Glück

„Jeder ist seines Glückes Schmied“

Über das Glück der Menschen in unsicheren Zeiten

Die meisten Ethiken, die ich kenne, haben das Thema Glück nicht ausdrücklich behandelt, obwohl es eigentlich selbstverständlich ist, daß der Mensch danach strebt: Glück im Beruf, Glück in der Liebe, Glück in der Ehe, Glück im Spiel ... Die amerikanische Menschenrechtserklärung von 1776 hat das persönliche Glücksstreben, engl. pursuit of happiness, sogar zum Grundrecht menschlicher Selbstbestimmung erhoben.

Aber worin besteht das Glück? Und  welcher ist der Weg zum Glück? Trutz Rendtorff, emeritierter evangelischer Sozialethiker in München, setzte sich 1980 kritisch mit der Vorstellung auseinander, daß die hedonistische (= auf die Verwirklichung des reinen Lustprinzips zielende) Befriedigung der Bedürfnisse der beste Weg zum Glück sei. Dabei gibt es in dieser Beziehung ja verschiedene Ansätze, je nachdem ob ich mir meine Bedürfnisse „leisten“ kann oder nicht. Aber viele denken inzwischen anders. Sonst wäre das Schuldenmachen nicht fast zum Volkssport geworden.

Anstatt die Bedürfnisse zu reduzieren, wenn man sie nicht mehr finanzieren kann, überlegen viele, wie sie ihrem Glück auf die Sprünge helfen können, z. B. durch waghalsige Unternehmungen, wobei sie bei hoher Verschuldung auch vor Schlimmerem nicht zurückschrecken. Kürzlich hat ein hoch verschuldeter Geschäftsmann sogar ein Kind entführt, um damit Lösegeld zu erpressen.

Einer der häufigsten Auswege aus der ökonomischen „Sinnkrise“ unserer Zeit ist das Glücksspiel (das auch von seriösen Banken in Form von hochspekulativen Börsengeschäften praktiziert wird, wie wir inzwischen wissen). Was bleibt mir auch anderes übrig, wenn ich nicht betteln will und mit den Händen zu arbeiten nicht gelernt habe (vgl. Luk 16, 3) oder aus Alters- bzw. Krankheitsgründen nichts mehr dazuverdienen und schließlich auch  nichts mehr versetzen und zu Geld machen kann.

Am beliebtesten und reellsten ist für den Durchschnittsbürger in Deutschland das altbewährte „Lotto“, obwohl man dort meistens auch nichts gewinnt, hin und wieder vielleicht einen Kleingewinn. Manche wollen mehr riskieren: Dazu gehen sie in die Spielhalle oder sogar ins Spielcasino. Aber wer dorthin geht, bei dem spielt Geld in der Regel entweder keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Der kann es sich zumindest im Moment leisten, sein eingesetztes Geld zu verlieren. Dem geht es weniger um die Aufbesserung des Haushaltsgeldes oder um das Geld für eine teure Operation oder ein neues Auto. Den reizt das Risiko als solches, das Gefühl, um hohe Geldbeträge mitbieten zu können, im Rennen zu bleiben. Ein Teil dieser Gesellschaft zu sein,  – und sei es als Verlierer! – das heißt: oben angekommen zu sein.

Manche, die es sich eigentlich nicht erlauben können, an einem Abend Hunderte oder Tausende Euro zu verlieren, tun es trotzdem und sogar immer wieder, verspielen dabei oft ihre ganzen Ersparnisse. Warum nur? Weil sie während einer Pechsträhne nicht aufhören können? Weil sie bereits süchtig sind?

