Europa und der Orient

 

Europa und die Orientmoden

 

I. Gedanken und Assoziationen zum Einstieg in das Thema

 

1.1 Wo begegnete ich zum ersten Mal dem Orient? Vermutlich durch Karl Mays Kara-Ben-Nemsi-Geschichten, „1001 Nacht“ und Begriffe wie Orientteppich, Türkischer Honig, Türkenmärkte, den Film „Orientexpress“, ferner durch die Namen arabischer Könige wie Faruk oder Feisal,  den Schah Reza Pahlevi, oder Staatschefs wie z. B. Nasser oder Ben Bella (Algerienkrieg). Später durch Reiseberichte über die Verhältnisse in diesen Ländern, in Berlin durch einen Scheich, der in seiner Wohnung eine Moschee „betrieb“ und andere Hinterhof-Moscheen, durch Gespräche mit Menschen in unserer Nachbarschaft. Dazu kommt meine zeitweilige Mitarbeit im ZID in unserem Stadtteil Moabit/Tiergarten. Seltener durch die Orientabteilungen in den Museen und Universitätseinrichtungen.

1.2 Darüber hinaus war dieser Begriff früher häufig mit Assoziationen verbunden wie:

Basar, Feilschen, Harem, Despotie, Salome, verschwenderischer Luxus, Prachtbauten, mondäne Reiche, unsagbare Armut und ländliche Zurück-gebliebenheit, urbane Buntheit und chaotische Lebensverhältnisse, keine ausreichende Infrastruktur, Moscheen, Inschallah, Kismet. Gewürze wie Weihrauch, besondere Stoffe wie Seide, gutes Essen, aber auch Blutrache.

1.3 Aber es gibt auch eine positive geschichtliche Erinnerung, (von persönlichen Freundschaften und West-Ost-Ehen ganz abgesehen, wenn sie gut ausgehen):

Treue Verbündete: die Türken hielten die Dardanellen (1915)!

1.4 Was steht in den heutigen Diskursen im Vordergrund?

Arabellion“ als Frage danach, ob es eine kulturell (oder gar religiös) bedingte Unfähigkeit gibt, Demokratie zu verwirklichen (vgl. Syrien-Bürgerkrieg). Ägyptens Niederschlagung der von den Muslim-Brüdern gestellten Regierung als einziger Ausweg aus der drohenden Islamisierung? Das ungelöste Problem des von Anfang an schwelenden, unversöhnlichen Gegensatzes zwischen Sunniten und Schiiten (nicht nur im Irak). Die permanente Anwendung von Gewalt, um ein politisches Problem zu lösen. Korruption als Bakschisch?

1.5 Interessanterweise ist der Orient für viele zunächst nicht gleichbedeutend mit Islam!

 

2. Was ist der Orient für den Durchschnittseuropäer?

2.1 einerseits beliebtes Reiseziel,

etwas Exotisches. Wieviel Orientreisende pro Jahr gibt es? (Statistiken?) Welches sind die bevorzugten Reiseländer: Ägypten, Israel (Heiliges Land), Tunesien, Marokko.

Typische Empfindung eines Gruppenteilnehmers beim Anblick eines Hirten mit einer Schafherde: man fühle sich nostalgisch in die Zeit Abrahams versetzt, biblische Zeiten, die Zurückgebliebenheit gegenüber dem modernen durchindustrialisierten Westen wird nicht nur mit Erschrecken wahrgenommen, sondern auch mit Befriedigung, weil man sich so besser in die alten Zeiten hineinversetzen kann.

2.2 andererseits mit unterschwelliger Angst1 besetzt:

der Orient birgt für Europäer ein Bedrohungspotential: Islam, Gewalt, Krieg, Eroberungen,

traumatische Begegnungen mit Orientalen: die lange Besetzung Süd-Spaniens, der Kampf gegen die vorrückenden Muslimischen Armeen im Süden Frankreichs, in den großen Epen wie das Rolandslied besungen, die Mongolen im Mittelalter, die Schlacht auf dem Amselfeld im Balkan, die Türken vor Wien, „Nine eleven“ 2001: die Flugzeugattentate in Amerika mit rund 3000 Toten, Selbstmordattentate, Ehrenmorde.

 

3.1 das Gegenstück dazu sind für die Menschen der Levante die mittelalterlichen Kreuzzüge!

3.2 die dann in manchen geschichtlichen Darstellungen ihre „Fortsetzung“ im Kolonialismus und seinen Folgen fanden, und heute sieht man die Interventionskriege der Amerikaner und der NATO in Afghanistan und Irak in der gleichen „Tradition“, weil es ja doch in erster Linie um die Sicherung westlicher Interessen (Sicherheit und Ökonomie) geht.

 

4. Was ist die Hauptkritik am westlichen Umgang mit dem Orient?

4.1 seitens arabischer Kritiker: Die schablonenhafte Gegenüberstellung von: „aufgeklärter“ Westen und „mysteriöser“ Orient, wobei man in der Beschreibung des Orients immer wieder einen imperial-kolonialistischen Unterton heraushören könne.

4.2 Manche Selbstkritik ist allerdings zu pauschal, so wenn der Westen für alle Übel des Orients verantwortlich gemacht werde (U. Steinbach).

4.3 Die typischen Schlagworte einer deutschen Sicht (während des 2. Weltkriegs) auf den sich zu seinem Nachteil verändernden (Vorderen) Orient unter britischem Einfluß liefert folgendes längere Zitat:

 

Heute dürfte es kaum einen aufmerksamen Beobachter des Zeitgeschehens geben, der nicht wüßte oder zumindest ahnte, daß es innerhalb dieses 'Zwischenkontinents' [gemeint ist Ägypten] neben der für ihn so charakteristischen Welt der Basare und der verschleierten Frauen, der Welt der geheimnisumwobenen Haremsgemächer und der alten Ziehbrunnen, der Minarette und der fast mittelalterlich anmutenden engen Gäßchen eine von dieser ganz verschiedene Welt gibt, die das heutige Wesen des Orients nicht weniger tiefgreifend bestimmt, wie jene frühere die vorausgegangenen Jahrhunderte bestimmte.

