Der Kambyses-Roman

 

 

Kontrafaktische historische Erzählungen in der

 jüdisch-hellenistischen Literatur

  im Blick auf den koptischen Kambyses-Roman

  

 

I. Was ist eine Erzählung?

 

1. Schematisierte Darstellung

 

Der geschichtliche Referent von x steht im Focus einer Erzählung, und zwar zunächst nur als Objekt. (Normalerweise wird allerdings eine Geschichte durch das subjektive Handeln von x, das auf ein y trifft, in Gang gesetzt!). Zum Zeitpunkt t 1 befindet sich x im Zustand A. Zum Zeitpunkt t 2 geschieht ein Ereignis E oder eine Ereigniskette E k. Folge des Ereignisses E oder E k ist, daß sich der Zustand von x verändert, so daß sich x zum Zeitpunkt t 3 im Zustand B befindet. 1

 

Ein extremes Beispiel für eine Zustandsveränderung eines (Menschen) x von A nach B ist die Bekehrung, wie sie etwa vom Apostel Paulus oder vom Propheten Muhammad berichtet wird, die durch ihren Offenbarungsempfang ein ganz neues (religiöses) Leben begannen. Ähnlich wirkungsvoll ist die Idee des Kambyses, Ägypten mittels eines Überrumpelungsmanövers zu überfallen. Dadurch werden verschiedene Aktionen ausgelöst, die zusammengenommen den Inhalt dieser Erzählung bilden 2.

 

2. Im Kern jeder Erzählung muß also aufgrund eines bestimmten Geschehens E an x eine Zustandsveränderung von A zu B erfolgen (vergleichbar dem Phänomen der Kausalität in der Physik). Natürlich kann dieses Geschehen bei einer Zugabe von anderen Elementen gleicher Art wie x nicht prinzipiell anders ablaufen: Auch diese „Individuen“ x n werden entsprechende Zustandsveränderungen erfahren.(Allerdings wird es bei Menschen zu individuell verschiedenen Reaktionen kommen können.) Die Aufgabe des Erzählers ist es, die Geschichte erzählerisch so zu gestalten, daß die einzelnen Handlungsstränge bzw. Ereignisse, die solche Zustandsveränderungen bei x bzw. x n ausgelöst haben, durch einen gemeinsamen Rahmen (Rahmenhandlung) verbunden bzw. zusammengehalten werden.  

 

3. Durch einen Einleitungsteil erhalten wir in der Regel Informationen über den Hintergrund bzw. die Situation, in der das dargestellte bzw. erzählte Geschehen mittels genauer Zeit- und Ortsangaben im „Großraum“ der Geschichte situiert wird.  Auch kann es Hinweise darauf geben, wie wichtig oder überraschend die Geschehnisse für die beteiligten x gewesen sind, eventuell auch für andere x, die davon nur gehört haben (wenn es sich bei x um Menschen handelt) und nur aus der Nichtbeteiligten-Perspektive in das Geschehen eingebunden waren (nämlich über die von ihm ausgehenden positiven oder negativen Wirkungen).  

 

4. Der Schlußteil der Erzählung pflegt die Ergebnisse dieser Veränderung festzuhalten, sei es in der Form einer „Moral“, die zu beherzigen ist, oder in Form eines bestimmten Handelns bzw. Verhaltens anderer „Individuen“, die an diesen Veränderungsvorgängen direkt oder indirekt beteiligt waren.  

 

5. Es kann nicht bestritten werden, daß dieses Erzählmuster jedem narrativen

„Text“ (egal ob oral oder schriftlich) zugrunde liegt, weil es sonst gar nichts

Wichtiges (oder Neues) zu erzählen gäbe.   

Ob die in einer Geschichte erzählten Geschehnisse der Wahrheit entsprechen, ist

für eine „gute“ Geschichte nicht entscheidend. Vor allem dann nicht, wenn sie in

sich (logisch) stimmig ist (oder zu sein scheint), also eine gewisse

Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen kann. Aber Nachfragen, bei schriftlichen

Texten auch analytische Untersuchungen des Erzählstoffes, muß sich im Prinzip

jede (geschichtliche) Erzählung gefallen lassen, egal ob sie lediglich auf eine

Pointe zielt, Verhaltensänderung bzw. Bewußtseinserweiterung anstrebt, vielleicht

sogar eine Handlungsoption als Reaktion auf eine ähnliche Situation, wie sie in der

Geschichte dargestellt ist, aufzeigen will, oder ob sie auf eine bloße Unterrichtung

über bestimmte Vorgänge (im eigenen Lebensraum) aus ist.

   

 

II. Was ist unter einer „kontrafaktischen" 3 historischen Erzählung zu verstehen? 

 

1. Darunter werden hier Erzählungen verstanden, die über Vorgänge berichten, die im Prinzip einer Überprüfung durch unabhängiges historisches Material zugänglich sind und auf das sie möglicherweise sogar Bezug genommen haben. Der Vergleich beider Größen, der erzählten Geschichte mit der ihr zugrunde liegenden historischen Geschichte, soll aufdecken, welches Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihnen besteht, eventuell auch warum eine gegebene Erzählung mehr oder weniger bewußt von der historischen (Tatsachen-) „Wahrheit“ abgewichen ist.    Dabei werden die Interessen und Motive zu erfassen und zu untersuchen sein, die die Abkehr von der realen Geschichte in Richtung auf eine fiktive Geschichte veranlaßt haben. Es muß ja wohl einen Grund haben, warum eine Geschichte gegebenenfalls entgegen der historischen Faktenlage, also „kontrafaktisch“, erzählt wurde.  

 

2. Kontrafaktizität kann im Extremfall bis zur Irrealität fortgetrieben werden, so daß der durch Namen oder besondere Anspielungen präsente historische Kontext sich in einer Erzählung bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigen kann oder völlig verfremdet erscheint. Vor allem wenn man an der Realität verzweifelt oder ihre Nachwirkungen nicht aushält, besteht die Gefahr, daß ein Phantasieprodukt, vielleicht sogar eine bloße Illusion an die Stelle des tatsächlich Erlebten oder Überlieferten tritt und dieses schöner als es tatsächlich gewesen ist darstellt und verklärt.    Oder man malt sich, wenn man von der Zukunft überhaupt noch eine Besserung der eigenen Situation erwartet, diese in leuchtend hellen Farben schön. Insofern kann Kontrafaktizität auch utopisch ausgerichtet sein.   

Eine weitere Möglichkeit, von Kontrafaktizität zu sprechen ist die, die Tiefendimensionen (den tieferen Sinn) eines Geschehens, die dem Menschen, der nur das betrachtet, was vor Augen liegt, unsichtbar sind, etwa auf der Basis einer Verheißung oder eines Versprechens zur Sprache zu bringen.

 

3. Funktionen 4 kontrafaktischer Erzählungen

 

a) Distanzierung und Entlastung von erfahrener Geschichte;  

b) Nachträgliche Erweiterung des Spielraums eigenen (subjektiven) Handelns

angesichts des Erlebnisses negativer Faktizität durch die Brutalität der Geschichte;

(was wäre gewesen, wenn ...?) 5

c) Romanhafte Aneignung und Versöhnung mit (Gewalt-)Geschichte durch

emotionale Identifikation mit ausgewählten Personen; deren Verhalten

heldenhafte Züge erhält;  

d) Geschichte (und Mythos) als Vorbild (und Motivation) für die Bewältigung der

Gegenwart und Zukunft; möglicherweise als Korrektur am bisherigen Verlauf der

Geschichte.

 

4. Was läßt sich über den Kambyses-Roman in dieser Beziehung aussagen?  

Da es keine historisch bekannte Situation im Leben des Kambyses zu geben

scheint, die der Erzählung nahekommt, muß wohl auch hier – jedoch mit welcher

Zielsetzung? – von einer „kontrafaktischen“ Erzählung ausgegangen werden.

 

 

III. Der Kambyses-„Roman“

 

1. Zustand des Werkes  

Der Roman ist leider unvollständig bzw. beschädigt überliefert worden.

Bedauerlicherweise fehlen bei diesem Roman Eingangs- und Schlußteil, so daß im

Grunde nur der Kern der Geschichte (und auch der nicht vollständig) vorhanden

ist.6

 

2. Inhaltliche Skizze (Interpretation)  

(1) Kambyses (II.), der mächtige persische König (er regiert von 530, nach

neueren Erkenntnissen: 529-522, wenn das Krönungsjahr mitgerechnet wird; 525

erobert er Ägypten), scheint enttäuscht gewesen zu sein über die negative

Reaktion der Ägypter (oder eines mit den Ägyptern verbündeten Volkes) auf sein

Angebot (Ansinnen), sich ihm in aller Freundschaft anzuschließen.

   

Nun ist er erbost und droht ihnen ziemlich unverhohlen mit dem Einsatz seiner

militärischen Macht, wenn sie nicht umgehend ihre Haltung überdenken (ändern).    

