Kirche der Freiheit

 

Die Zukunft der Kirche in der Stadt

aus dem Blickwinkel unserer Region

Zur jüngsten EKD-Studie „ Gott in der Stadt“ (2007)

 

1. In der Berliner Innenstadt („Mitte“) erleben wir derzeit eine erhebliche Verteuerung der Mieten. Viele Bürger klagen, daß sie sich die teuren Wohnungen nicht mehr leisten können und ziehen in billigere Wohnquartiere um. Sozial schwierige bis prekäre Lebenslagen entstehen nicht selten, wenn das alte Umfeld verloren geht, weil dadurch auch häufig Freundschaften, Beziehungen und Treffpunkte für den persönlichen und beruflichen Austausch verloren gehen. Viele fühlen sich durch diese Entwicklung aus ihrem bisherigen Leben herausgerissen und von den Besserverdienenden verdrängt, die die Berliner Innenstadt nicht nur als Arbeitsplatz schätzen gelernt haben, sondern mehr und mehr auch als Lebensraum von gesteigertem kulturellem Wert zu entdecken beginnen. Entwickelt sich hier ein neues soziales Problem? Werden Alteingesessene zu Bürgern zweiter Klasse degradiert?

Unsere Brennpunkte sind bekannt. Das Quartiersmanagement für den Beussel-Kiez, mit dem auch wir zusammenarbeiten, identifizierte die Krisenphänomene in unserer (Moabiter) Region vor allem in der mangelnden Integration der ausländischen Mitbürger, in der geringen gegenseitigen Kenntnis der alten und neuen Religionsgemeinschaften vor Ort, aber auch in den durch Arbeitslosigkeit und Krankheit von weiterem sozialen Abstieg bedrohten Bevölkerungsschichten, was auch eine wesentliche Ursache für Gewaltausbrüche unter Jugendlichen an den Schulen und in ihrem Freizeitverhalten ist. Eine Gemeinde, die sich an der Behebung dieser Mißstände beteiligen will, hätte hier reichlich zu tun. Aber ist das unsere primäre Aufgabe?

Immerhin gibt es in unserer Teilregion inzwischen sogar ein „Zentrum für interreligiösen Dialog“, die Stadtmission und andere karitative Einrichtungen bemühen sich um verstärkte Präsenz in unserem Gebiet.

Unser Jugend- und Konfirmanden- Projekt „Migration in Moabit“, dessen Ergebnisse wir im Oktober  in der Erlöserkirche ausstellen wollen, ist solch ein Beitrag  zur eigenen Aufklärung über fremde Menschen und ihre Lebensgewohnheiten in unserem Wohnbereich (in früherer Zeit und heute). So etwas kann die jeweilige Ortsgemeinde allerdings meist nur in Verbindung mit anderen gesellschaftlich relevanten Organisationen leisten, von der tatkräftigen Mitwirkung Ehrenamtlicher ganz abgesehen. Dies gilt auch für unsere sozial-diakonische Arbeit in unseren Gemeinden, sei es „Laib und Seele“, die Kleiderkammer oder das „Spätcafé“ für Obdachlose. Ohne Sponsoren und ehrenamtliche Helfer wäre diese Arbeit nicht möglich.

Die Mittel der Ortsgemeinden sind heute sehr viel bescheidener als vor 30 Jahren. Wir müssen auf allen Ebenen sparen und zusehen, unsere Einnahmen zu erhöhen, um nur die zentralen Aufgaben, die uns traditionell gestellt sind, zu erfüllen: Pastorale Dienste, Kinderarbeit, Bildungsarbeit und die kirchenmusikalische Arbeit, die bei uns einen besonderen Schwerpunkt darstellt. Die Jugendarbeit konnte mangels finanzieller Mittel schon vor 10 Jahren nicht in alter Form weitergeführt und das Jugendhaus „Die Zinse“ mußte sogar ganz aufgegeben werden.