Im Mittelpunkt dieser anderen Welt stehen auch ganz andere Dinge, die der Mensch dieser Breiten selbst heute noch in sein begrenztes 'Weltbild' kaum einzuordnen vermag. Hier geht es um teilweise sehr reale beziehungsweise schon weitgehend verwirklichte Machtgedanken und Machtansprüche, um Großmachtinteressen, aber auch Großmachtgegensätze, um Fragen des Welthandels und der Weltmärkte, um Währungspläne und Zollprobleme, um transkontinentale Luftverkehrslinien und gigantische Bauprojekte, um Kriegs- und Round-Table-Konferenzen und nicht zuletzt um Baumwolle und Erdöl – eine Welt, die so ganz anders ist als jene, die wir aus den unvergeßlichen Märchen von 'Eintausendundeiner Nacht' zu kennen vermeinen. Überall, wohin wir auch blicken mögen, tritt uns dieses 'andere' Gesicht des Orients entgegen. Aber nirgendwo wird es uns so sinnfällig bewußt wie gerade in Ägyptens Hauptstadt. Heute ist Kairo nicht nur ein bedeutsamer Mittelpunkt der ganzen arabischen und islamischen Welt, der seit langem mit dem Namen der Universität und Moschee von El Azhar verbunden ist, sondern zugleich das wichtigste und stärkste Zentrum britischer Machtentfaltung in dem ganzen weiten Raum zwischen Mittelländischem und Kaspischem Meer, zwischen der Westküste Afrikas und den Höhenrücken des Hindukusch.“ 2

 

4.4 Heute ist es weithin Konsens, daß man die alten (kulturalistischen) Denk-Klischees zu überwinden habe, die auch von der seriösen Wissenschaft verbreitet wurden:

z.B. Kapitalismus ist asketisch und produktiv, Orient sinnlich und unproduktiv (so der Soziologe Max Weber)

4.5 Oder die Behauptung, dem Orient fehle es an Vernunft3,

4.6 Vielfach diente solche Wissenschaft der Absicherung der im Spiegel des Orientalismus gefällten Urteile des Westens über den Orient

 

 

II. Analyse des Orientalismus

 

1. Welches Gebiet ist gemeint?

1.1 Welcher geographische Raum ist mit dem Begriff Orient gemeint?4

Alles zwischen Nordafrika, also Marokko im Westen und Indien sowie China im Fernen Osten5, d.h. vor allem Naher Osten und Vorderer Orient bis hinunter nach Jemen. Weniger das islamisierte Afrika südl. der Sahelzone. Gehören die Kaukasus-Republiken dazu, der Balkan, solange er unter osmanischer Herrschaft stand? Im Prinzip schon, aber die Orientomanie im hier gemeinten Sinne beschränkt sich auf die Gebiete, die bereits im 19. Jht. durch die europäischen Westmächte erschlossen und wo inzwischen politische, diplomatische und militärische Beziehungen etabliert waren.

1.2 Geographisch und geopolitisch gehört also Ostasien nicht mehr dazu, obwohl an manchen deutschen Fürstenhöfen sich Chinoiserien großer Beliebtheit erfreuten (z.B. in Dresden). Aber der sog. „Orientalismus“ bezieht sich im allgemeinen doch mehr auf den arabisch-osmanischen Raum (einschließlich der Türkei, Persien und Nordafrika) mit seinen für typisch orientalisch gehaltenen Lebensverhältnissen oder Erzeugnissen.

 

2. These von Edward Said

 

2.1 Der Orient als Modeerscheinung oder „Orientalismus“. Was ist darunter zu verstehen? Ein bedeutender amerikanisch-arabischer Theoretiker, der über diesen Begriff ein ganzes Buch geschrieben hat, definiert Orientalismus folgendermaßen6: „... the corporate institution for dealing with the Orient – dealing with it by making statements about it, authorizing views of it, describing it, by teaching it, settling it, ruling over it: in short, Orientalism as a Western style for dominating, restructuring, and having authority over the Orient … European culture gained in strength and identity by setting itself off against the Orient as a sort of surrogate and even underground self...“ (Edward Said)

2.2 Saids These erfuhr nach ihrer Veröffentlichung erhebliche Kritik wegen seines sehr selektiven Blicks auf das westliche Orientbild7, das wichtige Faktoren wie z. B. die Bibel oder die Klassiker, ja selbst wichtige orientalische Erzählungen ignorierte. Dennoch stellt auch heute noch sein Buch eine wichtige Orientierungsmarke für die Darstellung des Verhältnisses zwischen West und Ost dar.

 

3. Differenzierung zwischen Realität und Ideologie

 

3.1 Es handelt sich also nach der These von Said beim „Orientalismus“ nicht bloß um eine Schwärmerei für den Orient oder um eine Art Haßliebe, wie sie manchen Orientreisenden in der Vergangenheit (und Gegenwart) befallen hat, sondern um einen Mißbrauch des Orients für eigene, politisch selbstsüchtige Zwecke8 in großem Maßstab.

In der Tat, daß es in Europa im (späten) 19. Jht. nicht nur eine Besorgnis ausdrückende Kritik am sozialen und wirtschaftlichen Zustand des Orients gab, sondern vielfach auch eine sehr einseitige Kritik an ihm geübt wurde, die aus einem überzogenen Fortschrittsbegriff abgeleitet war und die ihn als modernisierungsunfähig betrachtete, braucht nicht geleugnet zu werden. Aber ist sie dadurch schon falsch, daß sie von einer Position falscher Überlegenheit aus geäußert wurde? Sicher nicht! Substantielle Kritik ist auch im Orient gehört und diskutiert worden, soweit eine offene Diskussion unter den Argusaugen der Religionsführer überhaupt möglich war. Und ohne solche Kritik und ihre Wirkung auf die nachdenklicheren Kreise hätte es wahrscheinlich auch nicht das Reformwerk des Staatsgründers Atatürk in der Türkei gegeben – oder es wäre kläglich gescheitert! Bedauerlicherweise hat es allerdings kein orientalischer Staat bis heute zu einer funktionierenden Gewaltenteilung gebracht!

Eine dauerhaft positive Entwicklung im Miteinander von Europäern und Orientalen kann es jedenfalls nur geben, wenn es dem Islam in Europa gelingt, stärkere Beiträge zur Aussöhnung des traditionellen Islam mit Demokratie und Moderne zu leisten, als dies bisher der Fall ist.

