Glaube
Zur Jahreslosung 2020
Zwischen Wunder-Glauben und alltäglichem Unglauben
(ein Jahresprogramm)
1. Ist das Glauben?
Luther: „Wenn mir Gott Holzäpfel zu essen befähle, so täte ich es.“
Dazu A. Schlatter, Erlebtes, 1924, S. 75: Als gläubiger Mensch aufgewachsen, sah Schl. schon als Gymnasiast, daß es nicht ganz problemlos war, den eigenen Glauben mit den Wahrheiten der Wissenschaften (Evolutionstheorie) und der Philosophie (Erkenntnistheorie) in Einklang zu bringen. Später, 1871, an der Universität in Basel, stieß er bei der Beschäftigung mit Luther und Zwingli für einen kleinen Kreis von Studenten auf diesen Satz Luthers aus dem Religionsgespräch von 1529 in Marburg, und er bekannte: „Da sah ich, was Glaube sei, geschlossene Einigung mit dem, was als göttlich erkannt ist, im Unterschied von den uns die Erkenntnis gewährenden Vorgängen.“
Dazu muß man wissen: In dem von Luther und Zwingli geführten Religionsgespräch kam es zwischen beiden zu einer teilweise hitzígen Debatte über Joh 6 (Christus als Fleisch); letztlich ging es dabei auch um das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Wie vernünftig darf, ja muß Glaube sein, um angenommen werden zu können? Oder kann man sagen, daß Glaube gar nichts mit Vernunft zu tun hat, ja daß im Zeichen des Glaubens Gott von uns sogar das Allerunvernünftigste, wie das Essen von Holzäpfeln, wie Luther meinte, verlangen kann? (vgl. Christian Franz Gottlieb Stang, Martin Luther Bd 2, S. 579ff., S. 584, im Internet vorhanden)
2. Woran glaubt „man“, wenn man glaubt? (Beispiele:)
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an eine höhere Macht („Schicksal“),
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an ein Jenseits oder ein Leben nach dem Tod,
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an etwas, was dem Leben Sinn verleiht, wofür sich zu leben lohnt…
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alles, woran mein Herz hängt
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etwas, was mich unbedingt angeht
3. Und woran glauben Christen? Woran Juden? Woran Muslime?
An Dogmen? Was für ein Glaube kommt in unserem Handeln zum Ausdruck? Welche Hoffnung haben wir für uns, im Leben und im Sterben?
Welche Rolle spielt dabei das Vertrauen? (Ist Urvertrauen schon Glaube?)
(1) In seinen „Erläuterungen zum Neuen Testament“, Teilband I (4. Aufl. von 1928) schreibt A. Schlatter, was er unter Glauben versteht:
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ungeteilter Jesusglaube: „Jesus hat ein Vertrauen verlangt, das ihn als Retter und Helfer ohne Einschränkung bejaht, und nur ein solches Vertrauen hat er Glaube genannt.“ (zum Markusevangelium S. 88)
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Glaube ist „Vertrauen zu Jesu vergebender Gnade“; diese „bedeckt“ sogar den „Unglauben“ eines Menschen, wenn dieser sich vertrauensvoll an Jesus wendet, um Hilfe in einer heillosen Lebenssituation zu erbitten. Erst recht wird sich Jesus gnädig erweisen, wenn der Bittende für andere bittet (89), wie sich das in der Geschichte vom Vater und seinem kranken Sohn zeigt, die unserer Jahreslosung zugrunde liegt. Dieser Vater wendet sich in seiner Verzweiflung über seinen Epilepsie-kranken Sohn, dem niemand sonst helfen kann, an Jesus mit einer herzerweichenden Bitte: „Jesus, ich glaube, hilf meinem Unglauben!“
(2) M. Buber, Zwei Glaubensweisen, 1950, zu Mk 9, 14-29: spricht von „polarer Differenz“ von Glaube und Unglaube (S. 16). Er unterscheidet den Glauben der Jünger und den Glauben Jesu. Während allerdings Buber den Glauben des AT auch bei Jesus zu finden meint, nimmt er an, daß der christliche Glaube, der Glaube an Jesus, eher etwas anderes und nicht vom AT herzuleiten sei. Dabei denkt er an die Vorstellung der Inkarnation Gottes in Jesus Christus; diese sei mehr von Paulus und Johannes geprägt als vom AT, – obwohl es sich bei ihnen doch auch um Juden und keine Heiden handelt. Sollten sie mit dem Jesusglauben ihr Judentum aufgegeben und einen neuen Glauben geschaffen haben? Nach ihrem eigenen Empfinden jedenfalls nicht, obwohl sich Johannes in der Tat sehr kritisch über das Judentum äußern konnte.
