Jubiläum 2011

100 Jahre Erlöserkirche

 

Im Mai dieses Jahres, genauer gesagt vom 8. bis 15. Mai feiern wir den 100. Geburtstag unserer Kirche und wir freuen uns besonders darauf, dass auch unser Bischof Dr. Dröge dabei sein kann.

Am 14.  Mai 1911 war  sie einst in Gegenwart des Prinzen August Wilhelm von Preußen eingeweiht worden. Die Ära von Thron und Altar ist bald darauf erloschen. Eine neue stürmische Zeit brach mit der Ausrufung der Republik an. Und bald danach wieder eine andere, die durch die versuchte ideologische Gleichschaltung der Kirche durch den NS-Staat gekennzeichnet war, eine Zeit der Kämpfe, in der auch unsere Gemeinde und besonders einer unserer Pfarrer manchen Zerreißproben ausgesetzt war, und schließlich als Ergebnis dieser schrecklichen Zeit der Trümmerhaufen am Ende des Krieges, eine Ruine unter Ruinen.

Was hat diese „Dame“ nicht alles in ihren 100 Lebensjahren an Höhen und Tiefen erlebt und erlitten! Bis die Gemeinde sich in ihr erneut zu gemeinsamen Gottesdiensten sammeln konnte, das war 1958, mussten Gottesdienste und sogar Konfirmationen viele Jahre lang in der 1. Etage des Gemeindehauses abgehalten werden, weil der Wiederaufbau des Kirchenschiffs und die Erneuerung des Westwerks sich so lange hinzog. Trotzdem erinnern sich noch viele gern an die Zeit, die sie damals hier erlebten.

Unsere Kirche hat in den epochalen Umbrüchen unserer Geschichte für viele Mitbürger und Mitbürgerinnen, die sogar im roten Arbeiterbezirk Moabit lange Zeit mit der Christengemeinde fast identisch waren, das Erscheinungsbild und die innere Struktur des Lebens in unserer Region mitgeprägt und mitgeformt – zusammen  mit ihren „Kirchenschwestern“ St. Johannis, Heilige Geist, Kaiser-Friedrich-Gedächtnis, dazu Heiland und Reformation, die inzwischen in der neuen Gemeinde Moabit West aufgegangen sind.

Einst als  Ableger der älteren Heilandskirchengemeinde und im Hinblick auf die neu zu schaffende Erlösergemeinde gegründet, um den Abstand der Kirche von der Arbeiterschaft am westlichen Rand des damaligen Kirchenkreises Berlin Stadt II zu verringern, kam es schon bald zu einem regen pastoralen und seelsorgerischen Wirken mit für heutige Verhältnisse erstaunlichen Zahlen von Gottesdiensten (Sonntagvormittag und -abend) und Amtshandlungen (Taufen, Trauungen, Konfirmationen). Mit dem später erbauten Pfarr- u. Gemeindehaus am Wikingerufer mit seinen Diensten und Angeboten war die Volkskirche auch in diesem Bereich Moabits voll funktionsfähig.

Heute wie damals ist das wuchtig wirkende, abwehrbereite Westwerk unserer Kirche, der Abteikirche von Corvey nachempfunden, für viele „Spreekieker“, Kanuten, Fracht- und Ausflugsschiffer eines der Wahrzeichen auf ihren Fahrten durch die Wasserstraßen Berlins, unter Brücken hindurch, an Häuserschluchten und Parks sowie Industrie- und Forschungsstätten vorbei. Wie vor hundert Jahren winken ihre beiden Türme auch heute noch vielen Wasserwanderern, aber auch Autofahrern, Radfahrern und Fußgängern, Menschen, die zur Arbeit fahren oder am Abend auf dem Weg in den Feierabend sind, einen freundlichen Willkommensgruß zu. Und wenn „Offene Kirche“ ist, hält so mancher bei ihr an und besucht sie auch von innen, freut sich aus dem Gedränge des Verkehrs draußen in ihre Mitte einkehren, für ein paar Minuten stille werden zu können.

Also Grund genug dankbar zurückzublicken, eine Woche lang diese Zeit Revue passieren zu lassen, dabei den Blick immer auch nach vorne gerichtet, nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Zukunft zugewandt.

