Religion und Gesellschaft

Religion in einer säkularen Gesellschaft (Habermas)

1. Das Werk des Frankfurter Sozialphilosophen Habermas 1 bewegt sich wissenschaftstheoretisch zwischen den beiden von Poppers "Logik der Forschung" (1935) einerseits und Gadamers "Wahrheit und Methode" (1960) andererseits bezeichneten Polen. Deren Arbeiten waren für viele Gelehrte der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sowohl der naturwissenschaftlichen als auch der geisteswissenschaftlichen Fächer, insbesondere für Fächer, die weder der einen noch der anderen Seite direkt zugeordnet werden konnten (wie Soziologie und Theologie, die oft sehr heterogene methodische Ansätze kombinieren) von epochaler Bedeutung bei ihrer Suche nach einem eigenständigen philosophisch begründeten Standpunkt im Streit der Wissenschaften um Wahrheit.

2. Habermas ist es dabei im Gegenzug zu einseitig szientistischen Soziologie-Entwürfen darum gegangen, die Vorzüge des Methodendualismus in den Sozialwissenschaften herauszuarbeiten, ihn nicht als ein Übel zu behandeln, das es zu überwinden gelte, sondern vielmehr produktiv in die eigene wissenschaftliche Arbeit zu integrieren.

3. Im Prinzip ist er für die Rezeption der philosophischen Hermeneutik Gadamers in das Lehrhaus der Soziologen verantwortlich. Dabei hat er sich bemüht, zu zeigen, dass eine rein empirisch-positivistisch verfahrende Soziologie und Psychologie den Menschen mit seinen in Lebenswelten verwurzelten Intentionen verfehlen muß und dass eine unverkürzte Darstellung der Lebenswirklichkeit des Menschen nicht nur auf klinisch reiner Beobachtungssprache (Messungen, Statistiken, Gesetze und Hypothesen) begründet sein könne, sondern in der Regel die Selbstsicht der Menschen und die Selbstbeschreibung ihres Tuns und Lassens in ihrer Umwelt benötigt, um ihre Lebenswirklichkeit angemessen beurteilen zu können. Insoweit ist er der in den 50er und 60er Jahren in Blüte stehenden, hermeneutisch operierenden Theologie (der Bultmann-Schule) sehr nahe gekommen.

4. Allerdings hat er gleichzeitig kritisch die Grenzen der traditionsverhafteten Hermeneutik Gadamers aufgezeigt und daneben eine Ideologiekritik entwickelt, die am Maßstab der Emanzipation von Gesellschaften in Richtung auf gewaltfreie, herrschaftsfreie Kommunikation ihrer Inidividuen orientiert bleiben müsse. Das ließ ihn (fast zeitgleich mit dem systematischen Theologen Pannenberg 2) nach Zuständen einer utopischen Gesellschaftsordnung fragen, die in unserem Handeln (Intentionen) "antizipiert" seien. In der Frühphase seiner Arbeiten waren die Postulate einer solch neuen Gesellschaft noch stark marxistisch-materialistisch besetzt, doch waren sie im Prinzip auch davon ablösbar zu gestalten.

5. Zukunft gewinnt eine Gesellschaft in dem Maß, wie es ihr gelingt, den einzelnen Individuen ein möglichst hohes Maß an Autonomie und Selbstverwirklichung zu ermöglichen. Dabei spielt die Religion für Habermas keine konstitutive Rolle. Immerhin grenzt er das Religiöse nicht gänzlich aus seiner Gesellschaftslehre aus. Einzelne Elemente des jüdisch-christlichen Menschenbildes bleiben für ihn unverzichtbare Bestandteile auch einer zukünftigen Gesellschaftsordnung. Dazu gehören Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Daß sie keine von der Offenbarung Gottes und seiner Heilsgeschichte ablösbaren Werte sind, macht er sich jedoch nicht klar. Für ihn sind Demokratie, Menschenrechte und Fortschritt universelle Menschheitsziele und nicht an einen bestimmten kulturellen Hintergrund gebunden, erst recht nicht an konkrete religiöse Traditionen. Daher ist sein Bekenntnis zu bestimmten Grundwerten des Christentums eher unspezifisch zu nennen.

6. Geschichte ist für Habermas offenbar der Raum, in dem experimentell durch soziales Handeln und Kommunikation (rationaler Diskurs in der Öffentlichkeit) die Möglichkeiten und der Rahmen einer solchen Gesellschaftsordnung ausgelotet bzw. institutionell abgesteckt werden sollen.

7. Religion hat hier in erster Linie die Funktion eines Wertesystems, Normen (Gebote) zu vermitteln, die das regelgeleitete Zusammenspiel intentionalen Handelns in Interaktionen und Kontingenzen ermöglichen sollen. Gleichzeitig kann und soll Religion neben anderen Konzeptionen humaner Vernunft motivierend das eigene Handeln auf ein gemeinsames Ziel hin steuern helfen. Wie gesagt, es geht dabei vor allem um Werte und Normen, von "Gott" braucht nicht direkt die Rede zu sein.

8. Religion ist an sich nur ein kulturbildender Faktor unter anderen. Nur wenn es ihr gelingt, sich in das Regelwerk der säkularen Gesellschaft mit ihren demokratischen Spielregeln und wissenschaftlichen Wahrheitsstandards einzupassen, kann sie eine gewisse Relevanz für die Menschen erreichen bzw. zurückgewinnen. Nur so hat sie eine Überlebenschance in der säkularen Gesellschaft. Dabei braucht ihr Mitspiel nicht auf bloß private Lebensvollzüge beschränkt zu werden.

9. Die Gefahr, der sie ausgesetzt ist, ist, dass sie durch die Umsetzung und Übersetzung in die Bedürfnisstruktur der säkularen Gesellschaft ihr eigenes Gepräge verliert, barthianisch gesprochen, ihre Weltfremdheit, ihre Widerständigkeit, ihre Jenseitigkeit einbüßt.

10. Wieweit kann also Religion in der säkularen Gesellschaft ihre Virulenz und Sprengkraft bewahren, gleichwohl eine konstruktive integrale Rolle in dieser Gesellschaft spielen? Das ist vielleicht auch die ihr nach dem 11.9. letzten Jahres am häufigsten gestellte Frage...

Pfarrer Wolfgang Massalsky

Thesen zum gemeinsamen Gespräch

über die (scheinbare) Renaissance der Religion in unserer Gesellschaft

im Berlin-Brandenburger Konvent der Michaelsbruderschaft am 4. 5. 2002

 

1

Für das hier behandelte Thema sind grundlegend von Jürgen Habermas:

 

  1. Zur Logik der Sozialwissenschaften, 1967
  2. Erkenntnis und Interesse, 1968
  3. Theorie des kommunikativen Handelns I / II, 1981/1982

2

vergleiche dazu von Wolfhart Pannenberg: