Paul Gerhardt

Text I

Die  Geistliche  Dichtung Paul Gerhardts

P. G. hat nicht nur geistliche Dichtung verfasst. Er hat zunächst mit weltlichen Gelegenheitsgedichten begonnen und wahrscheinlich erst nach Antritt seiner ersten Pfarrstelle in Mittenwalde (1651-1657) sich auf das systematische Verfassen geistlicher Gedichte und Lieder am Kirchenjahr entlang konzentriert. Doch ausgeschlossen ist nicht, daß er auch in seiner ersten Berliner Zeit als Hauslehrer bei der Familie Berthold (1643 bis 1651) bereits als Dichter gehaltvoller religiöser Gedichte hervorgetreten ist. Denn 1647, in der 3. Auflage des von Johann Crüger, Kantor von St. Nikolai, herausgegebenen (ersten) evangelischen Berliner Gesangbuches (das in dem kurfürstlich-reformierten Berlin bewusst ein Gesangbuch Augsburgischer Konfession sein will) ist Paul Gerhardt bereits mit 18 Liedern vertreten. Und in jeder weiteren Auflage kommen neue Lieder dazu. In (der  5. Auflage von 1653 waren es 82 Lieder, in ) der 10. Auflage von 1661 (ein Jahr vor Crügers Tod) finden sich bereits 88 Lieder. Sein Nachfolger als Kantor Johann Ebeling veröffentlicht 1666/1667 in 10 Einzellieferungen von je einem Dutzend Liedern das bis dahin bekannte geistliche Gesamtwerk von 120 Liedern unter dem Titel Pauli Gerhardti Geistliche Andachten.

Viele Lieder eignen sich in der Tat hervorragend als geistliche Besinnung für die persönliche Andacht, zumal sie wegen ihrer Länge nur selten ausgesungen werden. Doch macht es seine orthodoxe lutherische Gesinnung nicht jedem leicht, sich ihren Glaubensschatz zu erschließen. Immerhin hat ihn, was nicht allgemein bekannt ist,  auch eine so emanzipationsbewusste und traditionskritische protestantische Theologin wie Dorothee Sölle sehr geschätzt.  Von D. Bonhoeffer weiß man ja, wie sehr ihn Gerhardts Lieder in den schweren Stunden seiner Tegeler Haft trösteten. Und Albrecht Goes, ein inzwischen schon fast vergessener schwäbischer Dichterpfarrer sagte einmal von seinem Lieblingslied, dem von  Paul Gerhardt gedichteten „Ich hab in Gottes Herz und Sinn“, daß es nur wenige Texte gebe wie dieses Lied.  Denn es lasse einen, wie er meinte, „nicht im Stich, zu keiner Stunde. Man kann mit ihm leben – und sterben“. Aber gerade dieses Lied ist in den heutigen Gesangbüchern gar nicht mehr enthalten (1647; 1667).

Lieder müssen eben nicht nur gut gedichtet sein, eine tiefsinnige und zugleich eingängige Botschaft haben, sie brauchen auch eine gute Melodie, um sie der Gemeinde zumuten zu können.

Von den insgesamt knapp 140 Liedern, die Paul Gerhardt geschrieben hat, waren im EKG von Berlin-Brandenburg von 1951 noch 33 Lieder abgedruckt.

Sie gehörten damals zweifellos noch zum festen Repertoire des evangelischen Gemeindegesangs.

Einige sind inzwischen herausgenommen worden, darunter „Warum willst du draußen stehen...“ (im alten Gesangbuch Anhang Nr. 400)

Im heutigen Evangelischen Gesangbuch (von 1993) stammen immerhin noch 26 Lieder  von Paul Gerhardt, nur von Luther mit 34 übertroffen.

Text II

Fragt man, worin die Jahrhunderte überdauernde Wirkung seiner Lieder bestand, so kann man verschiedene Antworten hören.

Erstens der überaus schlichte, geradlinige Stil seiner Gedanken, der in den meisten seiner Gesangbuchlieder vorherrscht, die keine Dogmatik in Versform darbieten wollen, sondern gelebtes Leben spüren lassen, Leben mit Höhen und Tiefen, Leiden und Freuden, Angst und Schmerzen, aber auch voll Vertrauen auf Gottes gute Führung. Denn das Ich, das sich hier ausspricht, ist der im Glauben an Christus festgemachte Mensch. Der mag auf seinem Lebensweg stolpern und fallen, die Gnade Gottes bleibt doch unsichtbar über ihm.

Billig-erbauliche Sprache ist Paul Gerhardt fremd, aber erbauend, genauer aufbauend wirken seine Verse durchaus.

Vielleicht haben seine Lieder gerade darum vor allem in schweren Zeiten, wie nach dem Dreißigjährigen Krieg oder nach dem Zweiten Weltkrieg so wohltuend wirken können, gleichsam als Balsam für die zerschundene Seele.