Dazu schickt Kambyses seine Boten (Botschafter) mit einem Brief zu den

Ägyptern, um sie zur Umkehr zu bewegen.   

Ihrerseits nun entsetzt über die Dreistigkeit seines Vorgehens, wollen die Ägypter

diese Boten eigentlich töten, lassen sich aber dann von einem hoch geschätzten

ägyptischen Ratgeber (Bothor) eines Besseren belehren. So lassen sie die Boten

wieder frei und machen sich daran, seinem Rat folgend, Kambyses einen Brief zu

schreiben, den nun seine Boten zu ihm bringen sollen.

Die ägyptische Seite will damit demonstrieren, daß sie sich von Kambyses nicht

erpressen läßt. Mehr noch: Sie verweist auf ihre bisherigen Erfolge im Kampf

gegen Ägyptens Feinde. Kambyses solle einsehen, daß sich ein Krieg gegen

Ägypten nicht lohnen wird. Soll heißen, wenn Kambyses es dennoch wagen sollte,

Ägypten anzugreifen, wird er auf einen Feind treffen, der gerüstet ist, um ihm

entgegenzutreten, ja zur Abschreckung wird hinzugefügt, er würde mit seinen

Mannen eine schreckliche Niederlage erleiden, sollte er an seinen Plänen

festhalten.

   

Ägypten verfolgt also – trotz seiner martialischen Rhetorik – keine aggressive,

sondern eine defensive Politik, will sich aber nicht von Kambyses'

Umarmungstaktik unter Druck setzen lassen, weil es genug Kraft besitzt, um sich

einer feindlichen Übernahme erfolgreich widersetzen zu können.    

Diese Boten überbringen daraufhin Nebukadnezar (=Kambyses) das Schreiben

der Ägypter, und nun ist es an ihm, zusammen mit seinen Ratgebern das weitere

Vorgehen zu überlegen.  

Damit geht das persisch-ägyptische Ringen um die Macht im Vorderen Orient in

die nächste Runde.  

Man denkt sich auf persischer Seite nun folgende List aus. Kambyses solle Boten

nach ganz Ägypten aussenden und diese sollen so tun, als ob sie im Namen des

Pharao und Apis, des ägyptischen Gottes, alle Ägypter zu einem großen Fest

(möglicherweise eine Art Neujahrsfest?) einladen. Sie sollen alle unbewaffnet an

einem bestimmten Treffpunkt ankommen, weil der Pharao sie dort

freundschaftlich empfangen und bewirten möchte.  

Der Plan ist: Wenn der Pharao nun sieht, daß die Menschen seines Landes, ohne

von ihm einen Befehl erhalten zu haben, dorthin unterwegs sind, werde er

einsehen müssen, daß er nicht mehr Herr im eigenen Land ist und folglich die

Herrschaft Kambyses übergeben und abtreten.  

Aber ob dieser reichlich naiv wirkende Plan in Erfüllung geht?  

Einer seiner Ratgeber scheint die Stimmung unter den Soldaten der Perser so

einzuschätzen, daß sie eher kriegsmüde sind, jedenfalls nicht daran interessiert

seien, ihre Kräfte mit den kampfstarken Ägyptern und Ägypterinnen zu messen.     

Bevor man also eine Niederlage riskiert, sollte man es mit diesem Trick

versuchen, meint dieser Ratgeber. Aber das sei eben nur ein Vorschlag.

Kambyses müsse selber urteilen und entscheiden, was besser ist. Und da

anscheinend auch Kambyses keinen Waffengang will, nimmt er diesen Vorschlag

an, und dementsprechend wird vorgegangen 7.

 

Wie der Leser schon vermuten konnte, ist dieser Trick jedoch sehr rasch

durchschaut worden. Da die Ägypter ahnten, daß hinter dieser Einladung ein

Betrug stecken könnte, haben sie erneut kompetente Personen (Magier,

Zauberer, Astrologen, also ihre „Zukunftsforscher“) um Rat gefragt und erfahren,

daß es besser sei, statt sich waffenlos an den vorher bezeichneten (?)

Sammelpunkt zu begeben, für alle Fälle die Waffen mitzunehmen, um den Persern

keine Angriffsfläche zu bieten.  

 

(2) Wie die Geschichte ausgeht, ist unbekannt. Suermann (101) glaubt, daß am

Ende der Sieg der Ägypter über die Perser gestanden haben wird.   

 

Aber warum sollte es zum Krieg kommen, wenn doch beide Seiten bis dahin durch

ihr taktisches Verhalten – trotz aller Drohgebärden – zeigen, daß sie offenbar

vermeiden wollen, daß es zum Äußersten kommt: Die Ägypter laufen nicht blind in

eine für sie aufgestellte Falle, die Perser ihrerseits überschätzen ihre militärischen

Kräfte nicht.   

So wäre von der Logik des bisherigen Geschehens aus m. E. eher zu erwarten,

daß die feindlichen Truppen unter irgendwelchen Vorwänden wieder abziehen,

wobei allerdings mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, daß die Perser sich

nur zurückziehen, um Verstärkung zu holen (obwohl wir von der Anwesenheit

einer persischen Truppe konkret bez. Größe und Art der Bewaffnung gar nichts

Genaues wissen).  

Die Klugheit auf beiden Seiten hätte damit vorerst verhindert, daß aus dem

kalten Krieg der Worte ein heißer Krieg der Waffen wird. Motto: Wenn du Frieden

willst, rüste dich zum Krieg, aber sorge dafür, daß deine Reaktion für dein

Gegenüber im Rahmen bleibt.    

Das könnte m. E. die eigentliche und überraschende Pointe dieser Erzählung

gewesen sein.

    

 

3. Deutungen 8

 

 

(1) Jansen unterscheidet eine Originalschrift, die später von einem Revisor

überarbeitet wurde 9.

 

Erstere scheint mit großem National-Stolz auf die eigene Geschichte geblickt und

in der neuerlichen Konfrontation mit den Persern darauf vertraut zu haben, daß

die Ägypter der momentanen Gefahrenlage erfolgreich begegnen können.

Letzterer sei ein Jude in ägyptischem Dienst gewesen, der die vielfältige

Verbindung der Geschichte Israels mit derjenigen Ägyptens nachträglich in den

ihm vorgegebenen Text eingearbeitet habe, a) weil es mit Ägypten immer wieder

gute Erfahrungen gemacht habe und b) weil viele jüdische Beamte wie auch

Ratgeber von einheimischen Beamten als Fremde angefeindet wurden. Somit sei

diese Schrift als eine „Propaganda“-Schrift (54) in deren Interesse zu werten.

Die ursprüngliche Zielsetzung sei jedoch nicht gänzlich getilgt worden. Auch sei

das Unterhaltungsinteresse (52) nicht zu kurz gekommen.

 

Kritik:

 

Selbst wenn der jüdische Verfasser für den ägyptischen Pharao mehr Sympathie hat als für seinen Gegenspieler, wer würde in der Gegenwart als Jude des 1. bis 6. Jhts. noch mit Stolz auf diese zurückliegende Epoche blicken? Glaubte er wirklich, daß man auf das Ägypten des Apries stolz sein könne? Soll das tatsächlich der eigentliche Skopus des Mittelteils dieser Erzählung gewesen sein? Und wer ist dann der aktuelle „Kambyses“, vor dessen Anrücken sich Juden fürchten? Gibt es eine historische Gestalt, die ihm nahe kommt? Ein Römer? Ein byzantinischer Kaiser?   Tatsächlich werden Roms Herrscher wie Augustus und Tiberius (im Aristeasbrief und bei Philo) gemeinsam mit Ptolemaios zu den vorbildlichen Herrschern  10 gerechnet. Zweifellos verschlechterte sich die Lage der Juden unter den späteren römischen Herrschern. Aber daß sie alle Caligula-Typen waren, kann man das wirklich behaupten?

Daß ein christlicher Kopte 11 Verfasser dieses Romans ist, scheint mir allerdings völlig ausgeschlossen zu sein. Selbst wenn sich diese Christen als die Erben des alten Ägypten der Pharaonen verstehen sollten, ist kaum vorstellbar, daß sie es auch nur in der Phantasie wiederzubeleben versuchen! Zwar mag man sich nach einem starken Staat zurücksehnen, wenn ein übermächtiger Feind vor den Toren steht. Aber wer will schon den Teufel mit dem Beelzebub austreiben?