3.1.1 Der „Orientalismus“ kann zweifellos auch als Zerrbild verstanden werden, das von Politik, Medien und Touristen, aber auch Forschung und Literatur produziert wird, meist in Verbindung mit besonderen geistigen Trends allgemeinerer Art, Zerrbild deshalb, weil die realen Gegensätze und Probleme zwischen den beiden Kulturen dadurch ideologisch überhöht oder durch eine ästhetische Bildersprache ersetzt werden, statt sie expressis verbis zur Sprache zu bringen.

3.1.2 In einer solchen Beziehung kann es offenbar keine echten Gefühle gegenseitiger Zuneigung geben, sondern nur Klischees.

3.1.3 Der europäische „Orientalismus“ bildet daher ein Grundmuster in der Beziehung zwischen kulturell sehr verschieden geprägten Erdteilen ab. Darin spiegeln sich sowohl die ins Mythische gesteigerten Erfahrungen aus mit- und gegeneinander geführten Kriegen9 als auch die Erfahrungen aus den Zeiten des Kolonialismus10.

3.1.4 Noch verheerender aber scheinen sich in dieser Beziehung – paradoxerweise – die in der zweiten Hälfte des 20. Jhts. von Europa ausgehenden oder von hier inspirierten Aufbauleistungen im „Orient“ selbst auszuwirken, die dort seit langem das Gefühl aufkommen lassen, in eine neue (primär technologisch-wirtschaftliche) Abhängigkeit vom Westen zu geraten, die deswegen noch verheerender ist, weil die eigene, Jahrhunderte alte Identität verloren zu gehen droht, wenn durch die moderne Zivilisation das traditionelle Zusammenleben in diesen Ländern zerstört und die eigene Kultur überfremdet und entwertet wird.

3.1.5 Der Zusammenprall11 dieser beiden Kulturen im Orient (oder woimmer muslimische Gemeinschaften in einer prekären Lage sind) hat vermutlich sehr viel zur Schaffung eines militanten Fundamentalismus beigetragen.

 

4. „Orientalismus“ als Wahrnehmungsproblem

 

4.1 Einerseits fühlen sich also viele Menschen im Westen durch den Orient stark angezogen, allerdings oft ohne genau zu wissen, warum oder was sie dort suchen außer der Besichtigung der Pyramiden oder ähnlicher Kulturdenkmäler, andererseits erleben sie besonders heute in diesen Ländern nicht selten eine heftige Abstoßungsreaktion12 gegen alles Westliche (man denke nur an „Sekten“ wie Boko Haram), obwohl ja Touristen wegen des Geschäftes in den meisten Zentren des Orients dringend erwünscht sind.

4.2 Umgekehrt gibt es in Frankreich oder Deutschland für die vielen Ausländer aus dem Maghreb oder der Türkei eine ähnliche Situation: Bewunderung für das Land, in dem sie angekommen sind und Verachtung seiner „Dekadenz“. Wegen ihres oft ungeklärten Status ist es Traumland und Asylantenheim zugleich. Man ist voller Hoffnung auf ein anderes und besseres Leben, aber ebenso auch von Angst erfüllt vor einer Zwangs-Anpassung, die zum Verlust der eigenen Lebensart führt. Was sie also erwartet, wenn sie hier ankommen, ist Erlösung aus dem Elend wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und "Versklavung" durch Integration in einem, wie sie glauben.

4.3 Viele kulturell engagierte Beobachter sind davon überzeugt (darin E. Said teilweise Recht gebend), daß man diese seltsam spannungsvolle Beziehung zwischen dem Westen und dem Orient nur in politisch-ökonomischen Kategorien erklären kann. Obwohl der Kolonialismus längst vorbei ist und der Orient sein Schicksal selbst bestimmt, handle es sich noch immer um eine Beziehung, die nicht auf gegenseitiger Anerkennung und Gleichberechtigung oder gar Freundschaft beruht, sondern (ähnlich wie in der Kolonialzeit, wo die Beziehungen stark von der westlichen Vorstellung kultureller und politischer Überlegenheit und davon abgeleiteter Ausbeutung und Unterwerfung geprägt waren) um eine primär auf Machtpolitik, Geschäftsinteressen und Gewinne begründete Zusammenarbeit, auf ein gegenseitiges Nehmen (Dollar) und Geben (Öl), – nicht auf gemeinsamen Werten. Also ein Beziehungsdrama zweier sehr ungleicher Partner, die ihrerseits nicht durch Zufall in dieser „Kohabitation“ auf Gedeih und Verderb zusammengespannt sind, sondern durch Migrationsbewegungen, die das wirtschaftliche Gefälle zwischen Nord und Süd ausgelöst hat.

 

5. Das Interesse am Orient im Wandel der Zeiten

 

5.1 Daß die europäische Romantik im 19. Jht. angesichts der alle Lebensbereiche verändernden und umgestaltenden technischen Industrialisierung bei ihrer Fluchtsuche (Eskapismus) nach einer geheimnisvolleren Welt, als es die industrialisierte Massengesellschaft war, dem Zauber des Orients13 erlag, versteht sich wie von selbst.

5.2 Daß aber der Orient bereits im 18. Jahrhundert als Ausgangspunkt und sogar als positives Gegenbild für Kritik an den Zuständen im eigenen (europäischen) Land genommen werden konnte, ist eher erklärungsbedürftig. Denn es gab ja viel zu wenig kulturellen Austausch zwischen Okzident und Orient, um sich ein zuverlässiges Bild von den Realitäten in dieser exotischen Welt zu machen.

5.3 Zwar gab es im Europa des 18. Jhts. durchaus beklagenswerte gesellschaftliche Mißstände der „unteren Stände“, die mit der Ausrufung des individuellen pursuit of happiness (1776) und von allgemeinen Menschenrechten nur schlecht zusammenpaßten, aber diese Mißstände waren nicht mit der Verelendung der Massen aufgrund der Industrialisierung im Laufe des 19. Jhts. gleichzusetzen.

5.4 Andererseits hat man schon immer gerne in fremden Ländern nach besseren Gesellschaftsmodellen Ausschau gehalten. Man mußte dazu nicht erst warten, bis die eigenen Lebensverhältnisse unerträglich waren.