Verseschmiede und berserkerhafte Vielschreiber gab es im Barockzeitalter zuhauf. Das wollte Paul Gerhardt, der eher Stille und Zurückhaltende, der um Ausdruck Ringende nicht sein. Der mit dem Lorbeerkranz gekrönte poeta laureatus war er jedenfalls nicht. Seine Versausbeute ist trotz der Länge seiner Lieder eher bescheiden zu nennen, wenn man ihn etwa mit dem im selben Jahr wie Paul Gerhardt geborenen Hamburger Johann Rist vergleicht, der es auf ungefähr 800 Gedichte brachte und auch heute noch durch beachtliche und gern gesungene Kirchenlieder in Erinnerung geblieben ist.

Was Paul Gerhardt zum Dichten gebracht hat, das dürfte dasselbe sein, was er in seinem Antwortbrief an eine lippische Gräfin auf ihr tröstliches Anerbieten, ihm nach seiner Absetzung als Pfarrer von St. Nikolai 1666 (durch den Großen Kurfürsten) helfen zu wollen, schrieb, nämlich daß ihm nichts fehle, wenn ihm nur auch in dieser verzweifelten Situation Gott mit seinem „Trost und seiner Freude“ beistehe. Dann sei auch alles „Kreuz und Leid“ unseres Lebens zu ertragen.

Und Schreckliches durchgemacht hat Paul Gerhardt (wie 100tausende seiner Generation) gewiß genug.

Früh verlor er die Eltern. Er war 12, als sein Vater starb, der angesehener Ackerbürger, Brauer und Bürgermeister zu Gräfenhainichen war (zwischen Wittenberg und Halle gelegen), 14 als seine Mutter starb. Die Schrecken des 30 jährigen Krieges erlebte er hautnah, als in Grimma, wo er zur Schule ging, 1626 die Pest ausbrach.

Dennoch hielt er lieber in seiner Schule aus, anstatt wie seine Mitschüler nachhause zu eilen, um von möglicher Ansteckung verschont zu bleiben, - denn  wohin hätte er auch fliehen sollen? Wo war seine Heimat? Da waren die Geschwister und eine Tante. Aber sonst?  Krieg war überall im Land! Mal die Kaiserlichen, mal die Schweden. Jahre später wurde seine Geburtsstadt Gräfenhainichen völlig verwüstet. Was sollte aus ihm werden? Welche Zukunft hatte er?

Ist es ein Zufall, daß er sich noch 1643 (36jährig) als Student der Theologie bezeichnete, die er nach seinem Abgang von Grimma ab 1626/7 in der Hochburg der Lutheraner, Wittenberg, studierte? Irgendwann ging er jedenfalls von dort ohne Abschlussexamen weg. Eine Stelle als Pfarrer zu bekommen, war offenbar für ihn fast aussichtslos in jenen Jahren. So war es für ihn sicher angenehmer, sich als Hauslehrer über Wasser halten zu können. Zuerst war er in Wittenberg und dann in Berlin wie viele andere auch als Hauslehrer tätig (wo immerhin seit 1643 ein Sonderfrieden mit den Schweden der Stadt eine ruhigere Zeit bescherte). Das war jedenfalls eine sinnvollere Aufgabe als sich ständig vor marodierenden Soldaten verstecken zu müssen.

Wertschätzung verschaffte er sich trotz seiner wenig beneidenswerten Lage als unfertiger Student in Berlin anscheinend vor allem durch seine Gedichte. Immerhin dürfte er sich dadurch einige Reputation in kirchlichen Kreisen erworben haben, Reputation, die ihn vielleicht sogar beim Konsistorium zu Berlin als einen geeigneten Mann für die frei gewordene Stelle in Mittenwalde (44jährig) empfehlen konnte, die dann tatsächlich seine erste Pfarrstelle wurde.

Abgesehen davon hatte er durch seine Hauslehrerstelle in der Familie  eines Justizrats auch ein atmosphärisch gutes Auskommen. Eine der Töchter der Familie sollte später, 1655, da war er übrigens 48 Jahre alt, seine Frau werden. Allerdings nur 13 Jahre lang.

Trotz all dem Elend, das er in seinem Leben reichlich erfahren hat, klingen seine Lieder keineswegs nur nach „Jammer und Elende“, sondern da ist immer auch noch ein anderes Grundgefühl spürbar: Neben Leid, Schuld und Tod, ist da auch viel von der Freude in Gott und auch von den Gaben, die Gott aus gütiger Hand uns zukommen lässt, die Rede. Vielleicht ist es das, was ihn uns Heutigen so unentbehrlich macht: die Erfahrung, daß Gott nicht nur zu Klage und Trauer Anlaß geben kann, sondern auch zur strahlenden Freude und zum Glücklichsein, auch wenn die äußerlichen Umstände gar nicht danach aussehen.

Aber dies nicht weil Gott unserem Schicksal immer wieder auch eine Wende zu geben vermag, sondern weil in Gottes Huld nicht nur unser irdisches, sondern auch unser ewiges Schicksal geborgen ist.