Viele wollen in der Tat ihr Glück erzwingen nach der Devise: „Glück muß der Mensch haben!“ Aber hat er es immer? Immer dann, wenn er es sehnsüchtig braucht, vermutlich sogar am allerwenigsten. Dennoch können es viele nicht lassen, danach zu suchen. Sie gehen zur Wahrsagerin, um sich das Glück aus den Handlinien ablesen zu lassen, wetten auf Pferde oder auf Fußballspiele oder wie jetzt bei den bevorstehenden Wahlen auf diesen oder jenen Polit-Kandidaten. In England gibt es für fast jede Verrücktheit eine Wettannahmestelle.

Bei uns breiten sich die Spielhallen in einem rasanten Tempo aus. Wo vor ein paar Monaten noch Friseure oder andere nützliche Geschäfte waren, da steht neuerdings ein Salon für Möchtegern-Zocker. „Einarmige Banditen“, an denen so mancher Kneipenkunde früher stundenlang auf sein Glück wartete und dabei seinen ganzen Tagesverdienst verspielte, werden heute wahrscheinlich nur noch von Einzelgängern beglückt, die ihren Abend allein an der Theke verbringen müssen.

Heute werden den modern-toleranten Kunden nicht nur raffiniert ausgeklügelte Computerspiele, sondern Spiele zum Live-Miterleben (zB. „Big Brother“) angeboten. Die kosten zwar auch ihr Geld, aber bringen auch was: Eventkultur, Spaßgesellschaft. Die Glückspielautomaten-Industrie mausert sich zur Swinger-Glücks-Kultur. „Steigen Sie ein, machen Sie mit! Bei uns gibt es etwas, was Sie zuhause vor dem Fernseher selbst mit eingebauter Porno-Taste nicht erleben können.“ Nennen wir es Gemeinschaft, Freude, Ausgelassenheit, Abwechslung. Keine langweiligen Abende mehr. Partnertausch ist der letzte Schrei am Horizont der Lustgeplagten.

Die Glücksbringer-Kultur, die einst nur den Tüchtigen belohnte, hat sich heute andere Kundenkreise erschlossen: auf Betriebsfahrten, nach Geschäftsabschlüssen, das kleine Vergnügen nach getaner Arbeit. Wochenendausflüge, um Kunst und Kultur in den europäischen Metropolen zu genießen, sie werden gern auch zu Ausflügen in die Absteigequartiere jener Zentren genutzt, die hinter gewöhnlichen Häuserfassaden versteckt vielleicht auch in unserer Nachbarschaft ihre verlockenden  Angebote machen.

Partyservice ist zum Partnerservice geworden. Hony soi qui mal y pense (= Schäme sich, wer dabei an Schlechtes denkt), steht dazu passend auf dem Hosenbandorden, wie wir seit unserem Englandbesuch wissen.

Das unstillbare Verlangen nach Glück kann freilich auch zur Qual und sogar zum Skandal werden, wenn  man alles, was einem in der Hotelsuite vor die Finger kommt für einen Glücksbringer oder eine Glücksbringerin hält, obwohl er oder sie zufällig nur zum Zimmer-Service gehört.

Pursuit of happiness. Auch Christen haben das Recht, fröhlich und ausgelassen zu sein. Aber nicht alles, was uns da angeboten wird, ist immer auch gut und bekömmlich.

Die strenge christliche Ethik lehrt: Nicht alles, was uns als zu unserem Glück unbedingt erforderlich verkauft wird oder wir für unser Lebensglück halten, ist es auch tatsächlich. Vieles davon ist eher entbehrlich oder zumindest fragwürdig. Aber darf  man das einer Dienstleistungsgesellschaft überhaupt noch kritisch ins Stammbuch schreiben? Sie lebt doch von ihren gutgläubigen Konsumenten, ob es sich dabei um die angeblich so sicheren Kapitalanlagen, die rentensteigernden Versicherungen, die Überwachung der Nahrungsmittelherstellung, das saubere Wasser  – oder  um die glückverheißenden Freizeitbeschäftigungen handelt!