Am ehesten scheint mir jemand als Autor dieser Darstellung infrage zu kommen, der (wie ein freier Schriftsteller und „Intellektueller“) freifabulieren kann und zur eigenen und zur Unterhaltung seiner Leser aufschreibt, wie die Mächtigen durch die Weisheit ihrer Ratgeber in ihrem „Tatendrang“ gezähmt und vor schweren Fehlern bewahrt werden können. Insofern könnte es sich sogar um den ambitionierten Versuch 12 gehandelt haben, zu zeigen, welche Macht der Weisheit eigen ist und wie diese Macht sogar noch über der Macht der mächtigsten Führer steht, – wenn sie sich auf diese ihre Macht einlassen. Aber ob das die Zielsetzung dieses „Romans“ war, das bleibt letztlich sein Geheimnis, denn wir wissen nicht, wie er ausgegangen ist.

Sollte also dies der Anspruch des Verfassers des Kambyses-Romans gewesen sein, dann ist hier ein einzelnes Element des (orientalisch-) hellenistischen Universalismus, nämlich die Weisheit, zum eigentlichen Führer (und Gegenspieler) der Mächtigen dieser Welt, ja zur höchsten Macht in dieser Welt „hochstilisiert“ worden 13.

 

(2) Dagegen glaubt L. MacCoull, es habe sich um eine erste Auseinandersetzung mit dem Eindringen des Islam 14 in Ägypten vonseiten christlicher (koptischer) Kreise gehandelt, wobei der Islam mit den alten nationalen Feinden Ägyptens identifiziert wurde. Die Pergamentschrift ist allerdings von Papyrologen nicht erst dem 7., sondern schon dem 6. Jht. zugeordnet worden, so daß sie nicht unmittelbar, wie MacCoull möchte, auf den Islam bezogen sein kann, schreibt Suermann (102). Daß sie im 7. und 8. Jahrhundert so verstanden wurde, ist zwar nicht ganz ausgeschlossen, aber m. E. auch nicht sehr wahrscheinlich. War sie vielleicht als eine Warnung an die Ägypter (und Kopten) konzipiert, daß in der Zukunft ganz ähnliche Gefahren lauern, wie sie Ägypten in der Vergangenheit so oft erleben mußte – und nur durch kluges Verhalten bestanden hat?

 

(3) Der Stoff wäre damit nicht unmittelbar der hellenistischen Epoche zuzuordnen 15. Es kann jedoch sein, daß wir es mit einem (spätantiken) Nachwehen aus hellenistischer Zeit zu tun haben, insofern als hier die ästhetisch-literarische 16 Beschäftigung mit vergangener, weit zurückliegender Geschichte  17 als ein Mittel betrachtet werden muß, sich der Gewalttätigkeit der Geschichte zu stellen, ohne sich von ihr überwältigen zu lassen. Man mag dieses Verfahren als Flucht vor der Gegenwart abstempeln; in Wirklichkeit bietet es die Möglichkeit, die Gegenwart im „Rückspiegel“ der Geschichte zu betrachten und so die alte Geschichte in das gegenwärtige Leben einzubeziehen.

 

(4) Erstaunlich ist jedenfalls, welche Bedeutung Beratung auf beiden politischen Seiten hat und wie interessiert die Herrschenden den Rat ihrer Berater suchen. Weisheit und Klugheit 18 dominieren das Geschehen. Jedem Handlungsschritt geht eine intensive Beratung voraus, als gäbe es bereits „thinktanks“, institutionalisierte politisch-militärische Ratgeber. Insofern macht diese Geschichte das starke (gemeinorientalische) Vertrauen auf Weisheit sichtbar.

 

(5) Bekannte Namen und Orte in der kontrafaktischen Erzählung

   

a) Namen:

Bothor ist anscheinend kein ägyptischer Name (sondern nach Jansen ein aramäischer)

Unverständliche Gleichsetzung von Kambyses und Nebukadnezar (604-562), – als Feindbilder einer so schlimm wie der andere und darum egal von wem die Rede ist?

b) Geographie:  

Daphnae (Tafnas): Nildelta-Garnison unter Psammetich I. (664-610, 26. Dynastie) erbaut,

Memphis

Ammoniter an der Nordostseite des Toten Meeres

Moabiter befinden sich an der Ostseite des Toten Meeres

Idumäer siedeln an der Westseite des Toten Meeres

 

c) Geschichte:    

Apries Pharao (regiert von 589-570; 26. Dynastie)

Sanouth

Die Gegner Assyrer oder Perser bzw. Perser=Assyrer?  

Gallier (Galater)   

Hettiter (= Kittäer nach Thissen, vgl. Richter)

Medien    

Das Land, wo die Sonne aufgeht, was für ein Land ist das? (Israel? Ägypten? Ein

anonymer Vasallenstaat?) und ähnlich bezeichnete unbekannte Länder

Inder

 

IV. Hellenismus und Judentum

1. Was ist Hellenismus?

a) J. G. Droysen versteht darunter primär die Geschichte des Orients seit bzw. nach Alexander dem Großen (356-323) und ihre Rückwirkung auf die griechische Welt. „Damit soll sie als Fortsetzung hellenischer Geschichte bezeichnet werden, aber auch der Unterschied zum Ausdruck kommen, daß die Entwicklung griechischer Kultur sich jetzt auf erweitertem Schauplatz und der breiten Basis auch nicht griechischer Völker vollzieht, daß die neue Weltlage auch das griechische Geistesleben abwandelt.“ (Wendland 37, ähnlich Hengel, Judentum, S. 2-5)

b) P. Wendland unterscheidet zwischen älterem und jüngerem Hellenismus:

 

Hellenismus (Charakter und Periodisierung)

Zur Position der älteren Hellenismus-Forschung einige Zitate von Wendland: Der eigentliche „Hellenisierungsprozeß“ habe zwar mit Alexander begonnen, sei aber von ihm nicht vollendet worden (37). Dabei ging die Einheitlichkeit, die er zu seiner Zeit besaß, später verloren.

Das „Fortwirken des Hellenismus“ nach dem Tode Alexanders müßte daher im Prinzip „für jede Nation“ extra behandelt werden (ib).

Der frühere Hellenismus ist von „kulturfreudiger Stimmung“, der spätere oder jüngere Hellenismus von „Kulturüberdruss“ gekennzeichnet (40).

Ganz generell setzt die Mehrzahl der jüngeren Forscher und Historiker (nach dem zweiten Weltkrieg) als Epoche des Hellenismus die Zeit zwischen Alexander und Augustus an (also vom Alexanderzug 334 v. Chr. bis zur Schlacht von Actium 31. v. Chr. oder mit Hengel, 4, erst „mit dem Ende der letzten hellenistischen Kleinstaaten in der Kommagene“). Es gibt aber auch abweichende Meinungen: So wird 1. als terminus a quo nicht erst die Zeit seit Alexander (so Droysen) oder seit seinem Tod angenommen, als die Diadochen das Erbe des Hellenismus antraten, sondern schon vor Alexander (um 360 meint H. Bengtson, vgl. Kieweler, S. 18) habe dieser Hellenisierungsprozeß in der ganzen damaligen Welt eingesetzt. 2. wird zum terminus ad quem die Ansicht geäußert, daß der Hellenismus überhaupt nicht zu Ende gegangen sei (so F.C. Grant, vgl. Kieweler, ib.), weil er in gewissen Formen zumindest über Augustus hinaus im ganzen römischen Reich, in Ost und West, wirksam geblieben sei, dh. nicht nur in Byzanz; darüber hinaus auch im Mittelalter, ja sogar in der Renaissance-Zeit.

 

Kritik: Damit macht man aber aus dem kulturgeschichtlich einmaligen Phänomen des Hellenismus eine unspezifische Ideologie ohne eigentliches Profil. Weltoffenheit, Universalität sind zwar wichtige Elemente des Hellenismus, die aber gerade in der Zeit der Diadochen und Epigonen immer mehr verloren gingen.

 

Was unterscheidet den älteren vom jüngeren Hellenismus?

Aufklärerische Gedanken im älteren Hellenismus verändern vielfach die religiösen Anschauungen und bringen verstärkt rationale, universelle und humanistische Tendenzen zur Geltung. Im Extremfall bleibe von der alten Religion nicht viel mehr übrig als „wenige Abstraktionen und unpersönliche Begriffsgötter“ (Wendland 123).

Die Vorstellung vom theios anär sei im älteren Hellenismus noch aus „echt griechischem Triebe“ (Heldenverehrung) hervorgegangen (106), wovon im späteren Hellenismus mit seinem Herrscherkult nicht mehr die Rede sein könne.

 

 

Jüngerer Hellenismus ab ca 200 v. Chr.