War es ihm deshalb unmöglich, in dem Streit des Kurfürsten gegen die lutherischen Pfarrer Berlins einzulenken? Konnte er sich sein Gewissen verbiegen lassen, indem er der Forderung des Kurfürsten nachgab und sich die Äußerung der von ihm erkannten Wahrheit verbieten ließ, wenn sein ewiges Seelenheil davon abhing, den rechten Glauben auch auf der Kanzel zu vertreten?

Text III

Hat Luther vor allem durch seinen Kampfesmut und durch sein Bekenntnis zur Freiheit eines Christenmenschen gewirkt, die er im Glauben an den rechtfertigenden Gott begründet sah, so ist es bei Gerhardt die  Haltung des froh seiner Wege ziehenden Christen, den auch im schlimmsten Elend nichts aus der Fassung zu bringen vermag, wenn man seine Lieder „Ist Gott für mich so trete gleich alles wider mich“ und „Befiehl du deine Wege...“ auch nicht so interpretieren darf, als hätte ihn nichts anfechten können: der Tod seiner Kinder, der Berliner Kirchenstreit, die Absetzung als Pfarrer, oder der Tod seiner Frau, sollte ihn das alles etwa kalt gelassen haben? Das Gegenteil ist richtig. Aber wo unsere Wege am Ende sind, kann Gott ganz neue eröffnen.

Ja vielleicht darf man seine Gedichte und Lieder sogar ganz generell unter das Leitbild des Weges, der Wanderschaft, der Pilgerfahrt gestellt sehen.

Kann es sein, daß das seine eigentliche Theologie ist?

Daß Leben ein Wandern ist, von morgens bis abends, von Jung bis Alt. Woche für Woche, Jahr für Jahr. Ein Wandern in der Zeit, aber mit dem Horizont der Ewigkeit über sich.

Dabei wäre auch an das "methodistisch" wirkende Erbauungsbuch von John Bunyan, Pilgrim’s Progress, Des Pilgers Fortschritt (im Glauben), zu erinnern, das zwar erst 2 Jahre nach Gerhardts Tod (in Lübben 1676) erschienen ist, aber es zeigt doch, wonach sich die Menschen jener Zeit sehnten, ob allerdings messbare Fortschritte auch in Glaubensangelegenheiten gefordert werden können? Für Paul Gerhardt gehören jedenfalls auch Ruhephasen, Stille, dankbares Genießen der Schöpfung Gottes zur theologia viatorum dazu.

Leben als Wandern.

Daß Reisen zum Hobby, ja zum Lebensinhalt werden kann, wissen auch heute viele Touristen und Globetrotter zu berichten.

Hape Kerkeling hat mit seinem Tagebuch von seiner Pilgerreise nach Santiago di Copostela kürzlich einen Sensationserfolg erzielt. Leben muß doch noch etwas anderes sein, als Spaß haben wollen, oder anders gesagt, der Spaßvogel entpuppt sich wie so oft auch hier als ein Suchender, ein Wanderer, der Zeit gewinnen will, versäumte Zeit nachholen will: auf dem Weg zu sich selbst.

Leben als Wandern im religiösen Sinne umfaßt die Erkenntnis, daß Leben ein Ziel hat, wie bei touristischen Erkundungsgängen in freier Landschaft oft sogar ein überraschendes, unerwartet beglückendes.

Wandern steht aber auch für die Erfahrung der Fremde, das Ausgesetztsein, die Heimatlosigkeit.

Wir sind unterwegs wie Reisende, heißt es im Hebr 13. Denn wir haben hier keine feste Heimstatt. Wir sind Suchende. Heimat bietet nur die Stadt jenseits unserer Zelte, nach der wir uns sehnen und die wir doch immer nur in dieser Welt suchen können, jeden Tag neu. Die Christenleute – ein wanderndes Gottesvolk.

[Auch „Wandel durch Handel“ bekommt unter diesem Aspekt einen neuen Sinn: Sind Kaufleute nicht auch auf ihre Weise Wanderer? Ebeling, der Herausgeber sämtlicher damals bekannter Paul-Gerhardt-Lieder muß das gewusst haben, als er sich 1667 in seinem Liederbuch gesondert an die Kauf- und Handelsleute wandte und sie als „Pilgrams und Wandersleute“ anredete. Sie sind doch ständig unterwegs, um Länder und Kontinente mit ihren Waren zu verbinden. Aber wissen sie auch von der zukünftigen Stadt? Der Stadt, die nicht Babylon, sondern das Neue Jerusalem heißt?]

Auf diesem Weg zu der zukünftigen Stadt wollen die Lieder Paul Gerhardts uns begleiten, Mutmacher und Angstlöser in einem, für die einen Wasser am Wegesrand, aus den Quellen des biblischen Wortes gespeist, für die andern Licht, das auch an dunklen Tagen leuchtet.

Wolfgang Massalsky, 12. 6. 2007
zum Paul-Gerhardt-Abend

 

Lit.: Christian Bunners, Paul Gerhardt. Weg - Werk - Wirkung, 2006