Freiheit (Wille)

 Überlegungen zum Thema „Freiheit“ (Wille)

 

I. Was bedeutet Freisein oder Freiheit in der Bibel?

1. Die Befreiung ist in der Bibel vor allem belegt als Befreiung von der Knechtschaft, sei es im sozialen (wie aus der Sklavenhaltergesellschaft des alten Ägypten, die im 2. Buch Mose erzählt wird) oder im religiösen Sinne (so sei man als Christ befreit aus der Macht des altt. Gesetzes und der Sünde).

2. Obwohl in der von den Evangelisten redaktionell gestalteten Geschichte Jesu selbst der Begriff „Freiheit“ nicht wörtlich vorkommt, macht sie doch an vielen Stellen deutlich, daß im Verhalten Jesu, in der Art wie er sich den Menschen zuwendet, sie annimmt, ihre Verletzungen heilt und dabei notfalls auch das Gesetz übertritt, eine offenbar ungewohnte, für seine rechtgläubigen Kritiker geradezu gottlose Freiheit gegenüber dem Gesetz zu liegen schien. Trotzdem kann man nicht sagen, daß er das Gesetz prinzipiell als unmaßgeblich oder für jederzeit überschreitbar gehalten hätte. Im Gegenteil, wenn er so handelt, dann nicht, weil er das Gesetz – wenn auch nur in einem Grenzfall – außer Kraft setzen oder gar abschaffen will, sondern um es, wie er sagt, zu erfüllen! Und er tut das nicht klammheimlich im Verborgenen, sondern in aller Öffentlichkeit und ohne Scheu, in dem Wissen, daß er sich damit zwar bei seinen pharisäischen Kritikern sehr angreifbar macht, aber Gott auf seiner Seite steht. Daß die Jünger eines Tages, wenn Jesus schon nicht mehr bei ihnen sein wird, noch größere Taten vollbringen sollen, wie Jesus ihnen prophezeit, zeigt, daß die Freiheit Jesu nicht unnachahmlich auf ihn beschränkt bleiben, sondern daß sie in seinem Jüngerkreis beispielhaft wirken und in aller Welt Schule machen sollte.

3. Aber auch in anderer Beziehung kann von „freisein“ (eleutheros) gesprochen werden. So sagt Paulus, daß er sich sein Arbeitsfeld als Bote Jesu überall in der Welt suchen kann. Gemeint ist seine Unabhängigkeit (Freigestelltsein) von einer konkreten Gemeindearbeit, weil er sich durch Christus selbst zu einem weltweiten Dienst beauftragt weiß (1. Kor. 9, 1. 19). Doch handelt es sich dabei nicht um eine außergewöhnliche oder gar egoistische Inanspruchnahme einer ihm allein zustehenden Freiheit, sondern die ganze Gemeinde Jesu versteht Paulus (vgl. Gal 4, 31) als die Gemeinschaft der Kinder der Freien (Sarah mit Isaak) i. U. zu den Kindern der Magd (Hagar mit Ismael), auf die sich der Qur‘an beruft, freilich nicht im Sinne von geborenen Sklaven, sondern als ein anderer legitimer Zweig der Abrahamsfamilie, die den Segen Abrahams auch auf den Islam überträgt.

 

II. Warum Freiheit auch in unserem Leben keine Selbstverständlichkeit ist

1. Die Definition der Stellung eines freien Bürgers gegenüber der inferioren Knechtsexistenz ist in unserem Staat rechtlich durch die Gleichberechtigung aller Bürger (wegen ihrer gleichen Würde) vor dem Gesetz überholt.

2. Allerdings bestehen in anderer Hinsicht zwischen den Bürgern der sog. freien Welt eben doch immer noch extreme Unterschiede, wenn man an Verdienst und Entgelt für die geleistete Arbeit denkt, sofern man überhaupt Arbeit hat, von der in vielen Branchen erheblich niedrigeren Bezahlung von Frauen bei gleicher Leistung ganz abgesehen.