„Mit dem Niedergang des Hellenismus seit dem 2. Jht. dringen orientalische Anschauungen und Traditionen erobernd vor und werden von den Griechen angeeignet.“ (Wendland 106)

„Symptome einer rückläufigen Bewegung“ innerhalb des älteren Hellenismus und der Beginn eines neuen Hellenismus: Vordringen orientalischer Anschauungen, mystische Religiosität, Zurückdrängung des Rationalismus... (134)

 

Kurzkritik: Bei Wendland ist der Hellenismus primär verstanden als Export und Ausbreitung makedonisch-hellenischer Lebensform in das persische Weltreich und in die anderen von Alexander dem Großen eroberten Gebiete (Denken und Glauben, aber auch Technik, Militärstrategie und Verwaltung). Diese sei dann nach dem Tode Alexanders mit den einheimischen Lebensformen nach und nach verschmolzen worden. Zweifellos wirkte das Hellenentum wie ein Ferment der Umwandlung und Erneuerung dieser maroden Kulturen. Doch ist Alexander nicht bloß als Eroberer durch diese Länder gezogen, um ihnen seine Herrschaft aufzuzwingen. Die eigentliche Kunst seiner Herrschaft bestand vielmehr darin, je nach Situation die Verhältnisse neu zu ordnen: Durch den Aufbau neuer Strukturen, gegebenenfalls auch durch die gewaltsame Errichtung neuer Machtzentren gelang es ihm, die Kontrolle über die politischen Verhältnisse in diesem Riesenreich zu erlangen und bis zu seinem frühen Tod zu behalten. Von Fall zu Fall begnügte er sich auch damit, sich mit den örtlichen Machthabern zu arrangieren. So hat er ganz wesentlich zum Wieder-Erstarken der von ihm eroberten Länder beigetragen. Ob das ursprünglich von ihm intendiert war, ist eher zu bezweifeln.

Wichtig ist außerdem, daß während seiner Herrschaftszeit die olympische Religion keineswegs zum alleinigen Maßstab für Leben, Recht und Unrecht gemacht wurde, vielmehr erkannte er die dort angetroffenen Götter und Gottesvorstellungen z. T. als Verwandte oder Namensvetter der eigenen Götter an, ja setzte sie vielfach mit ihnen gleich. Er konnte freilich nicht ahnen, daß er damit in gewisser Weise sogar das Ende der olympischen Religion einleitete (und umgekehrt den Siegeszug der orientalischen Kulte im Westen).

Dazu kommt mit der Expansion des Römischen Reiches und seiner Ideale die Verlagerung des Schwergewichts griechischen Geisteslebens von Griechenland nach Rom (Poseidonios) seit der Mitte des 2. Jhts. v. Chr. (Wendland, 60). Poseidonios gilt W. sogar als „Mittler“ sowohl zwischen Griechentum und Römertum, als auch zwischen Orient und Okzident (134).

 

 

2. Erben des Hellenismus

 

Erben des Hellenismus im Orient (z. T. auch wider Willen) sind zunächst einmal die innerhalb und außerhalb der Grenzen des Alexanderreiches entstandenen Diadochen-Systeme (323-280) und deren Epigonen (280-217), die einen Hellenismus in den Farben ihrer Länder und Nationen ausprägen.

Sodann die Juden in der Diaspora und auch in Palästina selbst, soweit sie sich mit dem Phänomen des Hellenismus konfrontiert sahen oder an diesem in der einen oder anderen Weise partizipierten. Schließlich sind auch die Christen Erben des Hellenismus: Denn sie bedienten sich bis zum Mittelalter (und damit zur Formulierung der wichtigsten Dogmen der Alten Kirche) hellenistisch-philosophischer Begrifflichkeit, um den christlichen Glauben in Auseinandersetzung mit heidnischer (hellenistischer) Philosophie und konkurrierenden Heilslehren (Gnosis) zum Ausdruck zu bringen. Die besonderen Kulturschöpfungen der Christenheit, die aus ihrer Missions-tätigkeit hervorgingen, wie z. B. die Gemeindegründungen in West und Ost, aber auch die überwiegend in Koine verfaßten Schriften des NT, die ohne die Septuaginta wohl nicht zu denken sind, seien hier nur erwähnt.

 

 

2.1 Wichtige Stätten eines jüdischen Hellenismus

 

a) Alexandria

 

250 v. Chr. existiert dort eine jüdische Diasporagemeinde.

 

Die wichtigste Kulturschöpfung, die aus ihrer Mitte hervorging, ist die bereits 287-285 (unter Ptolemaios Philadelphos) erfolgte Übersetzung der Thora ins Griechische (Wendland, 196) und später die vollständige Bibelübersetzung, die sog. Septuaginta (abgeschlossen im Wesentlichen ca. 100 v. Chr., einzelnes noch später).

 

Das jüdische Schrifttum in dieser Epoche ist zumindest formal stark von hellenistischen Einflüssen geprägt, auch wenn die Inhalte im Kern überwiegend jüdischer Lehre und Sitte entstammen, wobei die Septuaginta eine wichtige literarische Quelle und Bezugsgröße bildet, in die auch viele der in jener Zeit entstandenen (apokryphen) Schriften nachträglich eingefügt wurden.

 

b) Elephantine

 

Ein anderer bedeutender Standort jüdischen Lebens in Ägypten war die Militärkolonie Elephantine in Oberägypten mit einem eigenen Tempel. Besonders was das alltägliche Leben angeht, fand sich hier viel Material.

 

2.2 Die in der Forschung lange Zeit übliche (klassische) Unterscheidung von palästin(ens)ischem und hellenistischem Judentum (Wendland, Inhaltsübersicht S. IX) ist seit M. Hengels Standardwerk, Judentum und Hellenismus von 1969, obsolet.

Denn nach seinem Urteil 19 ist auch das palästinische Judentum stark von hellenistischen Einflüssen durchsetzt gewesen, was allerdings auch früher schon ansatzweise gesehen wurde 20.

 

V. Ausgewählte jüdisch-hellenistische Schriften

 

1. 1 Aus der Vielzahl apokrypher und pseudepigrapher (nicht in den hebräischen Kanon aufgenommener, aber in der Septuaginta enthaltener) Schriften (vgl. Kautzsch und Rost) kommen in unserem Zusammenhang nur die Apokryphen Tobit, Judit, Esther (Zusätze) in Betracht 21:

1.2 Tobit: Das Buch mutet wie ein Erziehungsroman für junge Männer an: Es zeigt ein sehr enges Vater-Sohn-Verhältnis, wie man es im Judentum für ideal hielt; bietet eine lange Reise mit verschiedenen, märchenhaften bis ins Magische gehenden Erlebnissen; am Ende hat der Sohn nicht nur seinen Auftrag erfüllt, sondern kommt reich und mit einer Frau beschenkt wieder zu Hause an, wo er dem erblindeten Vater außerdem auch noch das Augenlicht zurückgeben kann; und sein geheimnisvoller Wegbegleiter, der ihn auf diesem Weg geleitet und beschützt hat, entpuppt sich zuletzt als der göttliche Engel Raphael. 22

1.3 Das Buch „Judith“ wirkt wie das Drehbuch zu einem Agentenfilm. Im Mittelpunkt steht die Jüdin

Judith, deren erotische Ausstrahlung auf Holofernes es ihr leicht macht, ihren Mordplan zu verwirklichen.

Die Erzählung zeigt Judiths wagemutige Entschlossenheit, das Gesetz des Handelns in die eigene Hand zu nehmen und so das jüdische Volk vor der drohenden Unterwerfung und Vernichtung zu retten. 23

1.4 Zu Inhalt und Umfang der Zusätze zum kanonischen Buch Esther mit seiner Völkermordthematik vgl. Rost 62f. Wir haben es mit 6 Stücken zu tun: einmal mit dem Traum des Mardochai und seiner

Deutung, zum zweiten mit dem Nachtrag zweier Erlasse des Artaxerxes, schließlich drittens mit zwei Bußgebeten (von Mardochai und Esther). Nach Eissfeldt könnten den beiden Dekreten ursprünglich

Amtsformulare der „Ptolemäer- und Seleukidenkanzlei“ vorgelegen haben. Kautzsch fragt, ob es sich bei den Zusätzen um zufällige oder absichtliche Erweiterungen der LXX gegenüber der ursprünglichen Geschichte handelt. 24

Nach Rost (64) erhöhen sie den erbaulichen Charakter des Buches. Der Verfasser gehörte wahrscheinlich zu einer Gruppe ägyptischer Diasporajuden in Jerusalem (ib).

 

2. Ergebnis

 

(1) Wir befinden uns mit der jüdisch-hellenistischen Literatur in einem geistigen Raum, in dem sich weisheitliches Denken, Geschichtsbewußtsein, Glaubenstreue, Widerstandsgeist und individueller Wagemut in immer neuen, phantastischen Kombinationen miteinander verbinden. Daraus ergeben sich neue Literaturformen 25 zwischen historischem Roman bzw. Novelle 26 und erbaulicher Legende.

Die Perspektiven auf die Geschichte der Vergangenheit wechseln, je nach dem Standpunkt des gegenwärtigen Betrachters und Erzählers. 27

 

(2) Es handelt sich nach den vorliegenden Beschreibungen bei unseren Erzählungen durch die Bank um kontrafaktische Erzählungen oder noch besser um fiktive Geschichten. (Die Angaben über die historischen Personen und die geographischen Räume sind fast immer fehlerhaft oder sogar irreführend.)

