Bergpredigt

Für den AK am 19.10.23 Thema: Einführung in die Bergpredigt, Teil I

 

I. Vor-Überlegungen zur sog. Bergpredigt Jesu

 

 

1. Es darf als gesichert gelten, daß die Bergpredigt in dieser Form, „an einem Stück“, so nie von Jesus gehalten worden ist. Selbst „der“ Berg kann nicht genau lokalisiert werden, wo Jesus sie gehalten haben soll. Vielleicht war es der Hügel, den er vorher mit seinen Jüngern bestiegen hatte. Vielleicht handelt es sich dabei auch nur um den Versuch, eine gewisse Parallele zu Mose und zum Berg Sinai herzustellen und die Bergpredigt Jesu als eine Art „neues Gesetz“ und ihn selbst als „zweiten Mose“ zu stilisieren.

 

2. Sie könnte also als „seine“ programmatische Rede an die ganze Nation (Israels) verstanden worden sein, also nicht nur an die gleichsam die „Elite“ seiner Bewegung bildenden Jünger gerichtet, die man von der Masse weiterer Sympathisanten, die ihn bei seinen Ansprachen umlagerte, unterscheiden muß. Darüber hinaus konnte sie sogar als das Manifest einer neuen Menschheit in die Annalen der jungen Kirche eingehen und insofern sogar an die ganze Welt adressiert sein, und zwar in dem Sinne, daß nur eine radikale Friedensbewegung dem kommenden Reich Gottes entspricht. (Wobei man beachten muß, nicht jedes Friedensgerede meint echten Frieden! Echter Frieden verlangt immer auch die Bereitschaft zur Versöhnung, die die Streithähne vorbehaltlos wieder zusammenbringt!)

 

3. Zum Inhaltlichen: Es ist zwar durchaus möglich, daß die Struktur dieser Rede und ebenso die dort behandelten Themen ganz oder wenigstens teilweise auf Jesus zurückgehen. Aber ebensogut können wesentliche Teile und damit die Struktur von späterer Hand stammen. Und ob der schriftliche Wortlaut der Bergpredigt bei Mt sich mit dem mündlichen Wort Jesu deckt, wer weiß das so genau zu sagen? Selbst heute erleben wir oft, daß spätere Wiedergaben vor einer gewissen Zeit gehörter Reden bei den Hörern erheblich voneinander abweichen können. Und dazu kommt, daß Jesus ja kein Wort Griechisch sprach, sondern nur Aramäisch. Immerhin gibt es verwandte Texte und Anklänge an diese „Predigt“ im Munde Jesu auch anderswo. Ja, geht sie überhaupt über den Horizont der alttestamentlichen Gottesforderungen an das Gottesvolk wesentlich hinaus?

 

4. Also alles in allem nicht nur ein hermeneutisches Problem der Auslegung, sondern vor allem eine Frage der literarischen Herkunft und Qualität der Texte. Es wäre zweifellos wichtig zu wissen, wieviel daran auf das Konto literarischer Konstruktion und Fiktion der Gemeinde Jesu geht, und wieviel echtes „Jesus-Gold“ in den Evangelien des NT enthalten sein mag. Aber wir können es leider nicht herausdestillieren. Auch das Zerschlagen der großen Einheiten in kleinere Fragmente und ihre Auflösung im Säurebad historischer Kritik hat es uns nicht wirklich sichtbar gemacht, und es wird vermutlich auch immer dabei bleiben. Denn auch in der kleinsten Einheit ist das „Jesus-Gold“ immer von einem Mantel konstruktiver Hüllen umschlossen und in dem uns gegebenen literarischen Material nicht rein erhältlich. Jedenfalls ist die Behauptung, daß die Bergpredigt tatsächlich Wort für Wort von Jesus stammt, eine durch nichts bewiesene Behauptung.

 

5. Was wir aber sicher wissen, ist: In dieser Textgestalt haben die am Ende für den Text des Neuen Testaments verantwortlichen Gemeindeleiter und Theologen bzw. die für die Bewahrung des jesuanischen Erbes berufenen Sammler und Verwalter der vorwiegend mündlichen Überlieferungen Jesu zumindest gemeint, ihn verstehen und darstellen zu müssen, damit sein Geist auch in den nachfolgenden Generationen in ihrer Mitte treu bewahrt und wirksam werden kann.

 

6. Daß aus dieser selbstbewußten, aber eher im Untergrund und auf Schleichwegen als in der großen Öffentlichkeit operierenden Bewegung eines nicht so fernen Tages unter dem Schutz des Staates eine mächtige Kirche werden sollte, konnten sie zum damaligen Zeitpunkt sicher nicht ahnen und hätten das vielleicht sogar als zutiefst anti-jesuanisch abgelehnt.

 

 

II. Vorläufiger Überblick über die wichtigsten Bestandteile der sog. Bergpredigt nach Mt:

 

Mt 5

 

  • Die Seligpreisungen: „Selig sind. die da … geistlich (?) arm, … Leid tragen, … Sanftmütigen, ...hungert nach Gerechtigkeit, … die Barmherzigen, … reinen Herzens, … Friedfertigen, … (um der Gerechtigkeit willen) verfolgt werden, … (um meinetwillen sich schmähen und verfolgen lassen …)“

  • Salz der Erde, Licht der Welt, Stadt auf dem Berge

  • Die Gültigkeit des Gesetzes und unsere Gerechtigkeit

  • Die Antithesen: Ihr habt gehört, ich aber sage euch.

Zu den Themen: Nicht erst das Töten bringt uns vor das Gericht, schon das verbale Niedermachen des anderen in höchster Wut bringt uns dorthin, ja es zerstört und vergiftet jedes gute Miteinander auf Dauer. Jemanden zu Unrecht beschuldigen oder anklagen ist schon durch das Gesetz verboten („falsch Zeugnis“), aber auch wenn wir im Recht sind, ist Versöhnung besser als Vergeltung üben. [Ähnlich der Gegensatz von Gottes Wort und Opferdarbringung (Jer 7, 3ff., 22f.).] Verständigung mit dem Gegner ist immer besser als das Urteil des Gerichts abzuwarten.

Vom Ehebrechen. Vom Schwören. Von Rache und Vergeltung.

Von der Feindesliebe. Von der Vollkommenheit.

 

Mt 6

 

  • Almosengeben

  • Das Gebet des Herrn („Vaterunser“)

  • Vom Fasten

  • Vom Schätzesammeln und Sorgen

  • Man kann nicht zwei Herren zugleich dienen: entweder Gott oder dem Mammon!

  • Essen und Trinken oder Bekleidung sind weniger wichtig als das von Gott geschenkte Leben. Unsere eigentliche Sorge muß auf Gott, auf das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit gerichtet sein, nicht auf die Äußerlichkeiten des Lebens.

 

Mt 7

 

  • Wider das heuchlerische Herummeckern am andern: vom Splitter in dessen Auge und dem Balken im eigenen!

  • Nicht die Perlen (das Heilige) vor die Säue werfen!

  • Vom Bitten, Suchen und Anklopfen: Gott weist unsere Bitten nicht schroff zurück, sowenig wie dies ein Vater gegenüber den (demütigen) Bitten eines Sohnes tun wird.

  • Die sog. Goldene Regel (= Generallinie der Bergpredigt ?): Was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das sollt ihr ihnen auch tun. Darin bestehen das Gesetz und die Propheten. Ist das wirklich das, was Jesus meint?

  • Die enge Pforte und der schmale Weg zum Leben im Gegensatz zur breiten Straße der ...

  • Von den falschen Propheten, sie sind wie Wölfe im Schafspelz.