5.5 Aber ausgerechnet im damaligen Orient nach gesellschaftlichen Alternativen zu suchen, erscheint doch sehr befremdlich. Vielleicht entsprang die Beschäftigung mit dem Orient im 18. Jht. doch mehr einem künstlerischen Spiel als einer realutopischen Idee14? Woher kommt plötzlich diese Wandlung in der Einstellung zum Orient, wie man sie auch bei Lessing im „Nathan“ finden kann?

5.6 Das Gegenteil war ja lange Zeit gültig, nämlich daß „orientalischer Despotismus“15 höchstens im zaristischen Rußland oder von einzelnen ostelbisch-preußischen Junkern nachgeahmt wurde, aber kein Vorbild für den Westen darstelle, jedenfalls nicht für seine älteste Demokratie England (seit dem 17.) und die französische Revolution von 1789.

5.7 Genau das verrät auch die Bezugnahme von Hobbes auf die mythischen Ur- und Untiere „Leviathan“ (1651) und „Behemoth“ (1681 posthum), von denen die Bibel berichtet. Sie sind offenbar im orientalischen Raum angesiedelt. Beide drücken bei Hobbes auf je ihre Weise extreme staatliche und gesellschaftliche Situationen aus: im Bild des „Leviathan“ das Gewaltmonopol des Staates (!) und den permanenten Bürgerkrieg als „Naturzustand“ mit Gesetzlosigkeit, Chaos und Selbstzerstörung im Bild des „Behemoth“. So ist noch im 17. Jht. vom Orient die Rede gewesen16. Also woher kommt knapp 100 Jahre später das so viel positivere Bild des Orients (wenn nicht als Bedürfnis nach ästhetischer Inszenierung und Dekoration)?  Dabei muß man sicher auch die unterschiedliche Entwicklung in Frankreich und Deutschland im Auge behalten. Es wird kein Zufall sein, daß man in Frankreich mehr an Gesellschaft und Politik, an Lebensformen und Mode interessiert war, in Deutschland dagegen vornehmlich an Religion und Toleranz zwischen den Religionen.

 

6. Zwei Modelle der Rezeption des Orients im Westen

 

6.1 Weil der gesellschaftliche Entwicklungsstand in den europäischen Kernländern Frankreich und Deutschland (von England ganz zu schweigen) in diesen Jahrhunderten völlig verschieden war, war hier auch die Auseinandersetzung mit dem Orient sehr verschieden. Immerhin unterhielt Frankreich zum Orient seit Napoleons Ägyptenreise sehr enge Beziehungen, was den Deutschen wegen des Fehlens eines einheitlichen Staatswesens erst sehr viel später gelang. Dafür entwickelten sich die Beziehungen Deutschlands zum Orient im 19. Jht. viel weniger kolonialistisch oder kulturimperialistisch aufgeladen als die Frankreichs oder Englands. Man wollte die dortige Kultur erforschen, die ja ganz wesentlich zu den Grundlagen der christlich-abendländisch-antiken Kultur gehört (Schlagwort „Babel und Bibel“), spezielle kolonialistische Interessen hatte man dort nicht.

6.2 Ein weiterer Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland: Während sich Frankreich (in seinen Forschungsinstituten) zumindest im 20. Jht. mehr und mehr der Gegenwart des Orients annäherte, blieb das Orientbild der Deutschen lange Zeit rückwärtsgewandt vom orientalisch überladenen und verfremdeten Griechentum des Hellenismus geprägt – was dann zu dem Schluß führte, daß es der Einfluß des Orient ist, das Maßvolle zum Maßlosen zu deformieren – , um sich dann den noch älteren Kulturen des orientalischen Raums zuzuwenden. Beherrschte hier zunächst die Philologie das Orientbild, so später vor allem die Archäologie mit ihren bedeutenden Ausgrabungsfunden. Die Wahrheit über die altorientalischen Denkmäler schien wichtiger zu sein als die politische und gesellschaftliche Gegenwart, für die man in Deutschland nur während der wilhelminischen Kaiserzeit ein kurzlebiges Interesse (Bagdadbahn) fand. Allerdings bemühte man sich während der Nazizeit über die Fortsetzung der begonnenen wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit arabischen Institutionen hinaus auch politisch um engere Beziehungen zwischen deutschen Stellen und den arabischen Führern, was z. T. auch mit dem gemeinsam gepflegten Antisemitismus zusammenhing (so mit dem damaligen Großmufti von Jerusalem Amin el-Husseini).

 

 

III. Beispiele

 

a) allgemein

 

1.1 Die älteren Orientbilder bis an die Schwelle zur Neuzeit17 zeigen sowohl positive als auch negative Züge, wobei der Kampf Karl Martells gegen die Truppen des muslimischen Statthalters Abd ar-Rahman oder später die Abwehr der türkischen Belagerung Wiens 1529 und 1683 sicher für lange Zeit zu den Schlüsselerfahrungen des Okzidents gegenüber dem Orient gehörten und in jeder Schulfibel auftauchten. Aber dazwischen lagen auch andere Zeiten, in denen immer wieder neue Erfahrungen über den Orient in das kollektive Bewußtsein eingetragen wurden, so daß man insgesamt keineswegs von einer ideologischen Fixiertheit auf ein bestimmtes Bild Europas vom Orient sprechen muß.

So gab es im MA auch einen unbefangenen Austausch über arabische Philosophie und Metaphysik (Averroes). Und ohne die Vermittlerdienste arabischer und jüdischer Gelehrter wäre zu jener Zeit manches griechische Erbe in Europa unentdeckt geblieben. Über die Aufgeschlossenheit der Renaissance-Kultur für alles Fremde und Ferne auch in seiner Ambivalenz, braucht man gar kein Wort zu verlieren.

Den Denkern der frühen Neuzeit wie Hobbes waren allerdings auch andere Seiten des Orientalischen bewußt geworden, wie z. B. die Brutalität herrscherlicher Gewalt, freilich ohne daß daraus eine totale Abwertung dieser Welt resultierte. Im Gegenteil das Spiel der schönen Künste mit den Vexierbildern orientalisch bunten Lebens, das nur scheinbar nichts von Moral und Tugend versteht, wurde vor allem im 18. Jht. von einem großen Teil des bürgerlichen Publikums sehr geschätzt.