Auffällig ist: Je geringer der politische Handlungsspielraum ist, desto größer (und wichtiger) werden die Möglichkeiten des individuellen Handelns im privaten Bereich.

Das Gesetz, sei es das väterliche (Tobit), sei es der Überlebenswille des eigenen Volkes (Judith), ist der Qualitätsmaßstab für ein Leben, das sich zwischen den Polen allgemeiner Weisheit und individuellem Lebensentwurf (ohne jede Gemeinschaftsbindung) einzurichten hat.

 

(3) Die Gesamtgeschichte des Volkes Israel mit ihrem besonderen Anspruch an jeden einzelnen Juden steht nicht für sich da (Esra LXX 28, 1. Makk. 29), als eine abständige Größe der Vergangenheit. Sie bildet vielmehr wegen der Zerstreuung des Volkes Israel in aller Welt (neben der Sabbatfeier) das geistige Einheitsband und religiöse Fundament für die Lebensgeschichte jedes einzelnen Juden (oder Jüdin), auf dem er bzw. sie selbstverantwortlich weiterbauen soll. Die prekäre Lage des Judentums in der Gegenwart ist daran erkennbar, daß sich das Judesein in der Fremde nicht mehr auf gesicherten Bahnen bewegen kann und nicht selten zu einem ganz ungewöhnlichen Verhalten herausgefordert ist, wie es in den Taten der verehrten Lichtgestalten aufblitzt.

 

(4) Die Identitätsprobleme eines Judentums zwischen hellenistisch-pluralistischer Weltoffenheit und der Treue zur Tora mit ihren Abgrenzungstendenzen von der religösen („heidnischen“) Umwelt werden so auf unterschiedlichen Ebenen zur Sprache gebracht.

 

Wieviel Assimilation ist möglich bzw. erlaubt, und ab wann wird es gefährlich für die eigene religiöse Überzeugung?

 

„Hybride Identität“ 30, eine persönliche Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturräumen durch Inkulturation in synkretistischen Mischgesellschaften gab es in der hellenistischen Welt sicher oft, aber sie war dort schwer durchzuhalten, wo man die ethnischen und religiösen Grenzen betonte, wie dies im palästinischen Mutterland des Judentums mehr und mehr der Fall war.

 

VI. Schlußüberlegungen:

 

(1) Zur formalen Struktur:

Wie wir in den ersten beiden Teilen (I. und II.) erfahren haben, ist für die Erzählung einer Geschichte grundlegend, wie das betroffene Objekt x auf das Auftreten eines bestimmten Ereignisses E zum Zeitpunkt t reagiert und was sich daraus entwickelt.

Die Ägypter mit ihren Verbündeten (x) wehren sich gegen die Umarmungstaktik (E) der Perser und daraus ergibt sich für beide Seiten eine hochexplosive Bedrohungssituation, die offensichtlich jeden Augenblick in einen grausamen Krieg münden kann.

Die uns erzählten Reaktionen sind allerdings atypisch für eine „klassische“ Erzählung nach dem Schema von Danto. Denn es geht vorerst nicht um konkrete militärische Handlungen, sondern nur um das Vorbereiten oder Androhen von Handlungen. (Zuerst ist x an der Reihe, dann y und dann wieder x usw.)

Der Erzähler weiß in einer Art Simultanschaltung zu berichten, daß auf beiden Seiten fieberhaft überlegt und beraten wird, was zu tun ist: Wie der Gegner entweder zur Aufgabe seines Widerstandes oder umgekehrt zum Abzug gezwungen werden kann. Wir befinden uns also noch im Beratungszustand. Die letzte Entscheidung über Krieg oder Frieden ist noch nicht gefallen.

 

Im jetzigen, auf den Corpus reduzierten Überlieferungszustand besteht der Kambyses-Roman überwiegend nur aus der Wiedergabe eines Briefwechsels zwischen verfeindeten Herrschern, dem persischen Kambyses und dem ägyptischen Pharao Apries.

Die rein erzählerischen Zwischentexte sind lediglich Verbindungsteile zwischen den Briefen ohne tragende Bedeutung. Sie bringen die Handlung nicht wirklich voran.

Sie sind nur ein Hilfsmittel, und die Boten sind zu Briefzustellern degradiert.

 

Die formale Bedeutung des Briefes in Erzählungen aus dem jüdisch-hellenistischen Raum ist vielfältig dokumentiert.

Briefe sind nicht nur ein unentbehrliches Kommunikationsmittel über weite Strecken und Entfernungen hinweg (gewesen), sie waren insbesondere in hellenistischer Zeit eine beliebte literarische Ausdrucksform; sie stehen für direkte Rede und damit für „Authentizität“ innerhalb der Fiktion.

Auch in manchen atl. Erzählungen sind Briefe oder andere Dokumente eingeflochten. Es gibt aber keine Erzählung, deren Gerüst praktisch nur aus Briefen besteht wie der Kambyses-Roman.

 

(2) Das Fehlen von Anfangs- und Schlußteil – reiner Zufall?

 

Jüdisch-hellenistische Erzählungen scheinen immer vollständig überliefert worden zu sein. (Manche liegen allerdings in verschiedenen Fassungen vor.) Warum das ausgerechnet bei „Kambyses“ nicht der Fall ist, ist nur schwer oder gar nicht zu erklären. War es vielleicht Absicht, ihn zu verstümmeln?

Denn in einer bestimmten historischen Situation, in der Archive geplündert und Kulturschätze vernichtet zu werden pflegen, kann es durchaus nützlich sein, die eigenen literarischen Bestände auf anstößige Stellen durchzusehen und zu „reinigen“.  

Wenn es also nicht der reine Zufall oder lagerungsbedingte Textverderbnis war, dann möglicherweise (!) deswegen, weil die ursprüngliche Zielsetzung des Romans sich erledigt hatte, – wie immer sie aussah.

Oder vielleicht war sie auch inzwischen mißverständlich und kompromittierend geworden. Wir wissen ja nicht, wann Einleitung und Schluß verloren gegangen sind. Als der Roman im 6. Jht. niedergeschrieben (bzw. kopiert) worden ist, lag er sicher noch vollständig oder zumindest in einer Fassung mit Anfang und Schluß vor. Seit wann er nur noch in dieser rudimentären Form existiert, ist leider unbekannt.

 

Alles was wir heute von diesem „Roman“ lernen können ist, wie sich in der Gegenwart ein alter Konflikt vor unseren Augen neu zuspitzt und wie sich die Kontrahenten in diesem Konflikt verhalten, – ein Thema, das anscheinend von zeitloser Aktualität ist.

 

(3) „Kambyses“ – nur ein Stück ästhetischer Literatur?

 

Da wir es mit der Korrespondenz von Herrschern zu tun haben, ist zunächst festzustellen, daß beide Herrscher im Unterschied zu ptolemäischen Herrscherbildern keine Vergöttlichung erfahren, sondern im Gegenteil als sehr „menschlich“ dargestellt werden, rücksichtslos auf die Verfolgung ihrer machtpolitischen Ziele fixiert, keine Menschenopfer scheuend. Und das gilt hier doch nicht nur für Kambyses, sondern auch für den Pharao.

 

Eine solche Sichtweise dürfte insbesondere dem Herrscherbild jüdischer Gemeinschaften in Verfolgungssituationen entsprechen, auch wenn die Juden weder von Kambyses noch vom ägyptischen Pharao nur Schlechtes erfahren und berichtet haben. 31

In jüdisch-hellenistischen „Fürstenspiegeln"  32 wird zwar aus verständlichen Gründen etwas anderes von einem guten (paganen) Herrscher verlangt. Aber selbst der wird nach einer Kriegserklärung dem Gegner nicht immer mit menschlicher Nachsicht begegnen können; erst recht kein Gewaltherrscher oder Despot vom Schlage eines Kambyses. Was aber von ihm verlangt werden muß, ist eine gewisse Logik bei der Lagebeurteilung im Hinblick auf die Durchsetzung seiner politischen Ziele.

Obwohl unser Text sicher keine Passage aus einem „Fürstenspiegel“ 33 ist, so zeigt doch das Verhalten der beiden Herrscher bei der Beratung eine fast lehrbuchhafte Rationalität. 34

Selbst aggressives Verhalten muß nicht per se irrational sein. Denn es geht hier ja um Machtpolitik, die ihre eigenen Gesetze hat. Und dazu gehört zentral die Fähigkeit, den Gegner die eigene Macht spüren zu lassen (wie dies zu Beginn der Geschichte mit dem wahrscheinlich nicht ganz ehrlich gemeinten Angebot eines Freundschaftspaktes durch Kambyses geschieht).