Und obwohl wir das alles längst wissen, lassen wir uns in vielen Bereichen unseres Lebens immer wieder aufs neue von falschen Perfektions- und Glücksangeboten blenden, bestellen und kaufen, was der Markt hergibt, besonders tragisch dann, wenn angesichts unserer begrenzten Mittel, die mit den wachsenden Bedürfnissen meist nicht Schritt halten, der Schuldenberg nicht mehr zu stoppen ist.

 

Überzogene Glücksvorstellungen scheinen mir auch in den Überlegungen eines Ethik-Schulbuches der Jahrgangsstufe 7 und 8 (13- bis 14jährige) von 2010 vorzuliegen. Dort heißt es, wenn uns eine der im  folgenden angeführten „Fähigkeiten“ (das sind die sog.  „Kompetenzen“, die der Unterricht zu vermitteln hat) fehle, wären wir nicht imstande, ein „gutes“, will heißen: sinnvolles und glückliches Leben zu führen.

Aufgezählt werden u. a.: Gesundheit, genug zu essen, Wohnung, Freude an Spiel und Erholung haben, soziale Bindungen in Familie und außerhalb aufbauen, sein Leben nach „guten“ Vorstellungen einrichten, Autonomie, bis zum eigenen Ende selbstbestimmt leben, Naturverbundenheit. Letztlich geht es um Kommunikation, Kritikfähigkeit,  um Übereinstimmung mit sich selbst und der Natur, wie es schon die alten Philosophen lehrten (z. B. Seneca, De vita beata = Über das glückliche Leben).

Wenn wir über all das verfügten, was hier aufgelistet wurde, sollte es also mit dem selbstgemachten Glück klappen, meinen die Schulbuchautoren an die Adresse der 13 bis 14jährigen gerichtet. Aber stimmt das wirklich? Daß einer das alles haben kann: Geld, Ansehen, Gesundheit und trotzdem nicht glücklich sein muß, kommt ihnen nicht in den Sinn. Abgesehen davon, daß jeder/jede in den aufgezählten Fähigkeitsfeldern auch seine/ihre sehr besonderen Defizite haben kann, und was dann? Werden wir zu einem Volk von Therapie-Bedürftigen gemacht?

Anderes fehlt – jedenfalls  in diesem Zusammenhang – vollständig, ohne das sich viele ihr persönliches Glück gar nicht vorstellen können: Begeisterung für eine gute Teamleistung etwa im Sport oder eine mutige Tat; Vorbilder, denen man nacheifern kann, wie z. B. in meiner Kindheit Albert Schweitzer, die ein ganzes Leben formen konnten;  Musik lieben; Stille erleben; sich verlieren können; für eine Sache sich einsetzen; mitwirken am Aufbau eines sozialen Netzwerks, wie es eine Gemeinde ist; den Menschen dienen; für Gerechtigkeit, Frieden und eine gesunde Umwelt kämpfen. Wenn das alles auch zum Glück eines Menschen gehören kann, wo beginnt das Glück, wo endet es? Die termingerechte Ausschüttung von Glückshormonen (Endorphinen, wie die Ärzte sagen) ist nur eine chemische Reaktion. Echtes Glück erleben setzt sie in Gang.

Was sagt Jesus zu diesem Komplex? „Was nützte es uns, wenn wir (in unserem Glück) die ganze Welt gewönnen und nähmen Schaden an unserer Seele?“

Das Glück, das den Schulbuch-Ethikern vorschwebt, soll  handfest und materiell erreichbar sein, eben das Glück dieser Erde. Das Glück des „siebten Himmels“, das Glück eines durch Umkehr zu Gott neu geschenkten und gestalteten Lebens ist für sie offenbar ungreifbar und weltfremd. In der Tat: So bleibt nichts anderes übrig, als das Glück in die eigene Hand zu nehmen – mit all den negativen Folgen, die das oft hat.

 

Wolfgang Massalsky, 30. 8. 2011

T. Rendtorff, Ethik I/II, 2. Aufl. 1990/1991 (1980/81)