1.2 Insgesamt zeigen uns diese älteren Orientbilder also ein eher positives und ausgewogenes Orientbild der Europäer trotz aller dunklen Erfahrungen (zu denen aber auch die Kreuzzüge gehören), bevor es durch den kulturellen Überlegenheitsdünkel des 19. Jht. mit seiner Wissenschaftsgläubigkeit (Positivismus) nachhaltig verändert wird, u.z. dahingehend, daß der Niedergang des Orients unaufhaltsam sei, ja daß sein Ende bereits in Sicht ist. Nur noch als Traumbild, als Erinnerung an längst vergangene Tage bleibt der Orient gegenwärtig. Doch fehlt diesem Bild jede echte Gegenständlichkeit, so daß es (im Rückblick) wie eine Fata Morgana wirkt, eine Projektionsfläche für die eigenen fin-de-siècle-Gefühle.

Bevor es jedoch dazu kam, zeigte uns das 18. Jht. den Orient noch einmal in seinen schönsten Farben, deren Leuchtkraft auch das politische und religiöse Leben des Orients in einem günstigen Licht erscheinen ließen.

 

b) speziell (18. Jht.)

 

2. Montesquieu18, Lettres persanes, 1721

 

In Montesquieus „Persischen Briefen“ werden die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Zustände Frankreichs aus dem Blickwinkel einer fremden Kultur als teilweise sehr skurril geschildert.

Inhaltlich handelt es sich um einen (fingierten) Briefwechsel zweier Reisender aus dem Orient (Persien), die Frankreich und Paris anders als die normalen Bürger erleben und nach Hause schreiben, was sie an Merkwürdigkeiten beobachten.

Als Reisebericht fremder Besucher getarnt (Fiktion), konnte man sich als Verfasser eher sonst nicht erlaubte Kritik leisten (wobei das Buch sicherheitshalber anonym erschien) und alles von der Seele schreiben, was einem am eigenen Land nicht paßte.

Deswegen war dieses Genre sehr beliebt. Schon früher erschienen in Frankreich Schriften dieser Art. Das ideelle Modell für diesen Typ Literatur hatte Jean-Paul Marana geschaffen mit seinem Buch L'Espion du grand seigneur von 1684.19 Aber schon die Lettres provinciales von Pascal benutzten dieses literarische Muster (1656/57).

Montesquieu ist ein berühmter Staats- und Rechtsphilosoph des 18. Jahrhunderts („L'Esprit des Lois“, 1748). Lettres persanes, sein Jugendwerk, machte ihn mit einem Schlag berühmt.

Was seine Sicht des Orient angeht, so ist das zwar weniger profund, was er dazu an Überlegungen äußert, aber es entsprach der damaligen kulturellen und geographischen Denkweise: In durchschnittlich großen Ländern mit gemäßigtem Klima, wie in Europa, so meinte er, gäbe es eine andere Mentalität als in den Ländern des Orients mit seinen extremen Temperaturen und riesigen Proportionen.

In Europa läßt der Mensch nicht alles mit sich geschehen, er ist freiheitsliebend und verlangt auch eine entsprechende politische Ordnung, in der jeder sein Leben (mehr oder weniger) selbstbestimmt leben kann.

Im Orient dagegen müsse der Mensch wegen der völlig verschiedenen räumlichen und klimatischen Verhältnisse ganz anders regiert werden, meinte der junge Montesquieu, wobei er den Despotismus (Gewalt statt Recht) der orientalischen Herrscher und die Fügsamkeit der Bevölkerungen meinte.

Diese Theorie, die die jeweilige Regierungsform von der Größe des Landes und seines Klimas und der Lebensweise der darauf lebenden Menschen abhängig macht, hat er dann 1734 in seinen Betrachtungen über die Ursachen für Größe und den Niedergang des Römischen Reiches auch theoretisch formuliert (kulturrelativistischer Ansatz).

 

3. Voltaire, Zadig ou la destinée, 1747

 

Voltaire greift in diesem Roman ein besonderes Thema islamischer Theologie auf: das Schicksal. Inwieweit bestimmt es das menschliche Leben des einzelnen wirklich? Allerdings ist dieser Roman von eher hintersinnigem Humor, als ganz ernst zu nehmen.

Zadig, der Held des Romans, lebt in Babylon (Zweistromland), Zeit nicht feststellbar.

Er ist jung, intelligent, reich, beliebt und er glaubt an sein Glück.

Das Schicksal erlegt ihm jedoch viele schwere Prüfungen auf. Zuerst verläßt ihn kurz vor seiner Heirat seine Verlobte wegen eines falschen Gerüchts. Die Frau, die er danach heiratet, will ihm sogar die Nase abschneiden.

Als zwei Tiere des Königs verloren gehen und er aufgrund ihrer Spuren im Gelände beschreiben kann, um welche Tiere es sich handelt, wird er des Diebstahls bezichtigt, angeklagt und verurteilt. Man will ihn sogar für den Rest seiner Tage aus der Stadt nach Sibirien verbannen. Doch dann finden sich glücklicherweise die verloren gegangenen Tiere wieder ein und er kommt gegen Zahlung der Gerichtsgebühren frei.

Immer wieder kommt er wegen seiner Schönheit oder seines Scharfsinns in Schwierigkeiten, manchmal ist ein Gerücht, mal Neid und Bosheit von Konkurrenten oder andere Umstände die Ursache.

Einmal wird er sogar zum Tode verurteilt, aber bald darauf rehabilitiert und sogar zum Premierminister des Königs befördert. Niemals ist in Babylon besser regiert worden als während seiner (kurzen) Amtszeit, heißt es. Es ist wie die Geschichte Josephs in Ägypten bei Potifar. Eine ihm nachgesagte Beziehung zur Königin Astarte zwingt ihn zur Flucht. Schließlich wird er Sklave in Ägypten: Durch das Aufdecken einer Gaunerei gegen seinen Herrn kommt er aber wieder frei. Danach hilft er die Witwenverbrennung als verbreitete Sitte beim Tode eines Mannes abzuschaffen. Fanatikern, mit denen er in Streit geraten ist, beweist er die Notwendigkeit einer gegenseitigen Versöhnung der Religionen.