3. Die sozialen Kämpfe und Tarifauseinandersetzungen machen das Jahr für Jahr auf die eine oder andere Weise sichtbar. „Systemrelevante“ Tätigkeit, die besser bezahlt werden sollte, ist ein weiteres Schlagwort unserer Zeit. Ohne gesellschaftlich anerkannte und gut bezahlte Arbeit hat das Leben des Menschen oft etwas Primitives. Es ist jedenfalls auf Dauer sehr langweilig, ja stressig, seine Tage nur mit Einkaufen, Konsumieren, Spazierengehen oder Fernsehen und gelegentlichen Arztbesuchen oder Bargeldabheben zu verbringen, wenn Urlaubmachen verboten ist und sonst keine befriedigenden oder gesellschaftlich wichtigen Aufgaben zu erfüllen sind (wozu bis jetzt auch noch das kirchliche Ehrenamt zählt). Selbst gut versorgte und liebevoll betreute Kinder beginnen ohne den täglichen Schulbesuch ihren inneren Halt zu verlieren und seelisch zu verwahrlosen, wenn sie zu Hause nicht gefordert und gefördert werden können.

 

III. Auswege aus dem Freiheitsverfall unserer Zeit?

1. Von dieser Art Unfreiheit und dem Fehlen einer echten Bindung an eine das eigene Leben ausfüllende, ja übersteigende Aufgabe mache die Begegnung mit Jesus frei. Das deutet Johannes an (vgl. Joh 8, 35ff.) im Zusammenhang mit seiner Unterscheidung von Sklave und Sohn (der uns befreit: eleutheroosä) und der Bindung des Menschen an Gott oder den Teufel, was auf zunehmende Auseinandersetzungen der Gemeinde des Johannes mit Gegnern Jesu aus dem pharisäischen oder allgemeinjüdischen Lager schließen läßt, sofern die Spitze seiner Darstellung nicht bloß polemisch gemeint ist im Sinne eines typisierten, klischeehaften Gegenbildes: Hier persönliche Freiheit und Wahrheit in Christus, dort jüdische Gewaltbereitschaft und falsche Gesetzlichkeit, die die Wahrheit nicht erkennt.

2. Die berühmten Zehn Gebote scheinen ihrem Duktus nach der persönlichen Freiheit nur wenig Spielraum zu lassen. Es sind Leitlinien, die den gesetzlichen Rahmen eines gedeihlichen Miteinanders im Volk Israel abstecken. Eigentlich stellen sie nur die Grundpfeiler des von Gott durch Mose geregelten Zusammenlebens dar. Die genauere Ausgestaltung ist eine nie endende Aufgabe der gesetzgebenden Körperschaften der Staaten, wie auch das israelitische Bundesbuch zeigt. Die Defizite in Sachen Freiheit sind in vielen Staaten dieser Welt unübersehbar. Andererseits ist Freiheit nicht wirklich - wie viele bei uns glauben - an der Menge der billig produzierten und konsumierten Waren bzw. am materiellen Wohlstand meßbar. Außerdem macht dieser Wohlstand uns nicht selten selbstzufrieden und blind gegenüber den Nöten der ökonomisch schwächer gestellten Bürger, denen zur Durchsetzung ihrer Rechte oft die politische Macht fehlt. Immerhin gibt es dort, wo sie dem Bürger in der Verfassung garantiert sind, wenigstens die Möglichkeit, um seine Freiheit zu kämpfen, auch wenn der Staat in für ihn brenzligen Situationen mit seinem Militär alle Freiheitsbemühungen der Bevölkerungen oft mit grausamer Gewalt unterdrückt (wie derzeit in Belarus oder in Myanmar und in vielen anderen Ländern). Der Staat sitzt eben mit seiner Macht immer am längeren Hebel, wenn er nicht in der Anwendung von (militärischer) Gewalt gegenüber seinen Bürgern rigoros beschränkt wird. Daher sollte sie immer von (nicht parteilich gebundenen) Bürgerkomitees (das Parlament ist oft zu schwerfällig) kontrolliert werden und ohne ihre Zustimmung nicht zugelassen sein.

3. In ähnlichem Sinne kann das Neue Testament (Röm 8, 2) vom „Gesetz“ des Geistes sprechen, worunter jedoch kein kodifiziertes Kirchenrecht zu verstehen ist. Seine Grundlage ist die in Christus begründete Freiheit von Sünde und Tod. Es ist also auch für Christen ein besonderes Gesetz nötig, ein Gesetz auf der Basis des Geistes, der „stark“ macht. Denn das „Fleisch“ ist zu schwach, um dem Neuen Leben „in Christus“ auf Dauer  Kraft, Halt und Ausrichtung zu geben.