Viele Generationen haben am Bau dieser Kirchengemeinde und ihrer Kirche mitgearbeitet. Während die Ufer der Spree mit ihren unterirdischen Wasserarmen sich in dieser Zeit kaum verändert haben, strebt die Gemeinde neuen Ufern zu: In diesem Jahr wurde die Erlösergemeinde Teil des neugegründeten Tiergartener Pfarrsprengels. Vielleicht gelingt es uns, daraus eines Tages eine neue Gemeindekonstruktion zu errichten, die die Gemeinden Tiergartens zu noch engerer Zusammenarbeit verbindet. Das Charakteristische unserer Gemeindearbeit, was wir als Mitgift in eine zukünftige Regionalgemeinde Tiergarten einbringen können, ist neben der großen Bedeutung der Kirchenmusik und der Chorarbeit für Jung und Alt (einschließlich Posaunenchor), das soziale Engagement: So wurde nicht nur das Spätcafé bei uns aufgemacht mit Essen und anderer Versorgung für viele Obdachlose und sozial Schwache, es kam in den letzten Jahren auch die Einrichtung  „Laib und Seele“ dazu, wo Menschen aus der ganzen Region und darüber hinaus sich das ganze Jahr über Nahrungsmittel verschiedenster Art abholen können.  Daneben wurde die Verbindung von Politik und Kirche durch besondere Veranstaltungen nie ganz aus dem Blickfeld verloren, aber auch der interreligiöse Dialog hat hier,  seitdem dieser Stadtteil durch seine muslimischen Mitbürger ein anderes Gesicht bekam, reges Interesse gefunden. Auch bildungshungrige und theologisch interessierte Erwachsene konnten hier auf ihre Kosten kommen, und deutsche und ausländische Kinder werden nicht nur in unserer Integrations-Kita betreut, sondern sie können in der Kiki auch das Einmaleins der Bibel und eines Lebens mit dem großen Kinderfreund Jesus lernen.

Wohin werden wir gehen, wenn  wir nach dem Fest und den gemeinsam verbrachten Stunden wieder auseinander gehen? „Wohin sollen wir gehen?“, fragte schon Petrus seinen Herrn. „Nur du hast Worte des ewigen Lebens“. Worte ewigen Lebens, erlösende Worte mitten in unserer Arbeits- und Leistungsgesellschaft, das wollte die Erlösergemeinde den Menschen, die zu ihr kamen anbieten, Brot des Lebens, eine Speise, die Herz und Seele stärkt und zeigt, daß der Mensch nicht nur von dem täglichen Brot lebt, das sauer verdient werden muss, „sondern von einem jeglichen Wort, das aus Gottes Mund kommt“. Aber auch umgekehrt: Niemand sollte auf ein besseres Jenseits vertröstet werden, dem das Nötigste zum Leben verwehrt wird.

Dazu möge der Gemeinde als ein wichtiger Schwerpunkt in dieser Region noch lange Zeit Platz zum Wirken gegeben sein. Ihre Stimme war in der Vergangenheit nicht unwichtig. Hoffentlich kann sie zum gemeinsamen Besten ihre Gaben, ihre Kraft und ihre Glaubensbereitschaft auch weiterhin klingend und singend, betend und verkündigend, arbeitend und lachend, tröstend und segnend in den Gabenteller der Gemeinden dieser Region einbringen, damit das Werk der vielen Pfarrer und Pfarrerinnen, der Kantoren und Kantorinnen, der Gemeindehelferinnen und Jugendarbeiter, der Haupt- und Ehrenamtlichen, aber auch das Leiden und Kämpfen, Bangen und Hoffen nicht umsonst gewesen ist. Viel hängt freilich auch von den Gemeindegliedern selbst ab, wie sehr sie ihrer Kirche treu bleiben, was sie zu ihrem Erhalt tun, was sie dazu in Wort und Tat beitragen können. Kirche zu bauen, zwischen Dovebrücke in Charlottenburg, Turmstr., Huttenstr., Kaiserin-Augusta-Allee bis zur Jagowstr. und Hansabrücke, ist jetzt ein Jahrhundertwerk geworden. Wie wird sich die Kirche in den nächsten Jahrzehnten entwickeln? Wahrscheinlich kleiner, aber muss das heißen schwächer?

Möge sie uns weiterhin begleiten auf unseren Lebenswegen, die alte und immer wieder junge Erlöserkirche. Darauf richten sich heute die  Wünsche vieler, wenn sie der 100 Jahre alt gewordenen Kirchendame gratulieren kommen, wozu wir Sie alle sehr herzlich einladen und willkommen heißen.                                                             

 

Pfarrer Wolfgang Massalsky

 

Nachtrag:

Weil in dieser kurzen Würdigung unserer Kirchengemeinde aus Anlaß des 100 jährigen Bestehens der Erlöserkirche nichts über Paul Tillich gesagt werden konnte, der ein knappes Dreivierteljahr lang zwischen 1912 und 1913 die Geschicke der Gemeinde und auch die Wahl des ersten Gemeindepfarrers der Eröserkirchengemeinde leitete, sei hier nur Folgendes zu seiner Person gesagt:   Paul Tillich, geb. 1886, war einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts. 1933 emigrierte er, nachdem er seine Frankfurter Professur verloren hatte, nach Amerika, wo er 1965 starb. Er galt als Mitbegründer des „Religiösen Sozialismus“. Manche meinen, dazu trugen auch seine Erfahrungen in der damaligen Erlösergemeinde bei. Eines seiner Werke war zu meiner Zeit Pflichtlektüre im Religionsunterricht in der Oberstufe, nämlich „Der Mut zum Sein“. (Zu Tillichs Wirken in der Erlöserkirche hielt Prof. Dr. E. Sturm in der Jubiläumswoche einen anregenden Vortrag.)