  • Vom guten und faulen Baum: An den hoffentlich guten Früchten sind die Menschen zu erkennen.

  • Nicht bloßes Herr-Herr-Sagen genügt, sondern „den Willen meines Vaters im Himmel tun“ ist entscheidend. Wer behauptet etwas Besonderes „im Namen“ Jesu zu tun, auch wenn es noch so wertvoll zu sein scheint, aber den Willen Gottes mißachtet, der kann nicht ein Freund Jesu sein, zu dem er sich bekennt, wenn es darauf ankommt, sondern er wird als „Übeltäter“ in bezug auf die Sache Jesu entlarvt werden.

  • Es kommt also auf das Tun der Rede Jesu an, nicht auf ein im engeren Sinne bloß religiöses Verhalten: Ein stabiles Haus braucht zuerst einen stabilen Untergrund (Fels). Jesu Rede (Bergpredigt) will dazu dienen, die richtigen Schlußfolgerungen und Verhaltenskonsequenzen aus dem von Jesus als beispielhaft vorgestellten Verhalten zu ziehen.

 

[Nachtrag zur Wirkung dieser Rede: Diese Rede schlug bei seinen Hörern voll ein. Das höchste Lob, das dieser Rede gezollt werden kann, ist das „Entsetzen“ über diese Lehre und die Feststellung, daß er mit „Vollmacht“ gesprochen habe, „nicht wie die Schriftgelehrten“.]

 

 

Kritische Anfragen:

1. War ein stabiles Haus wirklich das, was Jesus wollte? Zog er nicht aus den angeblich stabilen Häusern aus? War seine Bewegung nicht dauernd unterwegs und unbehaust? vgl. dazu auch Hebr 13, 13f. - Die Toten sollen die Toten begraben vgl. Mt 8,22 par. Lk 9, 60, die Lebenden ziehen mit ihm mit, das ist Nachfolge vgl. Mt 4, 19ff. Sie sollen nicht einmal Proviant (Lk 10, 4) oder passende Bekleidung mitnehmen … Sich sorgen um das tägliche Wohl ist nicht angebracht. Es kommt nur auf die Sorge um das eigene Heil an, um die Zukunft im Reiche Gottes … Eine solche Hals-über-Kopf-Nachfolge ist ungewöhnlich, es ist als ob man ein brennendes oder einsturzgefährdetes Haus verläßt … vgl. die Geschichte mit Lots Weib.

2. Es gibt also im NT bereits eine verwirrende Vielfalt von Jesus-Worten, die sich teilweise sogar zu widersprechen scheinen, je nach der Perspektive, in der sie stehen … (Suchen und Zusammenstellen)

3. Abkehr von der Seligkeit im Sinne der Bergpredigt Jesu, z. B. bei Mk 16, 16: „Selig ist: wer da glaubt und getauft wird...“ Das scheint nicht mehr die Denkweise Jesu zu sein. Hier liegt eher ein Denken im Sinne des christlichen Bekenntnisses in Verbindung mit der Taufe auf den Namen Jesu vor.

 

III. Parallelen zu unserem Text Mt 5-7 (Auswahl)

 

1. Die nächsten Parallelen zur Bergpredigt liegen in der Feldrede des Lukas vor (Luk 6, 20-49), die ich mir schon wegen ihrer Kürze eher als eine authentische Rede Jesu vorstellen kann. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: Bei Luk steht mehr die soziale Frage im Mittelpunkt, bei Mt haben wir es dagegen mit einer eher theologischen (im Geiste Gottes als notwendig erkannten) Gegenüberstellung von echter und falscher Gerechtigkeit zu tun, die aus dem Verhältnis zu Gott folgt.