4. Ob es die Vorstellung eines „unfreien Willens“ schon in der hebräischen Bibel des Alten Testaments gibt, dürfte fraglich sein; sicher nicht im dogmatischen Sinne. Denn der Mensch weiß im allgemeinen sehr genau, was gut und böse ist, auch wenn er nicht an Gott glaubt und sein (oft sehr egoistischer) Standpunkt sein Urteil dominiert und verfälscht. Ein gutes und solides Leben sollte auch ohne Christus möglich sein, aber die Realität ist doch die, daß der Mensch ohne die Befreiung durch den Geist Gottes zumeist seinen Trieben und egoistischen Zielen ausgeliefert ist. Gleichwohl ist die Bezogenheit des Menschen auf Gott auch durch den sog. Sündenfall nicht völlig verloren gegangen, weil er ja Gottes Geschöpf bleibt. Und ohne diese unausdrückliche Beziehung zu Gott würde der Glaube keinen Anknüpfungspunkt im Menschen haben und in ihm auch keine konkrete Gestalt annehmen können.

5. Stabilität und routinierte Lebensformen braucht natürlich auch das christliche Leben. Nicht alles kann der Spontaneität und Kreativität des Einzelnen überlassen bleiben. Darum ist auch die Ausbildung und Befolgung von Tugenden (aretä) nützlich, um die Weisheit eines Lebens im Geist von Grund auf zu erlernen (1. Petr. 2, 9). 1 Ohne solche festen Formen im gemeindlichen und persönlichen Leben der Christen, die die Empfindlichkeit für echte und falsche Freiheit schärfen helfen und die von Zeit zu Zeit auch zur Überprüfung und Erneuerung des gottesdienstlichen Lebens führen sollten, kann die Freiheit schnell zur Überforderung führen oder sogar ganz ihren besonderen Reiz und Geschmack verlieren; umgekehrt aber kann jedes Ritual ohne den lebendigen Geist allmählich zur leeren Hülle erstarren. Die christliche Gemeinde hat den jüdisch-hellenistischen Begriff der aretä in ihre Ethik übernommen als Bezeichnung für „die Haltung, die der Gerechte im Leben und Sterben zu bewähren hat“ 2.

6. Wichtig scheint den Aposteln vor allem dies zu sein, daß in geistlichen Angelegenheiten, zentral: wenn es um die Offenbarung Gottes in Jesus Christus geht, der natürliche Verstand des einzelnen Menschen zum Verständnis des tieferen Sinns der Heilsbotschaft und der damit verbundenen Verwandlung des eigenen Lebens (im Glauben) nicht ausreicht. Dazu bedarf es eines durch den Geist Gottes geöffneten Verstandes, wobei der Geist Gottes dem Menschen auf keinem anderen Wege als auf dem des Nachvollzugs der Geschichte Jesu und der Auseinandersetzung mit ihr begegnet. Von der Begegnung zur Erneuerung des ganzen Lebens ist freilich mehr als nur ein gedanklicher Schritt notwendig. Nur wenn uns durch den Geist Gottes ein Licht aufgeht, das unser Leben hell macht und wenn dieser Geist die Führung unseres Lebens übernimmt, kommt die Offenbarung Gottes in Jesus Christus bei uns ans Ziel. Darum kann Paulus den Geist Gottes auch mit dem Geist Christi selbst identifizieren und sagen: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ (2. Kor. 3, 17) Warum? Weil Christus selbst aus Gottes Geist geboren ist (ohne seine konkrete Menschlichkeit auszulöschen) und sein Wirken der Wirkungssphäre des Geistes angehört. Der Wille des Menschen ist daher erst wirklich frei, wenn der Mensch in diesem Sinne durch Christus selbst zu einem neuen Leben befreit und von Sünde, Tod und Teufel erlöst worden ist. Und diese Freiheit gilt es von nun an mit allen Mitteln festzuhalten und zu verteidigen, die mit dem Glauben an Jesus vereinbar sind. Das schließt alle unnötigen Härten in der Gemeinde selbst gegen falsche Brüder aus, aber von ihnen sich zu trennen ist selbstverständlich richtig, damit der Sauerteig des Glaubens und der Gemeinschaft nicht verdirbt (vgl. dazu Gal 2, 4 und 1. Kor. 8, 9).