2. Diese schwierigen Finanzverhältnisse („Ressourcenknappheit“) haben jedoch für die Verfasser der Studie „Gott in der Stadt“ (an der nicht nur unser Superintendent L. Wittkopf, sondern auch der neue Generalsuperintendent Ralf Meister mitgearbeitet haben) nicht nur Nachteile, sondern auch den Vorteil, daß in den Gemeinden der großen Städte verstärkt nach geeigneten Formen der Zusammenarbeit gesucht wird. Die Einteilung in Regionen, die Bildung von Sprengeln,  Fusionen, „geteilte“ Pfarrer, neue Gemeindenamen, all das ist das Ergebnis dieser bei uns stattfindenden, von den Kirchenkreis-Räten gern gesehenen Entwicklung der Konzentration der Kräfte, wenn dadurch wirklich finanzielle Einsparungen oder neue Effekte der Ausstrahlung unserer Arbeit auf das ganze Wohnquartier = Region (oder Teile davon) erreicht werden.

Allerdings entstehen gelegentlich auch Fehlentwicklungen, so wenn unser ehemaliger Tiergartener Kirchenkreis jetzt in eine Region West und eine Region Ost unterteilt wird. Eine flexiblere Personalpolitik ist so kaum möglich. Und nicht nur wir, auch andere Gemeinden unseres Kirchenkreises „Stadtmitte“, ca. die Hälfte, haben keinen genehmigungsfähigen Stellenplan – trotz aller Bereitschaft zur Zusammenarbeit in den Regionen. Hier ist der Kirchenkreis als ganzer gefordert, seine finanziellen Spielräume zu überprüfen und Stellenbesetzungen nur dort vorzunehmen, wo sie unbedingt erforderlich sind und zu Umstrukturierungen der Gemeindearbeit in der Region beitragen.

In der Perspektive dieser Studie jedenfalls hängt die Zukunft der Kirche in der Stadt erstens davon ab, daß die Stadtgemeinden sich stärker auf die neuen sozialen und religiösen Gegebenheiten in der Stadt einlassen und zweitens, daß sie ihren Auftrag in konzentrierterer Weise  als bisher wahrnehmen, wobei das „dreifache Amt“ Christi (sein priesterliches, sein prophetisches und sein königliches Amt) der „Kirche der Freiheit“ als Grundlegung ihres eigenen Auftrags dienen soll.

Nach der Überzeugung von Ralf Meister und seinen Mitarbeitern bieten die sozialen und religiösen Verhältnisse der Städte in Deutschland der evangelischen Kirche wieder mehr Chancen, um sich sinnvoll in das Stadtgeschehen einbringen zu können, als dies offenbar früher der Fall war, wenn man z. B. an die Studie von 1984 über die „menschengerechte Stadt“ denkt, in der es vor allem um die Vermeidung bzw. Verringerung der ökonomischen und ökologischen Belastungen (und um die Erhöhung der Lebensqualität) für die Innenstädte ging. Smog, „autogerechte“ Stadt, Lärmpegel, desolate Wohnverhältnisse, die die Lebensräume von immer mehr Menschen einengten, Rationalität der Sachzwänge statt den Problemgruppen mit Menschlichkeit zu begegnen, das waren die damals zeitgemäßen Stichworte. Auch damals wollte die Kirche speziell „Kirche für die Stadt“ sein, aber sie wollte auch aufgrund ihres „Wächteramtes“ darüber wachen, daß die Stadt ihre eigentlichen Aufgaben, menschengerechte Lebensverhältnisse herzustellen, verwirklicht. Davon spürt man in dieser neuen Studie erstaunlich wenig, obwohl auch sie die starken Spannungen, ja Spaltungstendenzen in der Stadtgesellschaft von heute sieht (21-24).

3. Wie ist es zu diesem Umschwung in der Beurteilung von Situation und Handlungsmöglichkeiten der evangelischen Kirchen in den Städten Deutschlands und so auch in Berlin gekommen? Woher der Optimismus, daß es der Kirche heute gelingen könne, mit ihren Mitteln „an der Stadtseele und ihrer Heilung“ (56) zu arbeiten? Woher die Sicherheit, daß es dem Wesen der Kirche gemäß sei, mitzuhelfen, daß unsere Städte auch in Zukunft lebensfähig bleiben?