Wie kann nun der gegnerischen Seite gezeigt werden, daß ihr aggressives Verhalten keinen Erfolg haben wird?

 Will man es nicht zum offenen Ausbruch eines Krieges kommen lassen, ist jedenfalls höchste Vorsicht geboten.

Das gilt besonders dann, wenn man selbst militärisch schwächer aufgestellt ist als der Gegner. Dann ist es nämlich notwendig, um einen zerstörerischen Krieg zu vermeiden, zuvor alle Kanäle einer diplomatischen Verständigung zu nutzen (durch Depeschen und Emissäre).

Andererseits wird jede der potentiellen Kriegsparteien dem Gegner gerne eine höhere Schlagkraft vortäuschen, als sie tatsächlich besitzt, sei es um ihn zum Nachgeben zu zwingen, sei es um ihn abzuschrecken.

Jedenfalls muß jede Seite damit rechnen, daß der Gegner den eigenen Batallionen überlegen ist.

Schreckenszahlen (oder auch nur Gerüchte) über die Kampfkraft des Gegners, die sich nicht überprüfen lassen, verstärken gleichzeitig das Interesse an der Vermeidung eines Krieges.

Im Kambyses-Roman gibt es an dieser Stelle keine weitere Eskalation. Aber da der Roman hier abbricht, ist auch nichts Sicheres über den weiteren Verlauf vorherzusagen.

 

In dieser Form könnte der Kambyses-Roman also als ein Beispiel für eine politische Situation verstanden worden sein, die aus dem Ruder zu laufen droht und in der es nur noch mit größter Mühe gelingt, den Ausbruch des Krieges zu verhindern.

 

Wir halten fest:

 

1. Kriegsspiel hat seine eigenen Regeln.

2. Der Aufbau einer Drohkulisse schließt allerdings nicht den gleichzeitigen Einbau einer Hintertüre aus,

d.h. auch in einer schier ausweglosen Situation soll und darf ein verantwortlicher Staats- und

Militärführer das Ziel der Abwendung eines Krieges nicht aufgeben, insbesondere wenn er seine

machtpolitischen Ziele durch geschickte Taktik auch ohne Krieg erreichen kann.

3. Darum ist in allen brisanten Situationen rationales Handeln notwendig.

 

 

(4) Die Frage bleibt: Krieg oder Frieden?

Kann und will der verbliebene Rest des Kambyses-Romans Hoffnung darauf machen, daß nichts

unversucht bleiben soll, um auch in einer äußerst bedrohlichen Situation die Möglichkeiten einer

Verständigung in letzter Minute zu erreichen?

Oder erscheint es nach dem bisherigen Verlauf des provokanten persischen Vorgehens als

ausgeschlossen, den Krieg noch einmal abzuwenden?

 

Bezeugt der Roman in der jetzt vorliegenden Form die Notwendigkeit, in der Gegenwart nach einer

Alternative zum Krieg zu suchen, so konnte sein Anliegen sicher auch in anderen historischen Kontexten

Gehör finden, weil die Suche nach solchen Alternativen wohl immer zur Aufgabe verantwortlicher Politik

gehört.

 

VII. Ergebnissicherung

 

A. Zum schriftstellerischen Handwerk

 

1. Die formalen und sprachlichen Besonderheiten

 

  • Briefwechsel als Stilform,

  • verschiedene linguistische Stileigentümlichkeiten (wie zum Bsp. LXX- biblische Anklänge und offensichtlich auch Anspielungen auf das Buch Judith, siehe Richter);

  • Beschreibung geschichtlicher Gestalten und ihres Verhaltens

  • in prekären Situationen (vermutlich um sich in der Gegenwart mit ihren speziellen Gefahren besser orientieren zu können), wie das auch große Teile jüdisch-hellenistischer Literatur kennzeichnet,

 

lassen sich am besten mit einer schriftstellerischen Arbeit im Umkreis jüdisch-hellenistischer Literatur erklären.

 

2. Zur inhaltlichen Darstellung 

2.1 Trotz seiner Bemühung um eine historisch und geographisch genaue Darstellung der Zeit von Kambyses und Apries scheint es dem Autor gar nicht primär um den Kambyses der Historie zu gehen, falls es den überhaupt gibt. (Deswegen sprechen wir ja auch von einer kontrafaktischen Erzählung.)

 2.2 Vielmehr gibt er uns einen Kambyses, wie er ihn sieht: der zu allen Schandtaten entschlossene Vertreter des persischen Machtanspruchs im Raum Palästina, der auch vor Ägypten nicht haltmacht und nur durch das ebenso entschlossene Verhalten des ägyptischen Pharao gestoppt werden kann.

2.3 Im Hintergrund seiner Darstellung steht also das in verschiedenen Konstellationen hautnah erlebte Ausgreifen zuerst mesopotamischer Mächte und danach der persischen Großmacht auf Ägypten.

 

2.4 In der aktuellen Situation steht das persisch-ägyptische Duell im Mittelpunkt seiner Darstellung, repräsentiert durch Kambyses und Apries, obwohl die früheren historischen Konstellationen nicht ausgeblendet werden. Dabei vermittelt die Darstellung den Eindruck, der Autor sei bei allen Gesprächen und Entscheidungen dabei gewesen und könnte den Protagonisten gewissermaßen wie ein Berichterstatter über die Schulter blicken.

2.5 Da es hierfür jedoch keine historischen Fakten gibt und er nicht auf beiden Seiten an den internen Gesprächen und Verhandlungen zugleich beteiligt gewesen sein kann, muß sich der Autor maßgeblich auf seine schriftstellerische Intuition verlassen, wobei er möglicherweise auf eigene Erfahrungen zurückgreifen kann; vielleicht hat ja er selber einmal zu einem solchen Beraterstab gehört.

2.6 Dagegen ist die negative Darstellung Kambyses' durch den Historiker Herodot dem Autor entweder nicht bekannt gewesen, was eher unwahrscheinlich ist, oder von ihm sogar bewußt abgelehnt worden.

2.7. Die Zeichnung der Herrschergestalten ist im übrigen eher säkular als religiös ausgerichtet, was mit jüdischen Vorstellungen besser in Einklang zu bringen ist als mit hellenistisch-paganen Vorstellungen zum Herrscheramt in der Zeit der Diadochen.

  

B. Der Autor

 

1. In der Tat kann es sich (so Jansen) um einen in Ägypten lebenden (Diaspora-) Juden handeln, obwohl keine spezifisch jüdische Perspektive erkennbar ist, außer den linguistischen Beziehungen (Richter).

 2. Deshalb kann man auch an einen „national“-ägyptischen Autor denken, der jüdisch-hellenistische Literatur (vor allem Judith) kennt und der in der gegenwärtigen Notlage seines Volkes das Gedächtnis an eine bestimmte Phase der ägyptischen Nationalgeschichte hochhalten will.

 3. Über die Lebenszeit des Verfassers kann aus dem Text nichts Konkretes beigesteuert werden. Der Text kann von der Spätzeit des Hellenismus an in Ägypten entstanden sein, spätestens im 5. bzw. 6. Jht. n. Chr. Ein speziell christlicher Einschlag ist dem Text nicht zu entnehmen.

 

C. Mögliche Intentionen

 

Verfolgen wir als erstes die Überlegung, dieser Text lasse erkennen, daß der Autor stolz auf die einstige weltgeschichtliche Größe und Stärke Ägyptens ist und daß es sich auch in dieser Situation bewähren wird.

1. Ist er tatsächlich stolz auf Ägyptens damalige Tapferkeit, sich dem übermächtigen Gegner nicht von vornherein geschlagen zu geben? Ganz ausgeschlossen ist das nicht.

2. Doch da man den Ausgang der Erzählung nicht kennt und der vorhandene Text in dieser Beziehung nicht genügend Material bietet, erscheint mir diese Ansicht nicht ausreichend begründet.

 

2.1 Die wenigen Gesichtspunkte, die dafür sprechen, können ebenso gut ein Zugeständnis an die Leseerwartungen ägyptischer Leser dieses „Romans“ sein; als Herold eines entstehenden ägyptischen Nationalstolzes kann man ihn jedenfalls nicht bezeichnen.

3. Wenn von Stolz die Rede sein kann, dann am ehesten in Bezug auf die Beraterstäbe, die den Verlauf des aktuellen politischen Geschehens und der Geschichte durch die bloßen Mittel der Beratung und der Vernunft beeinflussen und lenken können.

 3.1 Aber rechtfertigt diese Tendenz, von einer Propagandaschrift im Interesse und zur Verteidigung jüdischer Beamter und Berater in Ägypten zu sprechen? Wohl kaum. Denn von jüdischen Beratern kann gar nicht die Rede sein, zumindest steht hinter „Bothor“, dem einzigen namentlich bekannten Berater auf ägyptischer Seite vermutlich eine ägyptische und nicht eine aramäische Gestalt (Thissen, vgl. Richter). Aber alle etymologischen Ableitungen dieses Namens sind problematisch und spekulativ, auch wenn der Autor nach einer historischen Gestalt als Vorlage für seinen Chefberater gesucht haben mag. 