 

IV. Willensfreiheit oder/und Determinismus

1. Die Tatsache, daß der Mensch in seinem Denken und Handeln willensbestimmt ist, läßt vermuten, daß er sich logisch von der Naturwelt, dem normalen Eingebettetsein allen Lebens in die naturgesetzlich determinierten Abläufe des Daseins unterscheidet, wie das auch der Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften zum Ausdruck bringt. Der Versuch, über die Neurobiologie auch das Denken und Fühlen des Menschen den Zwängen von Naturprozessen zu unterwerfen, hat die Zwischenwand dieses alten Gegensatzes von Natur und Geist ins Wanken gebracht. Allerdings wird heute auch aus anderen Gründen ein Dualismus von Geist und Natur (res cogitans und res extensa bei Descartes) bestritten. Philosophischerseits werden verschiedene Argumente vorgebracht, um die Thesen der Vereinbarkeit (Kompatibilismus) bzw. Unvereinbarkeit (Inkompatibilismus) des (angeblich oder tatsächlich) freien Willens des Menschen und der durch Kausalität determinierten Natur zu stützen. Sicher ist, daß der Mensch durch Zufall oder mit Absicht – also mit „freiem“ Willen – zerstörerisch in die ohne ihn mehr oder weniger reibungslos ablaufenden Naturprozesse eingreifen kann. Aber auch wo er als Bewahrer der Schöpfung in sie eingreift, um lebensbedrohliche Entwicklungen zu stoppen, kann er langfristig das Gegenteil bewirken oder neue Fehlentwicklungen auslösen. Ist die Natur durch den Menschen beherrschbar wie etwa eine vom Menschen erfundene Maschine von ihm beherrscht werden können sollte? Geht man den philosophischen Richtungen nach, so gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten 3, den Inkompatibilismus darzustellen: zum einen die Bejahung der Willensfreiheit (Libertarismus) und Leugnung des Determinismus, zum andern die Verteidigung des naturgesetzlichen Determinismus und die Bestreitung der Willensfreiheit. Die Argumentation im einzelnen kann hier nicht wiedergegeben und untersucht werden. Daß beides, freier Wille und Determinismus miteinander vereinbar sind, dürfte nicht leicht zu zeigen sein und findet sich noch heute in dogmatischer Form in der röm.-kath. Kirche. D.h. es gibt eine durch ihre Naturgesetze determinierte Welt, wobei Gott es ist, der ihr diese Gesetze gegeben hat, und es gibt die Willensfreiheit (zumindest Wahlfreiheit), so daß der Mensch sich für das von Gott verheißene Gute und gegen das Böse entscheiden kann. Die strenge Prädestination (= göttliche Vorherbestimmung alles Geschehens) läßt allerdings daran zweifeln, daß der Mensch ganz auf sich gestellt (autonom) handeln kann, wie er will. Was heute die Neurobiologie zu bestreiten scheint, das hat früher die Prädestinationslehre geleistet, nämlich Zweifel an der Autonomie des Menschen zu säen. Andererseits, wenn unsere Handlungen vollständig determiniert wären, von was auch immer, – wie steht es dann um unsere Verantwortung für die von uns begangenen Taten? Wird sie  nicht dann prinzipiell in Frage zu stellen sein? Es ist keine Frage, daß dieses Ergebnis nicht das letzte Wort in dieser Sache haben kann. Die Untersuchung dieses Problems wird also dieses Ergebnis irgendwie korrigieren müssen, wie es ja auch in der Theologie immer darum ging, die Selbstverantwortung des Menschen für sein Tun damit in Einklang zu bringen, daß Gott der Schöpfer die ganze Welt in seiner Hand hat und er es ist, der den Menschen dahin lenkt, wo er ihn haben möchte, manchmal auch dahin, wohin der Mensch nicht möchte.

