Weltethos

 

 

Das „Weltethos“ in den Religionen zur Geltung bringen!

 

 

Kritische Auseinandersetzung mit dem

 

„Projekt Weltethos“

 

des Theologen Hans Küng

 

In unserer Kirche hängen z. Zt. 13 Plakattafeln zum Thema „Weltethos“, für die das „Zentrum für interreligiösen Dialog“ (ZID) verantwortlich ist. Sie stellen die Ziele der von dem katholischen Theologen Küng 1995 mitgegründeten „Stiftung Weltethos“ dar. Diese fördert das Verständnis für die Weltreligionen und ihren Einsatz für Frieden. Ethisch lässt sich nach Küng der gemeinsame Nenner der Religionen auf den Satz der „goldenen Regel“ bringen: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu!“ (vgl. dazu  Mt 7, 12, wo die Goldene Regel in positiver Formulierung aufgenommen ist). Auf den Tafeln 1-6 (von hinten) werden die großen Weltreligionen Hinduismus (Indien), Buddhismus, Konfuzianismus (China), Islam, Judentum und Christentum vorgestellt. Ob es sich bei den Lehren des Konfuzianismus und des Buddhismus (mit seinem 8-fachen „Pfad“) überhaupt um Religionen und nicht viel eher um Sittenlehren und Lebenseinstellungen handelt, bedürfte sicher einer besonderen Erörterung. Für Küng reicht aus, daß es sich bei ihnen um bewährte „Heilswege“ handelt, um sie zu Religionen zu erklären. Auf den weiteren Tafeln (7-12) wird die Goldene Regel selbst mit den sich aus ihr ergebenden Verpflichtungen beschrieben, z. B. Verantwortung für das Glück des Partners (Nächsten), Verzicht auf Gewalt und Ehrfurcht vor dem Leben, was die Menschenrechte einschließen dürfte, auch wenn sie nicht ausdrücklich erwähnt werden, und ein schöpfungsfreundliches Verhalten gegenüber der Natur. Die Tugenden der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit werden ebenfalls als allgemeingültige religiöse Werte  hervorgehoben.

Kritisiert wird dagegen kapitalistische Gier, die nach dem Ende des Kalten Krieges vom Westen ausgehend die ganze Welt zu erobern droht und die den Aufbau einer gerechten Wirtschaftsordnung verhindert. Zudem werden die hier vorgestellten Religionen durch wichtige Texte ihrer heiligen Schriften und durch bedeutende (z. T. unbekannte) geistliche Führer und Repräsentanten dem Leser näher gebracht. Lexikalische Erklärungen sowie Zeitungsnotizen ordnen die Religionen dem aktuellen Zeitgeschehen zu. Mit Tafel 13, der letzten in der Reihe, sollte eigentlich die Betrachtung begonnen werden.

Es ist offensichtlich, daß Küng den Traum hat, daß eine friedliche, freie und gerechte Welt für alle Völker dieser Erde möglich ist, wenn die großen Religionen dieser Welt mit ihren Einflußmöglichkeiten mithelfen, das von ihm so bezeichnete „Weltethos“ in die Tat umzusetzen. Durch das Buch von Samuel Huntington, „Kampf der Kulturen“ von 1996, hat freilich diese recht optimistische Sicht Küngs auf die  Religionen einen kräftigen Dämpfer erhalten.  

In der Auseinandersetzung mit dem hier propagierten Weltethos lassen sich sowohl positive als auch negative Argumente anführen.

Aus religiöser Sicht ist es sicher gut, daß man in unseren Gemeinden (und anderswo) mit solcher Plakatwerbung zeigt, daß es notwendig ist, den interreligiösen Dialog auch und gerade nach immer wieder neu aufflammenden Konflikten (wie die sog. Döner-Morde in Deutschland durch die NSU oder jüngst die Morde im Raum Toulouse in Frankreich sowie die an Zivilpersonen durch einen GI in Afghanistan) weiterzuführen. Faktisch steht der religionsübergreifende Dialog auch bei uns noch in den Anfängen; er ist oft mehr Wunsch als Realität. Große Worte wie z. B. jenes, daß der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre, bringen ihn nicht automatisch voran.

 

Die Kirchen haben schon vor längerem einer „Ökumene“ der Religionen eine Absage erteilt. Zu verschieden seien ihre Gottesvorstellungen und Weltsichten.

Generell weiß auch Küng, daß die Religionen und Konfessionen in den kulturell durch sie geprägten Weltteilen dazu tendieren, einen Absolutheitsanspruch zu erheben. Das hat das (katholische) Christentum über viele Jahrhunderte auch getan.

Die um sich greifende Globalisierung unserer Gesellschaften (nach dem Ende des Kalten Krieges) hat die Religionen aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt, in den sie bis zum Zusammenbruch der früheren Sowjetunion durch die Unterdrückung durch religionsfeindliche Ideologien versetzt worden waren. Huntington hielt es sogar für möglich, daß den wiedererwachten Religionen die Funktion der miteinander um Weltherrschaft kämpfenden Ideologien zufallen werde, und die Politisierung des Islam, auch wo er nicht terroristisch auftrat, schien seine Befürchtungen lange vor „nine/eleven“ zu bestätigen. Demgegenüber wirkte die Vorstellung einer Befriedung dieser Welt durch die Weltreligionen,  zumindest wenn sie sich auf das ihnen gemeinsame „Weltethos“ besannen, trotz aller Bereitschaft, sich auf dieses „Projekt“ einzulassen, fast utopisch, u. z. auch deshalb, weil sich die Religionen nicht auf ein „Weltethos“ reduzieren lassen.