Den trinitarischen Glauben der Christen (der erst im 4. Jhdt. zum Dogma erhoben und danach noch weiter entwickelt wurde) haben Juden ebenso wie die Muslime abgelehnt, wenn auch aus anderen Gründen. Der Islam mißversteht Jesus als zweiten Gott, eine Art Assistenz-Gott, das Judentum kann ihn nicht einmal als Prophet wie der Islam, schon gar nicht als Gottessohn akzeptieren. Denn für Juden ist Jesus als Prophet entbehrlich, weil er nichts Neues bringt, wenn nicht sogar von ihm Unheil für Israel ausgeht; immerhin muß er nicht verketzert werden. Vielmehr kann er inzwischen als Rabbi anerkannt, ja sogar als „Bruder“ im Glauben angesehen werden. Für Muslime verdient er dagegen eine sehr viel größere Beachtung; er gehört in die Reihe der großen Propheten, auf deren Lehren der Islam aufgebaut ist (besonders im schiitischen Islam), unter denen der Erzvater Abraham für den Glauben Vorbildfunktion hat, wie man aus den folgenden Qur‘an-Stellen ersieht; und wie das übrigens auch für Paulus der Fall ist (Röm 4), der die Rechtfertigung (Gerechtigkeit) des Glaubens auf Abraham zurückgeführt hat. Gleichwohl bilden Jesus und seine Mutter Maria im Islam überaus wichtige Meilensteine auf dem Weg des wahren Glaubens durch die Zeiten, bis dann Muhammad diese Reihe endgültig abschließt und diesem Glauben mit dem Qur‘an seinen endgültigen Ausdruck verschafft.
(3) Einige ausgewählte Suren zum Thema Glaube: Muslime sind ihrem eigenen Selbstverständnis nach Angehörige der „Religionsgemeinschaft Abrahams“ (millat Ibrahim).
Q 4, 125 (Übersetzung nach Kuschel): „Wer hat bessere Religion, als wer sein Gesicht Gott zuwendet (wörtlich: wer sich Gott ergibt, arab. ISLAM > aslama), dabei das Gute tut (Paret: rechtschaffen ist) und Abrahams Religionsgemeinschaft folgt? (Der) ein aus innerstem Wesen Glaubender (ist) [Im Arabischen steht HANIFA] ! Gott hat sich Abraham zum Freund genommen (ähnlich im AT).“
6, 161 (Übersetzung nach Paret): „Sag: Wer hat mich auf einen geraden Weg geführt, zu einem richtigen Glauben, der Religion Abrahams, eines Hanifen – er war keiner von denen, die dem einen Gott andere Götter beigesellen [SCHIRK].“
16, 123 (Übersetzung Paret): „Hierauf haben wir dir die Weisung (ein-) gegeben: Folg der Religion Abrahams, eines Hanifen – er war keiner von denen, die dem einen Gott andere Götter beigesellen.“
2, 135 (Übersetzung Paret): „Und sie, die Leute der Schrift, sagen: Ihr müßt Juden oder Christen sein, dann seid ihr rechtgeleitet. Sag: Nein! Für uns gibt es nur die Religion Abrahams, eines Hanifen – er war keiner von denen, die dem einen Gott andere Götter beigesellen.“
3,95 (Übersetzung Paret): „Sag: Gott hat die Wahrheit gesagt. Darum folgt der Religion Abrahams, eines Hanifen – er war keiner von denen, die dem einen Gott andere Götter beigesellen.“
4. Glaube nach Mk 9, 14-29
V. 14f. V. 15-22 V. 23 V. 24 V. 25A V. 25b.26 V. 27 V. 28f.
Wer sind „sie“ (V. 14)?
(1) Die Situation: Die Jünger Jesu in einem Pulk von Anhängern und „Schriftgelehrten“. Jesus kommt dazu.
Man begegnet ihm schon bei der Begrüßung mit erkennbarer Ehrfurcht. Er sieht, daß es einen Streit gab.
Unklar ist zunächst, wer mit wem und warum gestritten hat. Wahrscheinlich gab es einen Streit zwischen den Jüngern und der Menge oder einem Einzelnen, dem Vater des Kranken, der wie es heißt, von einem „sprachlosen Geist“ besessen ist, und die Jünger um Hilfe bat. Offenbar wollte er, daß sie seinen Sohn heilen, aber sie konnten es nicht.
Die Symptome seines Leidens werden nun genauer erzählt, wie man es vielleicht gegenüber einem Arzt tut, der wissen will, um was es sich handelt, wie sich die Krankheit äußert. Oben wurde sie als Epilepsie bezeichnet. Der geschilderte Anfall bringt die Erkrankung des jungen Mannes mit einer Art Sprachlosigkeit in Verbindung. Damals wurden solche Erkrankungen von der Durchschnittsbevölkerung zumeist als Wirkung eines den Menschen um sein Menschsein bringenden, zerstörerischen Geistes beurteilt.
(2.1) Als Reaktion Jesu auf das Unvermögen seiner Jünger spricht er sie als das „ungläubige Geschlecht“ an. Aber vielleicht meint Jesus gar nicht nur sie, sondern auch den Vater und die übrigen Menschen? Ja, vielleicht richtet sich sein Unwille gar nicht so sehr auf bestimmte Menschen, sondern auf die Welt und die Menschen dieser Zeit ganz allgemein.
(2.2) Hat Jesus bei der Erzählung der Symptome sofort erfaßt, daß es eine Frage des Glaubens ist, wie mit dieser Krankheit umzugehen ist? Was aber ist das für ein Glaube, den er damit wie allen anderen auch seinen Jüngern abspricht? Was also wirklicher Glaube gegenüber nur anerzogenem oder inkonsequentem (Halb-) Glauben ist, das steht damit in dieser Heilungsgeschichte im Fokus. Alles andere ist Nebensache.
(3.1) Jesus läßt nun den jungen Mann herbeischaffen. Und wie zur Bestätigung dessen, was der Vater über seine Krankheit gesagt hatte, fällt der Sohn zu Boden, vom sprachlosen Geist in ihm niedergerissen. Jesus will nun weitere Einzelheiten über die Krankheitsgeschichte dieses Jungen erfahren, und er erfährt, daß er diese Krankheit von Geburt an hat und daß er (oder der Quälgeist in ihm) ihn sogar schon ins Wasser und in das Feuer geworfen habe, um ihn (den Sohn oder den Geist?) zu töten.
(3.2) Der entscheidende Satz lautet: Wenn Du „etwas kannst“, dann hilf uns! Dieser Satz scheint Jesus zu erregen. Meint der Vater, er sei hier tätig als ein Spezialist oder Facharzt für aussichtslose Fälle? Wer weiß, was man sich von diesem Jesus schon alles erzählt hatte! Die Jünger jedenfalls vollbrachten nichts. Dem Vater ist es sicher egal, auf welche Weise die Heilung seines Sohnes geschieht. Es könnten auch unbekannte Rezepte irgendeiner Magie (Aberglaube) sein. Wenn er nur geheilt wird, zumindest eine Besserung seines Leidens eintritt!
(3.3) Und die scharfe Antwort Jesu lautet, fast im Stil einer Zurechtweisung: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Worauf der Vater ebenso spruchreif antwortet: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Und wie zum Beweis dafür, daß der Glaube, den Jesus meint, etwas anderes ist und mehr als ein seelsorgerliches Geschehen zwischen diesen drei Personen – die inzwischen von der Menge eingekreist sind – , vielmehr ein Tat- und Heilungsgeschehen am Kranken beinhaltet, kommt er sogleich zur Sache: Er gebietet dem Geist des taubstummen jungen Mannes, daß er aus ihm ausfahre und nie mehr zurückkehre. Und so geschieht es. Das ist Krankenheilung in Jesu Augen!
(4.1) Das setzt freilich eine Anschauung von den Ursachen solcher Krankheiten voraus, die wir heute nicht mehr teilen. Richtig ist, daß es keine körperliche, organische Erkrankung ist, womit diese Menschen zu kämpfen haben, sondern eine eher seelische, wie es ja bekannt ist, daß man seine Sprache durch ein besonders traumatisches Geschehen verlieren kann; aber kann das die Geburt selbst sein? Wenn die körperlichen Voraussetzungen für Sprechen und Hören vorhanden sind, kann man eigentlich die Fähigkeit dazu nur durch ein später eintretendes, vielleicht sehr schmerzhaftes Geschehen verlieren, vielleicht auch nur vorübergehend. (Etwas anders verhält es sich bei angeborener Taubheit, die die Sprechentwicklung behindert.)
(4.2) Wir betrachten heute solche Menschen nicht mehr als von einem bösen Geist Befallene. Wir können in der Regel Taubstumme, die einen angeborenen körperlichen Defekt haben, nicht heilen, wir können ihnen aber auf andere Weise die „Sprache“ zurückgeben, nämlich mit Hilfe der sog. Gebärdensprache, so daß sie wieder „mitsprechen“ und mit anderen kommunizieren können. Als Jesus den Geist ausgetrieben hatte, lag der Junge da wie tot, und die Menge, die sich neugierig an Jesus herangedrängt hatte, glaubte, daß er tatsächlich gestorben sei. Jesus aber richtet ihn auf, so daß alle sehen können, daß er nicht tot ist, sondern lebt.
(5) Die Jünger hätten diese Heilkraft bestimmt auch gern gehabt, denn sicher war es für sie unangenehm, so hilflos dazustehen. Man möchte helfen und kann es nicht. Was tun? Sie fragen zum Schluß dieser Geschichte, als sie mit Jesus allein zusammen sind: Warum konnten wir das nicht? Und Jesus antwortet ihnen: Diese Art, gemeint sind solche Quälgeister, wie man sie damals als Ursache dieses Defekts angenommen hatte, kann nur durch Beten überwunden werden, Beten als ein den bösen Geist vertreibendes Geschehen. Wir können doch alle beten. Warum gelingt uns das trotzdem nicht?
(6) Schlußüberlegungen: Die Geschichte dieser Krankenheilung will andeuten, daß dazu eine Verbundenheit mit dem Geist Gottes notwendig ist, über die wir nicht verfügen, Jesus aber offensichtlich schon. Die Geistgegenwart Gottes bei Jesus ist offenbar von anderer Art, als sie der normale Jünger erfahren kann.
Die Jünger Jesu glaubten damals anscheinend (anders als wir Christen von heute, die wir mit dem Wasser der Taufe den Geist Gottes empfangen und darum täglich mit dem Geist Gottes durch das Gebet in Verbindung stehen sollten), daß sie das neue Leben aus dem Geist wie auf Rezept weitergeben können. Sie sind darum verzweifelt, daß sie dazu nicht in der Lage gewesen sind, obwohl Jesus durchaus anzunehmen scheint, daß sie das eigentlich können müßten. Aber die Fähigkeit dazu erwirbt man nicht so wie ein Schüler, dem der Meister oder Lehrer sein ganzes, für den jeweiligen Beruf notwendige Wissen weiterzugeben pflegt, sondern nur durch Beten. Beten als Geistgeschehen, als Anrufung des Geistes, der das Böse vertreibt, das ist hier gemeint. Und das ist etwas anderes als das Gebet der Berufschristen.