2. In der Theologie haben Erasmus (De libero arbitrio, 1524) und Luther (De servo arbitrio, 1525) diesen alten Streit, wieviel göttlicher oder natürlicher Determinismus und wieviel menschliche Wahl- und Willensfreiheit (zur Erlangung des Heils) erlaubt sind, wieder aufgenommen. Dabei stimmte Luther von der Allmacht und Alleinwirksamkeit Gottes und seiner Gnade aus gegen den freien Willen, und Erasmus trat für ihn ein, wenn auch nur mit Hilfe der göttlichen Gnade, wobei er an die Antike und alte katholische Lehre anknüpfte. Beide Vorstellungskreise lassen sich immer wieder während der ganzen Neuzeit und in der Moderne in wechselnden Konstellationen und unter modifizierten Vorzeichen in den intellektuellen Diskursen in Europa nachweisen: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert besonders heftig unter den Leitideen des Darwinismus (Evolution gegen Schöpfung), des Marxismus (Materialismus gegen Idealismus) und der Psychoanalyse Freuds (Das Unbewußte regiert das Bewußte). Wenn es keine bessere Theorie gibt als diese, keine neue Theorie, die diese ideologisch ziemlich geschlossenen Weltanschauungen durch den Gedanken der Zukunft und der Kontingenz aufbrechen hilft, wie es die Rede von der alles bestimmenden Wirklichkeit Gottes intendiert, die gerade so den Menschen durch die Zeiten begleitet und in jedem Augenblick neu Zukunft eröffnet, könnte der Mensch seine bisher wie selbstverständlich im Christentum eingenommene Spitzenstellung als Krone der Schöpfung endgültig verlieren. Man braucht dazu nur Gott durch die Natur zu ersetzen, wie es ja in einer bestimmten Weise schon Spinoza getan hat. Denn dann fehlt dem Menschen der Anwalt für seine Sonderstellung. In Philosophie, Naturwissenschaft und Ökologie sind solche Rückholaktionen des Menschen in die Natur schon längst im Gange. Ja auch die Theologie beeilt sich inzwischen, den Menschen naturgerecht umzupolen. Aber will demgegenüber der Mensch nicht geradezu als göttliches Experiment eines Ausbruchs der Lebewesen aus dem ewigen Naturkreislauf von Werden und Vergehen verstanden sein, wenn er auch im einzelnen keineswegs immer dem in Christus Gestalt gewordenen Ebenbild Gottes ähneln mag? Manche Forscher würden heute sagen, ein gut gelungenes Vorzeigeexemplar im Reich der Affen ist doch auch schon viel wert! Was die Natur wert ist, hing jedenfalls seit dem biblischen Schöpfungsbericht am Menschen, der sie von früh an mit seinen kritisch-prüfenden Augen nach Verwertbarem für den täglichen Bedarf und darüber hinaus absuchte. Bisher war es die Natur, die dem Menschen um den Preis ihrer Ausplünderung und Zerstörung von Generation zu Generation ein bequemeres Dasein und Auskommen sicherte. Heute muß der Mensch den keineswegs überall dauerhaft gesicherten Fortbestand der Natur als seine eigene Aufgabe in sein Denken und Handeln aufnehmen, weil er keine andere Existenzgrundlage hat als diese. - Naturreligionen werden in säkularisierter Form bald wieder Hochkonjunktur haben, während die „Kirche der Freiheit“ (W. Huber) sich vielleicht schon sehr bald als eine Sackgasse in der Evolution der Glaubensformen herausstellen könnte.

 