Offenbar geht es vor allem darum,  wieder in den Blick zu bekommen, daß Kirche mehr ist und mehr sein will als nur ein Ort der Befriedigung privater religiöser Bedürfnisse. Es geht also um die Wiederherstellung der gesellschaftlichen und religiösen Relevanz von Kirche in Kiez, Quartier und Region. Das ist wohl gemeint, wenn von der „Rückkehr der Kirche in die Stadt“ die Rede ist (42), so als ob die Kirche bis vor kurzem aus der Stadt ausgebürgert gewesen wäre.

In der Tat, die Christen sollten sich für ihre Stadt engagieren, und wenn (im Sinne reformierter Vorurteile gegen das Luthertum) das lutherische Christentum in der Vergangenheit daran schuld gewesen ist, daß dessen „Privatisierungstendenzen“ (24) die Christen daran hinderten, diesen Dienst der Zuwendung zum Gemeinwesen zu leisten, dann sollten heute diese Hindernisse doch keine Rolle mehr spielen, zumal es schon aus missionarischen Gründen sehr wünschenswert ist, das Spektrum der traditionellen Gemeindearbeit zu erweitern. Die Meinung, daß die Binnenverhältnisse in den Gemeinden diesen Aufbruch nicht zulassen und deshalb behindern würden, scheint ein unausrottbares Vorurteil gegen die klassischen Parochial(=Orts)gemeinden zu sein. Dabei wird es dieses Problem doch auch in der Kirche der Zukunft geben. Denn die institutionelle Selbsterhaltungstendenz zwingt ja die Kirchengemeinden dazu (wenn es für sie keine besonderen übergemeindlichen Aufgaben gibt), Kerngemeinden aufzubauen, weil ohne wirkungsvollen Gottesdienst und sonstiges gemeindliches, geistliches, aber auch sozialdiakonisches Leben eine Gemeinde doch keine echte Existenzberechtigung hat. So sah man es jedenfalls früher. Soll es in Zukunft neue Kriterien geben, etwa daß (jedenfalls aus der Sicht des zuständigen Kreiskirchenrates) nur Profil- oder Schwerpunktgemeinden mit Ausstrahlung in die Region und einem modernen Immobilienpark eine Existenzberechtigung  erhalten sollen, dann wird das jedenfalls nicht über Nacht geschehen können, sondern ein längerfristiger Vorgang sein, der zudem jederzeit durch neue Kriterien verändert werden kann, zumal auch die Gemeinden selbst bei diesem Prozeß ihrer Umgestaltung sicher ein Wörtchen mitsprechen wollen.

4. Die entschlossene Hinwendung zum Gemeinwesen als Leitlinie des gesamtkirchlichen Handelns in der Stadt könnte sich allerdings auch als Irrweg erweisen, vor allem wenn dadurch die klassischen gemeindlichen Aufgaben vernachlässigt werden sollten. Außerdem  bedarf es doch immer auch der Distanz zu dem, dem wir uns zuwenden. Darum werden wir als Kirche gegenüber der Gesellschaft, als deren Teil wir uns verstehen müssen, eine nicht nur konstruktiv-helfende, sondern immer auch eine kritisch-wachende Funktion einnehmen müssen – in Kooperation und Gemeinschaft mit Gläubigen und Nichtgläubigen, wobei aus meiner Sicht das Verwischen von Grenzen zwischen religiös verantwortbaren und religiös problematischen Gestalten kirchlichen Lebens und Handelns, wie es der sehr diffuse Religionsbegriff der Studie befürchten läßt, der Klarheit des Christus-Zeugnisses in unserer Stadt nicht  dienen wird.    

 

Wolfgang Massalsky, 30. 8. 2008

                                                          

 

Die EKD-Studie „Gott in der Stadt“ ist über die Homepage der EKD kostenlos zu erhalten!