In einer Welt, in der der Geisterglaube weit verbreitet war, ging es vor allem darum, den richtigen Geist auf seiner Seite zu haben, der die bösen Geister aus unserem Leben vertreibt, statt durch falsche Geister zu ihnen herabgezogen zu werden. Das ist der Geist Gottes, des Vaters Jesu, wie wir mit der Kirche zu sagen pflegen. Aber können wir dies noch glauben?
Der erste Schritt eines Handelns im Glauben, den Jesus selbst geht, ist: um den Kranken keinen Bogen machen, aus Angst vor Ansteckung. Sich ihm zuwenden, das ist der erste Schritt. Mit ihm und für ihn beten, das ist der zweite Schritt. Heilung im Sinne Jesu ist, wenn der Kranke nicht als Simulant ignoriert oder als gefährlich und unnahbar isoliert wird. Das Weitere steht nicht in unserer Hand. Aber wenn der Geist Gottes durch unser Gebet wirksam herbeigerufen und tätig wird, stehen wir mit der stärksten Kraft, die es gibt, im Bunde. Und gegen diese Waffe ist jeder nicht zu Gott hin führende, vielmehr von ihm wegziehende Geist machtlos. Das scheint die Geschichte dieser Krankenheilung sagen zu wollen. Und wir brauchen uns nicht zu schämen, daß wir trotz dieses Glaubens nicht zu heilen vermögen wie Jesus, solange wir uns nicht einbilden, als Glaubende über Gottes Kräfte verfügen zu müssen, die wir nach Belieben und wenn nötig auch zu Demonstrationszwecken herbeirufen können. Das konnte (und wollte) auch Jesus nicht, wiewohl er dem Vater hier vor ihm, genauer gesagt seinem Sohn, und anderen, die ihn um Hilfe anflehten, mit der Kraft des Geistes Gottes helfen konnte. Was wir können und tun sollen ist, im Glauben darauf hinzuweisen, daß Gott heilen kann und heilen wird. Wobei der tiefere Sinn jeder Heilung aber darin besteht, unsere Verbindung zu Gott zu entdecken, genauer, sie uns von Jesus entdecken zu lassen.
5. Existiert Gott?
Glaube hat es immer mit Gott zu tun, er ist der „Gegenstand“ des Glaubens!
Aber was ist „Gott“? In alten Büchern kann man Gott als den „Urgrund des Seins“ vorgestellt finden. In neueren wird Gott immer wieder als „die Macht über alle Wirklichkeit“ ausgegeben.
Im Grunde geht es um die Frage: Ist Gott ein Es – oder eine personale Macht? Doch hängt unser Glaube nicht davon ab, ob Gott eine personale Macht ist; auch ein Es kann als göttlich angesprochen werden. Nämlich wenn man nach dem Anfang des Seins fragt. Wenn es nicht ewig ist und damit anfangslos und deshalb keines Erzeugers oder Produzenten seines Anfangs bedarf, sondern auch die Welt im Ganzen wie alles Endliche einen Anfang haben soll, dann muß man, wenn alle Zweit- und Drittursachen durchlaufen sind, eine Erstursache annehmen, die man, weil sie nicht aus der Welt genommen werden kann, als Gott zu bezeichnen hat. Dieser Gott ist allein anfangslos und zugleich ein Wesen außerhalb der Welt, ein Es, das als die Ursache der Welt und alles Endlichen zu gelten hat. Aber dieser Gott ist nicht der Gott der geschichtlichen Religionen, sondern der Philosophie (Aristoteles). Man braucht ihn nur, um den von außen gesetzten Anfang der Welt, ihre Entstehung, zu erklären. Der Gott Jesu ist ein anderer Gott. Er wirkt vor allem in ihr. Wir gelangen zu ihm durch Offenbarung, nicht durch philosophische Erkenntnis, auch wenn diese offenbar etwas Richtiges von Gott zu erkennen vermag. Weil das, was z. B. Aristoteles seinem Gott zuschreibt, auch von dem biblischen Schöpfer gilt, – wenn denn die Welt eine Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo) ist – nur mit dem Unterschied, daß dieser kein materielles Es ist, sondern ein personales Wesen hat.