V. Kirche, Natur und Gesellschaft

1. Oft kann man lesen, daß das Besondere des Protestantismus, das „protestantische Prinzip“, seine Freiheit ist, genauer die Freiheit des Glaubens gegenüber der Leistungsethik der vorreformatorischen Kirche, wonach „gute“ Werke, mit der Gnade Gottes in J. Chr. vollbracht, den Menschen vor Gott rechtfertigen, - wenn der Segen der Kirche dazukommt. Max Weber übrigens sah es genau umgekehrt, nämlich daß der rechtfertigende Glaube im Protestantismus den Menschen dazu befähigt habe, sich frei und stolz der Erde zu bemächtigen, und gerade so, durch den Leistungsnachweis seiner profanen Werke, habe er auch das Tor zur Neuzeit aufgestoßen. Luther habe also sich selbst und so auch viele Mitchristen aus der Leistungsspirale eines Glaubens befreit, der, um Gott zu gefallen, alles tut, notfalls auch Ablaßbriefe kauft, um den Forderungen Gottes in sich stetig steigernder Selbstverleugnung nachzukommen, bis das eigene Leben allmählich ausgelöscht ist. Die ethische Grundregel dieses von Kindheit auf anerzogenen Glaubens lautete also: Wenn ich das und das tue, dann ist mir Gott wieder gut. So wie man sich in einer patriarchalisch-autoritären Gesellschaft erste Belohnungen verdiente, indem man dem Vater nach der Arbeit zuhause seine Stiefel ausziehen half oder den Sessel zurechtrückte, damit er sich erst einmal etwas ausruhen konnte, bevor gemeinsam gegessen wurde. Jedes Kind weiß, was dem Vater gefällt und wie man sich seine Anerkennung verdienen kann. Mit diesem Glauben, der nur auf Gehorsam beruhte und die im Glauben erlangte Freiheit des einzelnen mißachtete, machte Luther Schluß. Er hatte selbst viel zu sehr unter dieser Zwangsgewalt, genannt „Glaube“, gelitten, als daß er diesen Glauben guten Gewissens an seine Mitbrüder und Zeitgenossen weitergeben konnte. Er fühlte und erkannte, daß man sich die Liebe Gottes nicht erkaufen könne. Daß auch einige bibl. Schriften dies zu besagen schienen, das ermutigte ihn letztlich sogar zum Bruch mit Rom und seinen ewigen Gehorsams- und Unterwerfungsritualen. Dabei gilt es freilich zwischen der wahren Kirche Jesu Christi und der altväterhaften Hierarchie zu unterscheiden. Dieser Gegensatz zwischen der hierarchisch und patriarchalisch verfaßten Ordnung der Amtskirche und der um die Freiheit eigener Gewissensentscheidungen ringenden Gemeindekirche ist bis heute nicht wirklich überwunden, und seit der Gegenreformation wiederholt sich dieser Gegensatz auf allen Ebenen immer wieder. Leider hat sich die Brüderlichkeit in den Leitungsämtern der ev. Kirche auch nicht wirklich durchgesetzt. Nicht einmal zwischen den Pastoren gibt es noch ein gemeinsames Verständnis für eine brüderliche Kirche. Die Rede davon ist zur bloßen Phrase verkommen und der Glaube wird durch das Schielen auf die Kirchensteuereinnahmen verdorben. Das Hauptproblem ist freilich hier die laxe Handhabung des Synodalsystems. Egal was man denkt, wenn man in der Kirche ist und seine Kirchensteuer regelmäßig bezahlt, ist man geeignet für das Synodalamt, wenn die Gemeinde einen vorschlägt. Es genügt, dabei sein zu wollen und zu können, um in den Gemeinden vorgeschlagen zu werden, weil sich sowieso niemand danach drängt. Daß heute eine 25jährige Philosophiestudentin Synodalpräses werden kann, zeigt, daß die nackte Angst vor der Zukunft in der Synode der EKD umgegangen sein muß, um diese Entscheidung als zukunftsträchtig verkaufen zu können, freilich daß sich auch sonst niemand aus dem Kreis der Honoratioren für diese Aufgabe angeboten hat. Aber Aushängeschilder haben noch nie etwas an der Misere der Kirche geändert.

