

Mit der Last der Geschichte haben auch die Israeliten zur Zeit Hesekiels gehadert. Sie hatten diesen Generationenkonflikt immer wieder bei sich erlebt, nämlich dass die Schuld der Väter oft die Falschen trifft und selbst die unschuldigen Kinder dafür büßen müssen (Landverlust, Deportation, Reparationen und andere Opfer wie z.B. Krankheiten). Für diese Erfahrung, dass die folgenden Generationen oft noch lange an den Untaten der Vorfahren zu leiden haben, hatten sie das folgende Sprichwort geprägt: "Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden" (V. 2). (Merke: Es geht bei diesem Sprichwort nicht um falsche Ernährungsgewohnheiten oder um Gegenmaßnahmen zur Herstellung ausreichender Volksgesundheit!)

Und nun soll Hesekiel im Auftrag Gottes dem Volk Israel die gute Botschaft verkünden, dass die Zeit der Sippenhaft zuende sei, dass das Ende der leidigen Konfrontation mit der ererbten Unheilsgeschichte gekommen sei und dass in Zukunft nicht mehr das Volk als ganzes für die Schuld der Väter zu sühnen habe, sondern dass jeder einzelne nur für seine eigenen Taten verantwortlich gemacht werden dürfe. Nur wer persönlich schwere Schuld auf sich geladen habe, nur der müsse weiterhin mit schwerer Strafe (dem Tod) rechnen. Damit wird das seit alters her geltende geschichtliche "Gesetz" durchbrochen, dass das Volk als ganzes den Folgen seines Tuns nicht entgehen könne.

Diese Neubewertung der Frage nach der Generationen übergreifenden Verantwortung für geschichtliche Schuld hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass sich der einzelne als Individuum immer mehr seines eigenen Wertes bewusst wird und für die Fehler seines Volkes nicht länger einzustehen bereit ist, wenn es sich auf falschen Wegen befindet. Die Devise lautet demnach: Sehe doch jeder selber auf seinen Weg, dass er richtig gehe und nicht falle und anderen durch seinen Sturz nicht wieder gut zu machenden Schaden zufüge.

Der Predigttext übergeht allerdings die folgenden Zeilen und setzt erst wieder mit V. 21 ein.
Es dürfte jedoch kein Zufall sein, dass wir hier von der Möglichkeit der persönlichen Umkehr hören. Die Umkehr und Rückkehr unter Gottes Gesetz bedeutet Leben, Vergebung der Schuld usw. Jeder einzelne ist aufgerufen, diese Umkehr zu vollziehen, um das Verhältnis zu Gott zu bereinigen.
Umgekehrt gilt, wer sich nicht bekehrt, und selbst wenn er ein Gerechter war, kann nicht mit Gottes Nachsicht rechnen (V. 24).
Die Notwendigkeit der Umkehr wird den Hörern dieser Botschaft mit allem Ernst eingeschärft, weil andernfalls der Tod aller drohe. Aber, so fragt uns der Prophet im Auftrag Gottes: "Warum wollt ihr sterben?" Der Tod des Immer-weiter-so ist kein unabwendbares Schicksal, er ist im Gegenteil vermeidbar, weil Gott selbst ihn gar nicht will! Denn Gott will nicht den Tod des Gottlosen, sondern dass er umkehre und lebe.

So erleben wir in diesen Worten des Predigttextes noch einmal die damalige Situation des Volkes Israel mit, als sich seine Einheit immer mehr aufzulösen begann. Theologisch wurde diese Situation so bewältigt, dass Israel durch den Propheten Hesekiel erkannte, dass Gott sich nicht länger nur an das Volk in seiner Gesamtheit wendet, nämlich durch die politische Obrigkeit, um eine Änderung seines Verhaltens zu erstreben, sondern dass er sich verstärkt an jeden einzelnen Menschen direkt wenden will, um das Bewusstsein für die individuelle Verantwortung zu stärken und einen persönlichen Kurswechsel zu erreichen. Weil Gott den einzelnen Menschen nach seinem individuellen Tun beurteilt und richtet, wartet Gott auf ein "neues Herz" und einen "neuen Geist" jedes einzelnen. Das Volk besteht nunmehr aus vielen einzelnen Bürgern und niemand kann die Schuld für sein falsches Handeln auf die Obrigkeit schieben oder sich hinter dem Rücken seines Vordermannes oder seiner Vorderfrau verstecken, wenn er oder sie Dinge mitmacht oder gutheißt, die ins Verderben führen.

So bringt das Verständnis für die Unhaltbarkeit eines Zustandes, der den nachfolgenden Generationen die Folgelasten für die Schuld der Vorväter aufbürdet zugleich eine erhöhte Verantwortung für das eigene Leben vor Gott mit sich. Und damit entwickelt sich zugleich eine erhebliche Entpolitisierung und Ethisierung des einzelmenschlichen Lebensvollzugs jedenfalls in den Schichten und bei den Hörern, die von Hesekiel angesprochen werden.

Pfarrer Massalsky, 13. 6. 2002