Andere Beweise für die Existenz Gottes
Können wir an einen Gott glauben, den wir vorher erst beweisen müssen?
Noch einmal: Was ist Glaube?
Glaube als existenzielle Gewißheit, daß der eigene Lebensweg der richtige ist?
Glaube als Suche oder Frage nach Gott
Gewißheit ohne Sicherheit?
6. Und was ist dann Unglaube?
(1) Luther fand im Unglauben die Sünde gegen das erste Gebot, wie umgekehrt im Glauben dessen Erfüllung (ST II 288 A 257). Der Unglaube kann natürlich verschiedene Formen annehmen (289, vgl. Anthr. 90), z. B. Gott nicht lieben, fürchten und vertrauen, also das Gegenteil tun von dem, was nach Luthers Kleinem Katechismus sein soll (ib 70). Unglaube ist es (nach Augustinus), wenn wir die Eigenliebe an die Stelle der Gottesliebe setzen. Auch Undankbarkeit gegen Gott und seine Gaben, die wir zu Unrecht als unser Eigentum behandeln, ist Unglaube. Aber auch das Sich-verlassen auf die eigene Gerechtigkeit, anstatt Gott die Ehre zu geben. Alles das und anderes mehr sind für Luther Ausprägungen und Formen der Sünde und damit Unglaube. Dafür gibt es bei Luther eine Vielzahl von Belegstellen.
(2) Der Satz, daß der Unglaube die Wurzel der Sünde ist, beschreibt auf dogmatische Weise, was man am Verhalten der Menschen immer wieder beobachten kann, nämlich daß wir ohne Gott unfähig sind, in unserem eigenen Leben dankbar und vertrauensvoll im Hinblick auf die uns verbleibende, unbekannte Zukunft nach positiven Aspekten Ausschau zu halten und das eigene Leben sinnvoll zu planen, auch wenn die allgemeinmenschlichen Umstände in den verschiedenen Gesellschaften nicht immer die besten sind und auch unsere eigene Lebenssituation mitunter sehr chaotisch verläuft.
Ohne Gott regiert oft nur Planlosigkeit und Willkür in unserem Leben, manchmal sogar die nackte Angst, auch wenn wir das nicht offen zugeben. Nur im Glauben an Gott können wir das Leben als Geschenk Gottes annehmen und in aller Ruhe über unser Leben nachdenken, notfalls auch die fälligen Korrekturen vornehmen.
(3.1) Allerdings kann Vertrauen (vgl. die Rede vom Urvertrauen) in dieser Form nicht automatisch mit dem Glauben an den Gott der Bibel gleichgesetzt werden. Dazu muß noch etwas hinzukommen, was uns erst die als Offenbarung bezeichnete Geschichte Gottes mit den Menschen seines Volkes im Alten und Neuen Testament zeigen kann, nämlich warum Er dieses Vertrauen verdient: Weil er ein Gott ist, der dem Menschen nicht nur in seinen Blütezeiten, sondern auch in den schlimmsten Krisen seines Lebens, sogar im Tode selbst durch seine Gegenwart beim Sterbenden neues Leben aus dem Geiste Gottes verheißt, auch wenn dieses neue Leben dem Menschen in seinem Sterben gar nicht mehr bewußt und fühlbar wird, – eigentlich ist das aber auch sonst nicht möglich, Gott zu fühlen. Solange wir noch nicht von dem bitteren Kelch des Leidens getrunken haben, also noch gar nicht mit dem eigenen Tod konfrontiert sind, schmecken und fühlen wir von Gott nichts.