2. Kirche darf nie ein Teilsystem der Gesellschaft werden. Sie muß in gewisser Weise immer in ihr ein Fremdkörper bleiben. Sie ist der Einbruch des Reiches Gottes in diese Welt. Genauer gesagt, sie weiß sich dahin unterwegs, wo die Spuren des Reiches Gottes, dessen Kommen Jesus gleichnishaft in Wort und Tat verkündet hat, schon sichtbar und spürbar sind: also „Kirche unterwegs“. Sie kann keine Institution sein wie jede andere. Sie ist schon gar nicht der ideologische Büttel des Staates, der mit ihrer Kraft und Stärke seine Bürger in früheren Zeiten zur Wohlanständigkeit, Zuverlässigkeit und Staatstreue zu erziehen versucht hat, so nützlich diese Eigenschaften bei seinen Bürgern sein mögen. Daß sich die Kirche dazu hergegeben hat, war zwar verständlich, denn nur so konnte sie auch eine landesweite Bedeutung erlangen und bis heute behalten, aber um den Preis, Dinge immer wieder mitmachen zu müssen und sogar gutzuheißen (jedenfalls nicht dagegen zu protestieren), die mit ihren eigenen Texten nicht in Einklang zu bringen sind; noch schlimmer, die das Gegenteil eines echten lebendigen Christusglaubens sind (man denke nur an Antisemitismus, Judenpogrome und -vernichtung im Dritten Reich). Mit der Legalisierung der Homosexualität haben wir heute in der Kirche ein anderes erhebliches Problem bekommen. Welchen Gehässigkeiten wird man nicht oft in der offiziellen Kirche ausgesetzt, wenn man die Trauung von Schwulen und Lesben offen ablehnt! Wir wollen die Grenzen der Toleranz nicht erkennen und daß wir sie z. T. schon längst überschritten haben (vgl. Röm 1, 18. 26-28)! Junge Familien mit Kindern, – was erwartet sie in unseren Kirchen? Wir haben noch viele Beerdigungen, aber wenige Taufen und so gut wie keine Trauungen. Alles Zufall? Demographischer Wandel? Wir sollten die Augen öffnen für die schwere Vertrauens- und Glaubenskrise in unserer heutigen Kirche! Schwulenseelsorge ja, ohne Wenn und Aber, aber für das kirchliche Amt sind bekennende Schwule nicht geeignet (obwohl sie in der Gesellschaft ein Recht haben für ihre Anliegen zu werben und notfalls zu kämpfen und darin auch von uns unterstützt werden müssen, um diskrimierungsfrei in unserer Gesellschaft leben zu können), weil das Menschenbild, für das die Kirche 2000 Jahre lang gestanden hat, nicht heute durch ein Bundesgesetz oder durch den Wegfall eines Bundesgesetzes ungültig sein kann. 4 Freilich muß es in der Kirche auch in diesem Punkt Ausnahmen geben dürfen, die die Regel bestätigen. Das hängt vom Einzelfall ab. Segnungen wie Tätigkeiten in der Kirche können jedenfalls von Homosexuellen niemals pauschal beansprucht („gebucht“) werden, so, als wäre die Kirche ein Dienstleister für die Gesellschaft oder bestimmte Minderheiten!

3. Transformation der Gesellschaft und der Kirche

Die Gesellschaften des Westens stehen für viele Einsichtige vor einer Transformation aus der kapitalistischen Profit- und Naturverwertungs-Gesellschaft in eine Natur-schonende Lebensgemeinschaft des Menschen mit der Natur, als deren Teil er sich mit seinem Können einzubringen hat, wenn er sich weiterhin im Sinne auch des Schöpfungsberichts als verantwortlicher Heger und Pfleger der ihm anvertrauten Ressourcen der Natur, die er auch in Zukunft für seine Lebensgrundlagen braucht, verstehen will. Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Freiheit nicht zu vergessen, waren und sind bleibende Grundsätze einer biblisch verantworteten kirchlichen Arbeit, wobei aber auch diese Begriffe sich schnell abnutzen können, wenn sie nicht mit entsprechenden Inhalten gefüllt werden. So oder so muß uns stets bewußt bleiben, daß die Kirche der Zukunft immer eine Kirche sein und bleiben muß, die dem Anliegen Jesu, seiner Reich-Gottes-Botschaft und -Praxis verpflichtet ist. Solidarität mit jedermann steht dabei nicht im Vordergrund! Es geht vielmehr immer um die liebende Zuwendung zum leidenden Menschen und um die Ausrichtung der Gemeinde Jesu auf eine neue Welt, die in einer wahrscheinlich sehr unvollkommenen Weltgesellschaft nur sehr mangelhaft abgebildet sein wird. Aber auch dort werden die Glaubensformen der Gemeinde Jesu ihren Raum finden können.

 

VI. Einige Fragen zum Abschluß

1. Verlange nicht als allgemeine ethische Regel etwas, was du selbst nicht halten und erfüllen kannst (was Änderung von Verhaltensweisen und andere Versprechungen betrifft). Nur was du selbst für richtig hältst und praktizierst, kannst du von anderen verlangen, sofern es überhaupt angebracht und möglich ist. Ist das zuviel verlangt?

2. Zwinge dich, das zu tun und zu verwirklichen, was du dir als realistisches Ziel vorgenommen hast, auch wenn es für dich schwer ist, die dafür notwendigen Schritte zu gehen, was die Kräfte und Mittel angeht, - erst recht dann, wenn es sich um ein allgemein gültiges und erwünschtes Ziel handelt. Wie schaffen wir es, konsequent zu sein?

3. Welchen Beitrag kannst speziell du dazu leisten, daß das gemeinsame Ziel erreicht wird? Kommt es auf deinen Beitrag tatsächlich an, gibt deine Haltung den Ausschlag, ob das Ziel erreicht wird oder ist dein Beitrag nur einer unter vielen, auf den es letztlich gar nicht wirklich ankommt?