So kommt er immer wieder in große Bedrängnisse, aus denen er oft nur durch seine Ehrlichkeit und durch glückliche Umstände wieder herauskommt.

Irgendwann findet er Astarte wieder und erfährt, daß in Babylon die reinste Anarchie herrscht. Man will nun einen neuen Herrscher wählen. An den Auswahlwettbewerben nimmt auch er teil. Doch Bosheit und Neid „vermasseln“, daß er im Turnier siegt. Gerade will er die Vorsehung (das Schicksal) wegen seiner großen Ungerechtigkeit anklagen, da erscheint ein Greis, der in Wirklichkeit ein Engel ist und richtet alles wieder so ein, wie es nach Leibniz' optimistischer Weltsicht („die beste aller Welten“) sein sollte, denn das Schlechte in dieser Welt ist nichts anderes als ein notwendiges Übel, um die richtige Ordnung wieder herzustellen. Als der Engel wieder in seine Himmelsregionen aufgestiegen ist, kann Zadig alle ihm gestellten Rätsel lösen, heiratet endlich die geliebte Astarte und leitet ein Jahrhundert glücklicher Herrschaft ein … (und wenn sie nicht gestorben sind, dann regieren sie noch heute...)

 

4. Lessing, Nathan der Weise, 1779

Die Geschichte spielt in der Zeit des 3. Kreuzzuges (12. Jht.) in Jerusalem. Siehe zum einzelnen im Internet unter Lessing „Nathan der Weise“.

Hauptpersonen sind der Jude Nathan und Saladin, der muslimische Herrscher in Jerusalem. Wie man schon aus dieser Paarung erkennen kann, geht es neben allen menschlichen Besonderheiten in den Charakteren, neben der Auseinandersetzung mit der Brutalität des Krieges mit all seinen Grausamkeiten um das Problem der unterschiedlichen Religionen. Welche ist die „wahre“? Welche trägt mehr zur Vermenschlichung des Menschen bei? Judentum oder Islam oder Christentum? Oder gibt es nur ein „alle“ oder „keine“?

Für Lessing kommt es im wesentlichen darauf an, sich menschlich zu verhalten. Menschlichkeit ist die Krone des Menschseins. Leider versteht sie sich nicht von selbst, und meistens wird sie erst in ethischen Grenzsituationen erkennbar. Dazu wird die sog. Ringparabel erzählt, die man sich bereits im Mittelalter erzählte (Boccaccio). Auf den mehr theoretischen Teil der Belehrung des Theaterbesuchers folgt dann noch die aus den menschlichen Schicksalen der übrigen Personen hervorgehende, die aufzeigt, daß diejenigen leibliche Geschwister sind (und zwar sogar Kinder des Bruders von Saladin), die der Zufall bei einem Brand zusammengeführt hat, der eine Christ, die andere Jüdin. Trotz aller Kritik an den Tempelherren, dieser eine bewahrte seine Menschlichkeit und rettete jene junge Frau, die sich später als seine Schwester entpuppt, aus den Flammen. Die Botschaft lautet: Man kann zwar religiös sehr verschieden erzogen worden sein, aber darf doch nicht seine Menschlichkeit verlieren.

Die tiefere Hoffnung Lessings scheint die zu sein, daß es auch eine verborgene Verwandtschaft zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen gibt. Der wahre Gottes-Dienst sei eben die Menschlichkeit. Lessing scheut sich nicht, seinem christlichen Publikum vor Augen zu führen, daß Menschlichkeit nicht bloß Parole oder Dogma sein darf, sondern gelebt und gegen den Anschein der Verhältnisse bewahrt werden muß, und Beispiele dieser Menschlichkeit gibt es überall, oft auch und gerade bei den „Feinden“ des eigenen Glaubens, wie hier bei den Orientalen.


 

 

IV. Schlußbetrachtung (Thesen) :

 

Also: Der Orient hat für Europäer viele Gesichter, der vom Kolonialismus aus auf den Orient gerichtete Blick ist nur eine Sichtweise unter vielen. Die Probleme sind heute vielschichtiger darzustellen, wie die folgenden Thesen abschließend zeigen können:

 

1.1 Die Beschäftigung mit dem Orient scheint heute eine Modeerscheinung zu sein, wenn man an die große Zahl einschlägiger Literatur zum Thema Orient und „Orientalismus“ in englischer, französischer und deutscher Sprache denkt. Dazu kommen Kunstbücher, Ausstellungskataloge (z. B. „Europa und der Orient 800-1900“, 1989) und viele literaturwissenschaftliche Abhandlungen.

1.2 Aber in der Tat gab es auch früher schon solche Moden, wie die vielen Reiseberichte des 19. Jhts. zeigen, z. B. über Ägypten, durch die Wüste und die Kulturstätten Syriens, die Kulturen des Vorderen Orients, die Welt des Islam von Marokko bis Persien, um nur einige Themen und Titel zu nennen. Besonders das (philosophisch und politisch ausgerichtete) 18. Jht. (siehe die Beispiele in III b) versuchte sich im Spiegelbild des Orients neu zu „erfinden“.

1.3 Auch wenn die Beschäftigung mit dem Orient nicht immer das ganz große Publikum erreicht hat, zieht sich die Auseinandersetzung mit dem Orient spätestens seit dem 11./12. Jahrhundert (Rolandslied) wie ein roter Faden durch die verschiedenen Regionen Europas, mal breiter, mal schmäler werdend, je nachdem ob und, falls ja, wo es einen aktuellen Anlaß dazu gab.

1.4 Der Orient war jedenfalls nicht nur von regionalem Interesse, er weckte (und befriedigte) ein gesamteuropäisches Interesse. Insofern kann man schon sagen, daß der Orient als (negative oder positive) Folie zur Identitätsbildung des Westens gehört. (Wenn als konstitutiver Bestandteil, dann nur über das Christentum, welches Europas Identität ausmachte und großenteils immer noch ausmacht! Der imperialistisch mißbrauchte Orient ist dagegen nicht für Europas Identität konstitutiv, wie Said zu suggerieren versucht! s. unten 4.1ff.)

 

2.1 Trotz aller zerstörerischen Kriege der führenden Nationen Europas um die Vorherrschaft in Europa (und der Welt), glaubte es sich nach seinem eigenen Selbstverständnis nie tiefer in seiner Existenz gefährdet und gefordert als durch die vorrückenden muslimischen Armeen und den Islam selbst.