3.2 Der pikante Fall, daß nicht nur in Ägypten, sondern wahrscheinlich auch in Persien jüdische Berater tätig sind, hätte übrigens zur Folge, daß Juden gegeneinander kämpfen, um den Interessen ihrer jeweiligen Herrscher zu dienen, – ein Grund mehr, einen Krieg zu vermeiden?

4. M. E. kann die Kambyses-Schrift auch als Warnung an die Ägypter (und Kopten) konzipiert worden sein, daß in der Zukunft ganz ähnliche Gefahren lauern, wie sie Ägypten in der Vergangenheit so oft erleben mußte; und auch dann wird nur kluges Verhalten helfen, die künftigen Gefahren erfolgreich zu bestehen.

Daß hier ausdrücklich jedes Vertrauen auf Gott ausgeschlossen werden soll, wird nicht gesagt. Die Befragung magischer Zirkel durch die Bevölkerung ist zumindest noch weit verbreitet. Aber der für die Erledigung der Herrschaftsaufgaben berufene Beraterstab ist inzwischen offensichtlich das normale Mittel in einer brenzligen Situation, um die für den jeweiligen Staat besten Entscheidungen zu treffen.

 

5. Daß Juden oder christliche Kopten mit dieser Schrift eine erste Auseinandersetzung mit dem in der Mitte des 7. Jhts. ins Land eingedrungenen Islam wagen, kommt schon aus dem einen Grund nicht in Betracht, weil das Schriftmaterial (Pergament) und die Schriftzüge selbst eher aus dem 6. Jht. als aus dem 7. Jht. stammen (Richter).

 

 

D. Abschließendes Urteil

 

1. Apries ist sicher kein Herrscher, auf den man als Ägypter oder Jude besonders stolz sein kann, wenn man daran denkt, daß das Geschehen zum Teil sogar an ihm vorbei gegangen ist. Daß er einst dem Kambyses mutig entgegengetreten sein soll, obwohl das in Wirklichkeit nie der Fall war, wer kann das glauben?

 

2. Das ist nur unter der Bedingung möglich: daß die schriftstellerische Freiheit nicht als bewußte Täuschung enttarnt werden kann. Wenn ein Phantasieprodukt echt wirken soll, dann muß es mit soviel Fakten angereichert werden, daß man es jedenfalls für möglich hält, daß es so war, wie es der Verfasser suggeriert, zumal man ja das Gegenteil meistens nicht ad hoc beweisen kann. Genau das scheint der Verfasser mit seinen vielen historischen und geographischen Details beabsichtigt zu haben.

3. Aber vielleicht geht es ihm gar nicht in erster Linie um die Charaktere von Apries oder Kambyses, sondern um die Rolle und die Bedeutung der Ratgeber für beide Herrscher, Ratgeber, die in der Vergangenheit (und vermutlich auch in der Gegenwart) eine ausschlaggebende Rolle bei der Frage gespielt haben bzw. spielen, ob es zwischen den Völkern zum Krieg kommt oder ob der Friedenszustand vorläufig erhalten bleibt.

4. Man wird kaum bestreiten können, daß diese Fragestellung sowohl von einem jüdischen als auch von einem einheimischen ägyptischen Intellektuellen für interessant genug gehalten worden sein kann, um einen „Roman“ zu schreiben.

5. Allerdings wäre dann zu fragen, ob dieser „Roman“ noch zu Recht als „Kambyses“-Roman tituliert werden darf, wie es in der Forschung bis heute geschieht.

6. Eine Erzählung dieser Art hat keinen „Sitz im Leben“, weil Produkte des freien Fabulierens nicht ausschließlich in sozialen oder religiösen Interessen des Autors begründet sein können, und daß der Verfasser dieses „Romans“ einer oppositionellen Friedenspartei in Ägypten angehört und in deren Interesse schreibt, ist nicht nachweisbar.

 

 

Wolfgang Massalsky, 8. 2. 2016

 

Anmerkungsteil: 

1 Hierfür habe ich mich am Schema von A. C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, stw 1980, S. 376, orientiert; s. dazu auch K. Stierle, Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte, in: Poetik und Hermeneutik V, 347-375, bes. 352. „Geschichte wird bei Danto bestimmt als Abbildung eines Prozesses, der das Gleichgewicht eines Zustands aufhebt und über eine Folge von Veränderungen einen neuen Zustand erreicht, der sich zum ersten konträr verhält.“ Ob es immer konträre Zustände sein müssen, möchte ich jedoch bezweifeln.

2 s.u. Abschnitt III.

3 Vgl. zum Gebrauch und Verständnis des Kontrafaktischen die Stellen in Poetik und Hermeneutik X: S. 28 (2mal), 30, 34, 523 „fiktive Gegenwelt gegen die normale Alltagswelt“, 527 „Umkehrung des Realitätsbewußtsein“ (Pannenberg); 36f., 49 „kontrafaktische Unterstellung“ eines unverzerrten, idealen Diskurses (Habermas); 426 (H. R. Jauss) 494 (3mal) 495 (2mal) Kontrafaktizität ; 482 „Kontrafaktur zur existierenden Wirklichkeit“ (O. Marquard); 497ff. spricht Iser von der „Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven“ im Gegensatz zum Transzendieren des Wirklichen, bes. 500, (W. Iser).

4 Anregungen dazu entnahm ich dem Buch „Funktionen des Fiktiven“ (Poetik und Hermeneutik X).

5 Jauss (ebd.) spricht von der hellenistischen Komödie und meint: „Die erwähnten Gattungen der hellenistischen Literatur … entsprechen der negativen Bedeutung des Fiktiven als des nur Fingierten, der Phantasie Entsprungenen, schließlich auch jenes Wunderbaren…“ (op. cit. 424) Siehe zum Hellenismus allgemein und zu hellenistischer Komödie und kaiserzeitlichem Roman auch M. Fuhrmann (op. cit. 222), Stichwort „Traumfabrik“.

6 Die vorhandenen Bruchstücke (Seiten) I-XII sind erstmalig 1899 in der Fassung von H. Schäfer veröffentlicht worden. Diese Fassung wurde später von G. Möller einer textkritischen Revision unterzogen. Dabei wurden viele unlesbare Stellen durch Konjekturen besser lesbar und verstehbar gemacht. Ob sie alle richtig sind, ist allerdings zu bezweifeln (Prof. Richter mündlich). Ich benutze für meine Wiedergabe des Inhalts die im wesentlichen auf dieser Fassung beruhende Übersetzung von H. Ludin Jansen ins Englische von 1950 (und weitere Übersetzungen von Grapow und Richter).

7 Vgl. unten Anm. 18

8 Ich übergehe hier die verschiedenen Deutungen von Spiegelberg, Leipoldt, Baumstark, Steindorff, Roeder, die Jansen in seiner Untersuchung (4f.) in aller Kürze wiedergibt.

9 Vgl. Jansens These S. 33. Dieser deckt in seiner Text-Analyse des Kambyses-Romans Doppelungen und Widersprüche sowie viele historische Ungereimtheiten auf, die man nur durch die Annahme einer doppelten Zielsetzung dieses „Romans“ und damit durch einen zweiten Autor (Revisor) erklären könne.

10 De Brasi 68.

11 Obwohl Diocletian von Christen in Ägypten in späterer Zeit auch als Nebukadnezar gebrandmarkt wurde (Müller: TRE I, 520), kann die Identifikation der Kopten mit dem alten Ägypten doch kaum mehr als eine literarische Fiktion gewesen sein.

12 vielleicht sogar mit einem Schuß Humor (wenn man die Verwunderung des Pharao am Schluß bedenkt)

13 Man vergleiche dazu die Erzählung von den drei Pagen (s. u.S. 16 Anm. 24)

14 Die Vorstellung, nach erfolgter Islamisierung Ägyptens mit dem Kambyses-Roman im Tornister gegen den Islam zu Felde zu ziehen, kommt mir reichlich wirklichkeitsfremd vor, weil ein innerer Feind niemals mit einem äußeren Feind gleichgesetzt werden kann und die Auseinandersetzung mit einer fremden Religion jedenfalls nicht mit militärischen Mitteln, sondern wenn überhaupt nur mit geistigen Mitteln erfolgen kann.

15 Obwohl es einzelne Formulierungen gibt, die auch in jüdisch-hellenistischen Schriften (Tobit, Judith, 1. Makk.) vorkommen (vgl. Richter).

16 typisch dafür sind rhetorische Übertreibungen und sprachliche Stilisierungen (vgl. dazu Grapow 68f.), die dem Historiker eher fremd sind.