4. Es gibt ethische Entscheidungen, die sich zwar in einer bestimmten, inzwischen vergangenen Situation als unumgänglich notwendig nahegelegt haben, aber hinterher als falsch, ja als verhängnisvollen Irrtum herausstellten. Wie kann man solche Fehler vermeiden? Oder wiedergutmachen? Oder sind es gar keine Fehler, auch wenn sie eine drohende Katastrophe nicht verhindern halfen, sondern in der Absicht sie zu verhindern, sie vielleicht sogar beschleunigt herbeigeführt haben? Wäre Nichtstun besser gewesen? (Das gilt auch für wirtschaftliche Entscheidungen, wenn ich das falsche Produkt herstellte, das keinen Erfolg am Markt gehabt hat …) Und wie steht es um meine Schuld bzw. Verantwortung bei solcherart falschen Entscheidungen?

5. Gibt es im Alltag überhaupt einen freien Willen? Müssen wir nicht tagtäglich bei unserem Handeln mit vielen, oft sogar unangenehmen Einschränkungen, Vorschriften und Rücksichtnahmen rechnen bzw. kämpfen, die sich wie ein undurchdringliches Dickicht über unsere Handlungsbereitschaft legen und diese sogar zum Ersticken bringen können? Was heißt hier also freier Wille, wenn es uns durch bestimmte Umstände oft sehr schwer, ja manchmal sogar unmöglich gemacht wird, die Welt oder auch nur unsere eigenen Lebensverhältnisse so einzurichten, wie wir es wollen und deswegen oft mit unsauberen Tricks arbeiten müssen, um diese Hindernisse zu umgehen?

6. Für welche Ziele lohnt es sich Widerstand zu leisten? Zweifellos gegen Unrecht und Ungerechtigkeit; natürlich auch gegen die Zerstörung von Freiheit und Liebe; aber auch gegen die Versuchung zur Anpassung an die herrschenden Trends, obwohl sie meistens der Botschaft Jesu zuwiderlaufen, und damit gegen die Vorliebe für bequeme Lösungen; ebenfalls gegen den eigenen Vorteil zum Nachteil der Allgemeinheit; zuletzt sei auch der notwendige Widerstand gegen Lüge, Opportunismus und Feigheit in der Kirche Jesu selbst erwähnt.

7. Kann das Vernunftsurteil das eigene Gewissensurteil für falsch erklären, wenn sie differieren? Gibt es das objektiv gute Ziel, das alle bejahen können?

 

Pfarrer i. R. Wolfgang Massalsky

(für den Teilkonvent  der EMB

in der „Luther“-Gemeinde, Bln-Schöneberg am 15. 5. 2021)

 

1 Siehe auch THWNT, Bd I unter dem Stichwort aretä, ein Begriff, der schon im jüd. Hellenismus (LXX) eine sehr große Bandbreite von Bedeutungen von „erstrebenswertem Gut“ bis zu „Ruhmestat“ und moralischer Tugend im Sinne von „Gerechtigkeit“ erhalten hat.

2 Vgl. THWNT I, 460, Z. 26f zu Phil 4,8; sowie 2. Petr. 1,5f, wo aretä mehr wie Kraft oder Lebenskraft verstanden wird. Beachte ferner zum Ganzen 1. Kor 1, 30, wo es heißt, daß das „In-Christus-Sein“ Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung [= Befreiung?] umfaßt.

3 Vgl. Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, 2007, bes. S. 57ff. Sein Ausgangspunkt sind Locke und Kant, er nennt und behandelt aber auch moderne Denker. Wenig plausibel erscheint mir das Reden von einem Wollen des Wollens zu sein, ein Wollen zweiten Grades, wenn es sich dabei um die Beeinträchtigung des freien Willens durch das eigene Suchtverhalten o.ä. handelt. Denn in Wirklichkeit ist dort eben kein freier Wille und kein verantwortliches Handeln möglich, wo man das eigene Suchtverhalten (wie jede andere Form von Egoismus) nicht mehr unter Kontrolle halten bzw. ausschalten und daher auch keine verantwortlichen Entscheidungen treffen kann.

4 Ich hörte sogar von einer zeitweiligen, sexuellen Beziehung zwischen einem GKR-Vorsitzenden und seinem Superintendenten, als wäre das das Allernatürlichste von der Welt.