2.2 Mit den Jahreszahlen 732, 1389, 1453, 1529 oder 1683 waren ganz Europa prägende Schlüsselerfahrungen verbunden. Immer ging es in den Erzählungen, die jene Ereignisse besangen oder betrauerten, um Leben oder Tod, um den Fortbestand des Christentums und westlicher Freiheit oder Unterwerfung und Versklavung unter das Joch orientalischer Herrscher.

2.3 Diese Themen wurden in Dichtung, Malerei und Musik aufgenommen und entsprechend in Bild und Ton gesetzt. Der „Orientalismus“ überhaupt – sofern er nicht nur als reine antiorientalische Zweckpropagada gelten muß – schöpfte aus diesem geschichtlichen Erlebnisraum viele seiner Themen.

 

3. Ob sich die orientalische Welt durch diese Darstellungen gerecht beurteilt fühlen konnte, ist eine andere Frage. Haben in der Vergangenheit die weltanschaulichen Gegensätze die Beziehungen des Westens zum Orient (und umgekehrt) oft belastet, so ist man heute zumeist bemüht, nicht nur die Geschichte eines tödlichen Gegeneinanders zu sehen, die ursprünglich im Expansionsdrang des Islams wurzelte (der vielleicht aber auch eine späte Reaktion auf die Eroberung des Orients durch Alexander den Großen ist), sondern sich komplementär dazu auch die Geschichte vieler positiver Beziehungen und wechselseitiger Erforschung bewußt zu machen.

 

4.1 Zur Aufarbeitung dieser Geschichte gehört aber noch ein weiterer Aspekt, der aus orientalischer Sicht in der europäischen Bewertung des Verhältnisses Okzident-Orient meist zu kurz gekommen ist, und der durch die Thesen von Edward Said, Orientalism, 1978, in den Mittelpunkt des europäisch-orientalischen Diskurses gerückt wurde.

4.2 Nach seiner Definition ist der „eurozentrische“ Orientalismus nichts anderes als:

... the corporate institution for dealing with the Orient – dealing with it by making statements about it, authorizing views of it, describing it, by teaching it, settling it, ruling over it: in short, Orientalism as a Western style for dominating, restructuring, and having authority over the Orient … “.

4.3 Said will mit dieser These in zugespitzter Form auf den durch Kolonialismus und Imperialismus verengten Blick der Europäer auf den Orient hinweisen, wobei er sein besonderes Augenmerk auf die aus dieser Zeit herrührenden Spätschäden legt: Denn der Orient sei nicht nur einmal – und zwar sehr real – durch die britische und andere Weltmächte vergewaltigt worden; sondern seitdem immer wieder und zwar durch den Diskurs des Westens über den Orient, einen Diskurs, der bis in die Gegenwart hinein wesentlich von den aus jener Epoche stammenden Kategorien geprägt sei.

4.4 Man kann diese These m. E. für einen gewissen Zeitabschnitt akzeptieren, aber man darf sie nicht verabsolutieren, d.h. man darf das Orientbild des Westens nicht ausschließlich von den Erfahrungen und Diagnosen jener Zeit herleiten, weil es in Wirklichkeit wesentlich vielschichtiger aufgebaut ist. Aber richtig ist an dieser These, daß in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen auch sprachlich darauf geachtet werden muß, daß der Diskurs möglichst mit dem Andern und nicht nur über oder gegen ihn geführt wird.

4.5 Entscheidend bei der politischen, religiösen und historischen Bewertung einer Beziehung ist jedoch in der Regel, ob die Gegenwart dazu den notwendigen Spielraum läßt, d.h. ob die Partner sich heute neu und anders begegnen können, als es in der Vergangenheit so oft der Fall war.

 

5.1 So müßten orientalische Migranten in Europa heute vermutlich sogar ein Interesse an der Erhaltung der Idee Europas als Gegenmodell zu den alten europäischen Nationalstaaten mit ihren Nationalismen haben, obwohl „Europa“ im Orient vielfach als Feindbild gesehen wurde (und wird?).

5.2 Und umgekehrt hat der Westen sicher kein Interesse an der Wiederbelebung eines überstaatlichen Panarabismus oder weltum-spannenden Panislamismus, der vermutllich die eigentliche Triebkraft militanter Islamisten ist.

5.3 Aus europäischer Sicht wird der Okzident-Orient-Konflikt heute zusätzlich durch das globale wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle überlagert und verschärft.

 

 

V. Verwendete Literatur:

Jean-louis Tritter, Mythes de l'Orient en Occident, 2012, 47f.

Dictionnaire des Personnages

Voltaire, Zadig-Candide. Extraits. Texte choisi et annoté par Friedholt Heftrich, 4. Aufl. 1971 (Schullektüre)

Charles-Louis de Montesquieu, Lettres persanes,

G. E. Lessing, Nathan der Weise

A. Pflitsch, Zweierlei Barbarei. Überlegungen zu Kultur, Moderne und Authentizität im Dreieck zwischen Europa, Russland und arabischem Nahen Osten, 2012

A. Pflitsch, Aufbruch in eine vertraute Fremde,123-134, in: B. Agai/ Z. A. Pataki (Hrsg.) Orientalische Reisende in Europa, Europäische Reisende im Nahen Osten, 2010

Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky, hrsg. Roger Diederen und Davy Depelchin, 2011

Srinivas Aravamudan, Enlightenment Orientalism. Resisting the Rise of the Novel, 2012

A. Classen (Ed.), East meets West in the Middle Ages and Modern Times, 2013, ebd., Introduction, 1-222

Marta Mamet-Michalkiewicz, Between the Orient and the Occident. Transformations of The Thousand and One Nights, 2011

Hegel SWA Bd. 7 und 12 (= Suhrkamp Werkausgabe 1970ff.)