Denn wenn man das Anliegen der Stiftung Weltethos nicht nur einseitig gegen den Westen und seine Kirchen gerichtet ansehen soll, muß gerade auch vom Islam und den asiatischen Religionen ein radikales Umdenken in Richtung auf Öffnung gegenüber der Moderne, demokratische Mehrparteiensysteme und Toleranz für Andersdenkende gefordert werden. In dieser Beziehung hat die Propagierung des Weltethos noch nicht die erhofften Früchte gebracht.

Im multireligiösen Indien gibt es häufig religiöse Konflikte; das religiöse Selbstbestimmungsrecht der Tibeter wird mit Füßen getreten – wenn auch weniger aus religiösen, als vielmehr aus Gründen der Staatsräson, und Christen werden in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten von islamischen Bevölkerungsgruppen aus ihren Heimatländern vertrieben, wenn nicht umgebracht.

Christliche missionarische Arbeit gilt in vielen Teilen dieser Welt als unerwünschtes Eindringen von Freizügigkeit und Konsumdenken in das Hoheitsgebiet einheimischer Religionen, so als ob die Religionszugehörigkeit eine Staatsangelegenheit sei. Durch die Weltreligionen zum Weltfrieden?

Gelingen wird dieses „Projekt“ nur dann, wenn die Religionen sich vor der Moderne nicht zu verstecken brauchen, wenn sie die Moderne in ihr Lebens- und Denksystem zu integrieren und so vielleicht sogar zu verwandeln vermögen, was keineswegs eine leichte Aufgabe ist, was man schon daran erkennt, wie schwer sich die katholische Kirche mit der Freiheit und der Autonomie des Menschen in der Moderne tut, was auch Küng nicht verhehlt.

Faktisch besteht zwischen den in dieser Ausstellung so friedlich vereinten Religionen in der Realität unserer Welt keine ungetrübte Partnerschaft, und wird es sie jemals geben? Man kann leicht von einem Weltethos sprechen und verlangen, daß die Religionen sich danach richten mögen, wenn es doch offensichtlich in dieser Welt, auch unter ihnen,  ganz anders zugeht.

Deshalb plädiere ich dafür, daß die Religionen möglichst ungehindert zeigen können, was sie zur geistigen Bewältigung der existenziellen Probleme unseres Lebens (in ihren Kulturen)  geleistet haben und mit welchen Konzepten sie auf die Zukunft zugehen; schließlich welche Art von Gottesbeziehung ihnen zugrunde liegt, was für sie das Göttliche ist, dem  sie sich mit ihren Frömmigkeitsformen zu nähern versuchen. Gerade das, was sie in dieser Hinsicht trennt, ist das Wertvolle an ihnen, das es zu entdecken lohnt. Dafür brauchen wir den interreligiösen Dialog! Alle anderen Probleme von gemeinsamem Interesse lassen sich auf dem Wege politischer Verständigung lösen, wenn der Wille dazu vorhanden ist.

 

Gewiß, die eine Welt wird von allen Menschen universell gleich erfasst, aber durch den jeweils besonderen sprachlichen Spiegel kultureller und religiöser Vorprägung kommen wir zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen, die die Gemeinschaft unter Menschen verschiedener Religions- und Kulturzugehörigkeit nicht nur bereichern, sondern auch beeinträchtigen, ja sogar zerstören können. Darum haben die „Universalisten“ von der Notwendigkeit, den kulturellen und religiösen Kontext unseres Lebens zu beachten, um den Menschen besser verstehen zu können, meist nichts wissen wollen. Dagegen halten die „Kulturalisten“, die darum wissen, daß dieselbe Welt aus ganz verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, eben auch zu sehr verschiedenen (religiösen) Wahrnehmungssystemen führen muß, an ihrem Standpunkt fest, weil es zunächst für uns keine andere Welt gibt als die, in die wir hineingeboren werden und die für uns Heimat ist, in der wir zu sozialen Wesen aufwachsen.

So kann heute im Kern der  Gegensatz und die Vielfalt der Religionen erklärt werden, indem den verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen und Perspektiven der Menschen in einer polyzentrisch gewordenen Welt Rechnung getragen wird.

Das Weltethos von H. Küng versucht offenbar beide Blickpunkte zu verbinden: das Weltethos steht für die universellen menschheitlichen Werte in den Religionen (und außerhalb), die im Zusammenleben der verschiedenen Völker lebensentscheidend sind, darüber hinaus vertreten die Religionen aber auch die lokalen und regionalen Werte der uns umgebenden Heimatländer mit ihren Traditionen, Vorurteilen und Feindschaften.

Darum fordert es die Seriosität einer fairen Auseinandersetzung im Wettstreit der Religionen um angemessene Welt- und Gottesinterpretation, daß  Angehörigen fremder Religionen das Recht zu freier Religionsausübung zugestanden und Mission nicht unter Strafe gestellt wird (wie das z. B. in vielen islamischen Ländern der Fall ist). Nur so kann Gleichberechtigung unter den Religionen hergestellt werden, die das oberste Ziel des „Weltethos“ sein muß, weil es andernfalls keinen friedlichen (Meinungs-)Austausch unter den Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften geben kann, und wenn das nicht gelingt, wird es vermutlich auch in allen anderen Fragen und Problemen dieser Welt von Seiten der Religionen keinen ernst zu nehmenden Beitrag zum Weltfrieden geben.

Wolfgang Massalsky, 30.03.2012

                                                                                                                                                                  

Zum Ganzen ist außer den Tafeln heranzuziehen: Hans Küng, Projekt Weltethos, 1990, Neuausgabe 1992, besonders der Abschnitt „Weltreligionen und Weltethos“, S. 80-90.