(3.2) Die Hostie als das gebrochene Brot (ähnlich wie der Wein als das Blut Christi) will zwar als Symbol des sich im Leben und im Sterben Gott hingebenden und dem Nächsten dienenden Menschen verstanden wissen. Aber es kann nicht mehr als ein Vorgeschmack sein auf das, was einmal sein wird, wenn wir nicht mehr sind. Was wir aber dann greifen (und fühlen) können, wenn der Tod nahe ist, ist immer schon ergriffen durch den Glauben, durch den und in dem Gott selbst nach uns greift.
(3.3) So dem Tode nah zu sein, das ist der Beginn des Glaubens. Das lehrt uns das Leben und Sterben von Gottes Volk genauso wie Leben und Sterben Jesu am Kreuz, und so hat Paulus auch den Sinn der Taufe erklärt (Röm 6). Durch Tod und Auferstehung geht das Leben der an Jesus Glaubenden hinein in die uns allen noch unbekannte Zukunft, die Jesus in Wort und Tat für einen relativ kurzen Augenblick unserer Zeit Wirklichkeit werden ließ, Vorschein des kommenden Reiches Gottes, das Jesus verkündet hat.
7. Zur Weiterführung dieses Themas: Überlegungen zur Wahrheit des Glaubens
Der Theologe Pannenberg fordert für den christlichen wie für jeden Glauben „Allgemeinheit“, zumindest den Anspruch darauf, d.h. der Glaube darf nicht nur für mich wahr sein, seine Wahrheit sollte im Prinzip für alle Menschen einleuchtend sein, wenn er richtig dargestellt wird. Denn ohne das Bewußtsein seiner „Wahrheit“ kann der christliche Glaube (wie auch seine Verkündigung) jedenfalls seit der Neuzeit nicht bestehen. Wenn es nicht gelingt, sein „Wahrheitsrecht“ zu verteidigen, wird der christliche Glaube sogar schlimmstenfalls zu einer „Variante des Aberglaubens“ degenerieren.
Das Bemühen um die „Wahrheit des christlichen Glaubens“ (ST II 77) kann einerseits nur auf dem Boden des Menschseins erfolgen. Dabei geht es um die Frage, ob Religion unerläßlich zum Menschsein des Menschen gehört, oder im Gegenteil dazu beiträgt, den Menschen sich selber zu entfremden.
Andererseits müsse auch klar sein, daß es sich bei dieser Aufgabenstellung nicht darum handeln könne, das Menschsein als solches in den Mittelpunkt zu stellen (diese „anthropozentrische Umklammerung der Theologie“ sei unbedingt zu vermeiden), sondern es geht um Gott und inwiefern Gott für den Menschen im Mittelpunkt stehen muß, um sein wahres Menschsein zu erkennen und zu verwirklichen.
Frage: Haben wir für uns persönlich eine Antwort gefunden, warum der Glaube (an Gott) zum Menschsein gehört und nicht eine Selbsttäuschung ist?
8. Das islamische Verständnis des Unglaubens
„Alles Ungläubige. Wir dürfen sie alle töten.“ (Ein Muslim, Bruder des Mörders seiner Schwester mit Blick auf die Insassen eines S-Bahn-Wagens, aus dem Film „Nur eine Frau“ über Aynur Sürücü, Opfer eines Ehrenmordes in Berlin 2005.)
Gibt es dafür Belegstellen im Qur‘an? siehe nach unter kufr
W.M . für das Gespräch im AK am 30. 1. 2020
(Fortsetzung folgt)
Zusätzliche Literatur:
Karl-Josef Kuschel, Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch, 2017 (Kuschel)
W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 1983 ( = Anthr)
W. Pannenberg, Systematische Theologie II, 1991 (= ST II)
Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret, TB 1979 (1966) = (Paret)