 

 

Edward Said, Orientalism, 1978

 

Ähnliche Positionen wie Said:

A.L. Tibawi (der eigentliche Vordenker dieser Bewegung),siehe „The dabate aboutorientalism“, in: http://www.worldwisdom.com/public/library/default.aspx

Bryan S. Turner, Marx and the End of Orientalism (marxistisch)

 

Kritisch zu Said:

R. Irwin, For Lust of Knowing. The Orientalists and their Enemies, London 2006

Ibn Warraq, Defending the West. A Critique of Edward Said's Orientalism, NY 2006

D.M. Varico, Reading Orientalism. Said and the Unsaid. Seattle 2007

Linda Nochlin, The Imaginary Orient, 1989

kritisch zu Nochlin: John MacKenzie, Orientalism 1995

 

Wolfgang Massalsky, 28. 5. 2014

1 Vgl. A. Classen, Introduction, S. 214

2 Anton Hantschel, Zwischen Lancashire und Gizeh 1943, S. 6f.

3 Vgl. Zweierlei, S. 92f.

4 Siehe auch schon die engere und weitere Auffassung bei Huet (1669) und Galland (1694) darüber, was geographisch zum Orient gehört, Enlightenment Orientalism, S. 11 u. 257.

5 Hegel kombiniert in seiner Philosophie der Geschichte beide Blickpunkte (Anm. 4), indem er den Orient zunächst bis nach China und Indien ausweitet, ehe er auf Persien und Ägypten zu sprechen kommt. Damit umfaßt er mit dem Begriff Orient sämtliche Kulturen des fernen und nahen Ostens mit höherer Sittlichkeit, die an Staat und Gesetze gebunden ist, auch wenn die Herrschaft überwiegend willkürlich ausgeübt wird und ein klarer Begriff von Humanität fehle. Ägypten bildet den „Übergang“ zum Griechentum, wo man erstmalig in der Geschichte festen „geistigen Boden“ betritt, wie er sich ausdrückt. Nun erst steht der Mensch in der Mitte des gesellschaftlichen Daseins, hat er Rechte, kann er sein Schicksal selbstbewußt selber bestimmen, obwohl es bekanntlich auch dort nicht nur Freie, sondern mehrheitlich Sklaven gab, die die Arbeit machen mußten.

6 Zitiert nach: Enlightenment Orientalism, S. 1

7 Bemerkenswerterweise hat Said die Erzählungen aus „1001 Nacht“, die für das Orientbild so vieler Menschen im Westen prägend gewesen sind (obwohl er Burtons „Arabian Nights“ anerkannt hatte), nicht für den „Orientalismus“ des Westens in Ansatz gebracht, weil er diesen als ein rein „westliches Konstrukt“ verstand (Mamet-Michalkiewicz, 56). (Das muß zwar nicht heißen, daß er die primären orientalischen Quellen für das westliche Verständnis des Orients für wirkungslos hielt, aber es zeigt doch, daß seinem Konstrukt „Orientalismus“ ein sehr selektives Bild des Westens vom Orient zugrunde liegt, vgl. Enl. Or. 11.)

8 Wenn Said suggeriert, daß der Westen nicht nur das dominierende Bild des Orients geschaffen, sondern sich selber daran „hochgezogen“ und seine Identität ausgebildet habe, dürfte er seinerseits eher ein Feindbild vom Westen produzieren, als dem tatsächlich ziemlich komplizierten Geflecht der Beziehungen zwischen dem Westen und dem Orient gerecht zu werden. Siehe auch die berechtigte Kritik von Pflitsch an seiner Verharmlosung der aggressiven Einverleibungspolitik Rußlands an dessen Rändern, in: Zweierlei, 90f.

9 z. B. die Hellenen gegen die orientalischen Barbaren im 5. vorchristlichen Jht., (vgl. Aischylos, Die Perser) oder die Befreiung der Griechen vom Osmanischen Reich im 19. Jht., der Kampf von Lawrence von Arabien mit arabischen Beduinengruppen gegen die Osmanenherrschaft während des 1. Weltkriegs.

10 wobei die Beziehungen in der Kolonialzeit auch in sehr viel friedlicheren Formen stattfinden konnten, wenn man an die Berichte von Forschungsreisenden und wissenschaftlicher Kongresse denkt.

11 Hier weniger im Sinne von S. Huntington als mehr im Sinne von C.P. Snow gemeint!

12 Diese Dialektik zwischen Anziehung und Abstoßung gilt auch für das Verhältnis arabischer Intellektueller zu Europa: Pflitsch, Aufbruch, S. 126, vgl. im Text den folgenden Abschnitt 4.2

13 so wie es ihn in seinen „Phantasmagorien“ zwischen Traum und Wirklichkeit (vgl. Orientalismus in Europa, S. 29) erlebte

14 Vgl. W. A. Mozarts Oper „Entführung aus dem Serail“, 1782 (siehe dazu im Internet unter Mozart)

15 bei Hegel, Rechtsphil. SWA 12, 315 ( erneut aufgegriffen von Wittfogel und H. Reich),

16 Von dieser Denkweise scheint auch Shakespeares „Othello“ (1603) beeinflußt zu sein, denn daß es ein „Mohr“ ist (Mohr = Schwarzer oder Mohr < Maure?), der in einem Akt höchster Erregung und Wut seine Geliebte Desdemona tötet, geschieht doch wohl aus dem Grund, um zu zeigen, daß im orientalischen Denken (was Nordafrika einschließt) ein Funke genügt, um Liebe und Haß in einer tödlichen Mischung zur Explosion zu bringen, besonders wenn Eifersucht (und/oder Rassismus) im Spiel ist.

17 Insbesondere was das Mittelalter und die frühe Neuzeit betrifft, kommt man mit der Orientalismus-Kritik von Said nicht weiter (so auch Classen, East meets West, Introduction, S. 156); vgl. auch C. Barajas, ebd. 246, die betont, daß für diese vormodernen Epochen eine sehr viel positivere Einstellung auf beiden Seiten festzustellen ist („the East is simultaneously the lover and beloved“), geprägt von „mutual curiosity and desire“, wobei sie allerdings von der in The wonders of the East, in England ca. 1000 entstanden, ausgedrückten Bewunderung des „Ostens“ ausgeht.

18 Montesquieu und Voltaire oder Lessing sind nicht als repräsentativ für das Orient-Bild ihrer Zeit ausgewählt worden, sondern wegen ihres auch sonst bedeutenden Werks, zu anderen Autoren der Aufklärungszeit vgl. Enlightenment Orientalism, S. 4.

19 Zu noch älteren Vorbildern vgl. Enlight. Orient., S. 49