17 ohne Rücksicht auf Historizität

18 Und damit zeichnet uns der Kambyses-Roman ein sehr viel Kambyses-freundlicheres Bild, als es Herodot tut, der in seinem „Geschichtswerk...“ III, 36 Kambyses als massiv beratungsresistent hinge-stellt hat. Interessant ist nebenbei, daß noch Machiavelli in seinem Il Principe, XXIII, 9-14 von einem guten Fürsten erwartete, daß er Beratung nicht nur zuläßt, sondern sogar sucht. (Und das gilt doch auch für den Kambyses des Romans.) Siehe dazu Diego De Brasi unter Martina Hirschberger (Litv.) S. 54.

19 „Das gesamte Judentum ab etwa der Mitte des 3. Jhts. v. Chr. müßte im strengen Sinne als >hellenistisches Judentum< bezeichnet werden, und man sollte besser zwischen dem griechisch-sprechenden Judentum der westlichen Diaspora und dem aramäisch/hebräischsprechenden Judentum Palästinas bzw. Babyloniens unterscheiden.“ (Hengel,193; siehe auch 192, 142f.)

20 So riet hier auch Wendland zur Vorsicht: „Die aus didaktischen Rücksichten beliebte Abgrenzung der Perioden darf so wenig über den engen Zusammenhang mit der hellenischen Geschichte wie über die wesentlichen Übergänge und Unterschiede innerhalb der hellenistischen Entwicklung hinwegtäuschen.“ (37) Außerdem ändert diese Erkenntnis von Hengel nichts daran, daß es das palästinische und nicht das Diaspora-Judentum war, das zur Verteidigung der eigenen religiösen Substanz und Lebensart gegen jede Form von Assimilation an hellenistische Ideologien einen bewaffneten Kampf führte.

21 Vgl. auch Hengel 203. Er nennt ebenfalls Esther, Tobit und Judith; er weist außerdem auf die „allegorisch-romanhafte“ Erzählung von „Joseph und Aseneth“ hin (aus dem 1. Jht. v. Chr.).

22 Kautzsch Bd. I (S. 136): Keine „wirkliche Geschichte“ (Rost, 46: „legendäre Erzählung“); Zweck nach Kautzsch (ib): „Glaubensgenossen zu ermahnen und zu erbauen durch den Gedanken, daß der Fromme, der seine Frömmigkeit … bewährt, von Gott wunderbar geleitet und mit reichem Lohn bedacht wird.“ Mit Cornill und Nöldeke wird an das 2. Jhdt v. Chr. und Ägypten als Ort der Entstehung dieser Erzählung gedacht. Rost (46) denkt an 200; für ihn kommt nicht nur Ägypten, sondern auch das westliche Syrien als Heimat des Verfassers in Frage. Von besonderer Bedeutung ist der Einbau der Achiqarerzählung.

23 Den Theologen (Kautzsch 148, Rost, 41) dient das Buch Judith vor allem „der Glaubensstärkung und Erbauung der Volksgenossen des Verfassers“, wobei bei ihnen Gesetzestreue und Kampfbereitschaft vorausgesetzt wird. Daß die Geschichte trotz aller historischen Anklänge „frei erfunden“ („fingiert“) ist, zeigt sich schon daran daß der geschichtliche Holofernes nach dem Ägyptenfeldzug in seine kappadokische Satrapie zurückgekehrt und nicht von Judiths Hand gestorben ist. Auch hier kommt ein Berater (Bagoas) vor. Nebukadnezar wird fälschlicherweise den Assyrern zugeordnet. Abfassungszeit ist wahrscheinlich die Zeit der Makkabäer. Während für Kautzsch Nebukadnezar als Typ für Antiochus IV. Epiphanes steht, geht Rost nicht bis ins 2. Jht. herunter. Er nimmt die Zeit nach dem Ende der Perserherrschaft an, um 300 v. Chr. oder etwas später. (vgl auch Hengel 59)

24 Für Kautzsch (ebd. 194) ist das Buch Esther einschließlich der Zusätze ein Dokument aus einer Zeit „wo das Nationalgefühl der Juden unter dem Druck fremder Herrscher aufs tiefste verletzt wurde“. Als terminus ad quem hat die Zeit des Josephus zu gelten, genauer 30 v. Chr., in welchem Jahr die Ptolemäerherrschaft für alle Zeit ein Ende nahm (196); frühestmöglicher Zeitpunkt seiner Entstehung um 130 v. Chr. (Zeit der Makkabäer); ähnlich Rost 64, der sich dabei an den Schluß des griechischen Textes hält.

25 Hengel 204: „Das Buch Tobit ist darüberhinaus (sc. gemeint ist die Verwandtschaft mit hellenistisch-orientalischen Stoffen) mit einem älteren Typus der chokmatisch-volkstümlichen Erzählung verwandt, wie wir ihn in der Erzählung von den 3 Pagen, im Achikarroman oder in der noch älteren Josephs-Novelle finden. Selbst das Estherbuch hat als >Hofgeschichte< Anklänge in dieser Richtung.“ (vgl 58)

26 „Die Novelle, von den Israeliten zu hoher Kunst entwickelt, verdankt ihre Form dem ägyptischen Genius.“ (Williams, TRE I, S. 497)

27 Neben dieser Literatur dürfte historisch gesehen die Entdeckung der Zukunft in der Apokalyptik jener Zeit von noch größerer Tragweite für das Verhältnis zur Geschichte gewesen sein. Man kann solche Entwicklungen teilweise schon im Alten Testament aufzeigen. Sowohl romanhafte (vgl. Josephsgeschichte) als auch apokalyptische Geschichtsdarstellungen lassen sich bereits dort nachweisen.

28 Versetzt den Leser in die Zeit von Josia bis Esra. Überwiegend neu erzählte Berichte aus 2.Chr., kanon. Esra und Nehemia. Im Zentrum steht der Neuaufbau des geistlichen Lebens. Besonders eindrucksvoll ist die sekundäre, vermutlich aus dem Persien des 5. Jhts. stammende Erzählung der drei Pagen über das, was sie für das Mächtigste halten (Wahrheit), in Kap. 3, 1 – 5, 6. Das Buch ist wohl erst in der ersten Hälfte des 1. Jhts. nach Chr. entstanden.

29 Nach einem kurzen Abriß über Alexander den Großen werden die 40 Jahre von der Thronbesteigung Antiochus IV. Epiphanes, 175 v. Chr., bis zum Tode Simons des Gerechten, 135 v. Chr., in „eindrucksvollem Stil geschildert“ (Rost 56). Das Werk enthält eine Vielzahl von Reden und Dokumenten. Als Verfasser ist ein Jerusalemer Jude anzunehmen. Gesetz und Vätersitten (58) sind ihm wichtig. Während sich das Judentum der Stadt mit dem Hellenismus zu arrangieren beginnt, setzt das Landjudentum zum Widerstand an. Der Vf. zeigt damit an, was die Stunde geschlagen hat.

30 ein Ausdruck, den ich dem Internet entnommen habe

31 So in einem Schreiben der Juden von Elephantine an die Römer, wo behauptet wurde, daß nicht einmal Kambyses ihren Tempel zerstört habe, was aber gar nicht stimmte. So wollte man die Römer für sich einnehmen und großzügig stimmen. Zeitweilig haben jüdische Soldaten sogar dem Pharao (König) treu und aufopferungsvoll gedient, als ihn dessen Truppen schon längst verlassen hatten und gegen ihn revoltierten. Also selbst diesen Herrschern konnten und wollten Juden nicht immer nur Schlechtes nachsagen, zumal wenn sie sich davon einen Nutzen versprachen.

32 Vgl. De Brasi a.a.O.S. 64f, wonach im Aristeasbrief (wahrscheinlich zwischen 180 und 145 v. Chr. entstanden, vgl. 55 Anm. 16) als persönliche Herrschertugenden aufgezählt werden: Selbstbeherrschung, Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Herrschertugenden, die nicht ohne positive Folgen für die staatliche Ordnung sein können, und gegenüber der Bevölkerung: Freigebigkeit, Milde und Gleichheit, also das Bewußtsein, auch bloß ein Mensch zu sein.

33 Siehe oben S. 10 Anm. 18

34 Interessant ist die Verwunderung des Pharao am Schluß des überlieferten Textes darüber, daß seine Bevölkerung sich aus eigenem Antrieb, ohne ihn zu fragen, – wie ein Souverän – die notwendige Beratung eingeholt hat, um nichts Falsches zu tun. Weisheit und Beratung sind in Ägypten eben nicht nur das Vorrecht einer Elite, sondern in Form einer Befragung religiöser Institutionen (Orakel) zum Allgemeingut weiter Bevölkerungskreise geworden (oder schon immer gewesen).

 

Literaturverzeichnis:

 

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Hans Volker Kieweler, Ben Sira zwischen Judentum und Hellenismus, 1992 (Kieweler)

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