 

2. Ein Vergleich mit Ps 1 (=> Seligpreisung) zeigt: Insgesamt die gleiche Tendenz wie in der Bergpredigt. Es geht um die wahre Gesetzeserfüllung, die eben nicht nur in einer oberflächlichen Gesetzesobservanz besteht, sondern nach dem tieferen Sinn des Gesetzes fragt. Daraus schlußfolgert Ps 1, daß der Weg der Gottlosen = Gesetzesbrecher keinen Bestand vor Gott haben wird. Was aber unterscheidet beide Texte? Für viele Ausleger eine gewisse Genügsamkeit und Unfehlbarkeit des Gesetzes in Ps 1. Andererseits scheint das Sinnen über das Gesetz doch nahezulegen, daß es auf die richtige Befolgung des Gesetzes ankommt. Jesus erläutert diesen Sachverhalt, indem er die Heuchler davon ausnimmt: Sie befolgen das Gesetz nur oberflächlich, nicht wirklich seinem Sinne nach. Denn wenn es heißt: du sollst das und das nicht tun (=> apodiktisches Gesetz), z. B. nicht töten, so schließt das für ihn auch ein, daß schon jeder bösartige Gedanke über den Nächsten eine Art Töten darstellt und im Endeffekt dahin führen kann. Wir erkennen also, daß Jesu Bergpredigt ganz und gar im AT verwurzelt ist, aber er radikalisiert das Verständnis dieser ihm vorgegebenen Texte. Er will kein Schlupfloch zulassen, durch das wir seiner strengen Logik entrinnen wollen (wie es die Wenn-dann-Gesetze => kasuistisches Gesetz, auf Fälle bezogen, bieten).

a) Wo kommen sonst noch Seligpreisungen an prominenter Stelle vor? (Siehe Konkordanz)

b) Für die Einzelheiten lassen sich noch eine Reihe anderer Texte angeben: Jes 57, 15; Jes 61, 1; Jes 51,19 (über das rechte Opfer): Ps 37, 11; Mk 12 (Doppelgebot der Liebe)

 

3. Antithesen: vgl. Losung und Lehrtext des heutigen Tages: 1. Sam 2, 30; Röm 2, 4.

a) „Ich aber sage euch“: Wer so spricht, besitzt eine echte oder angemaßte Autorität. Woher nimmt Jesus diese Autorität? Sie geht offenbar nicht aus der Bergpredigt selbst hervor.

b) Kann sie nachträglich durch sein Leben und Sterben begründet werden? War die Auferstehung Jesu so verstanden worden?

 

4. Was Jesus sonst noch von seinen Jüngern verlangt:

Wer das Schwert nimmt, kommt durch das Schwert um (Mt 26, 52)

(weitere Belege)

 

IV. Ist die Bergpredigt überhaupt richtig verstanden worden?

 

1. Man hat die Brisanz der Bergpredigt als Rede Jesu an die Nation, die hier stellvertretend von seinen Jüngern und den übrigen Anhängern  repräsentiert wird, dahingehend gemeint abschwächen zu müssen, daß sie gewissermaßen nur eine Ethik für eine kurz vor dem Einbruch des Reiches Gottes stehende (interimistische) Epoche in der Gemeinschaft Jesu sein kann, oder für eine abseits von dieser Welt lebende klösterliche Gemeinschaft (wie vielleicht in Qumran). So konnte die Bergpredigt später im Mittelalter verstanden werden. Die Strenge der Verhaltensvorschriften Jesu lasse sich nur mit einem von dieser Welt abgewandten Leben (Weltflucht) vereinbaren, nicht mit dieser (bürgerlichen) Welt und ihrem Alltag, der die Menschen vor ganz andere Aufgaben stelle, die zu erfüllen es zumindest eines säkularen (wenngleich von der Kirche abgesegneten) Pflichtenkatalogs bedürfe.

2. Ist das Christentum daher nicht gezwungen gewesen, um im Alltag eine „christliche“ Welt aufbauen und den in ihr sich stellenden Aufgaben gerecht werden zu können, sich nach und nach von vielen Forderungen Jesu an seine Gemeinschaft zu verabschieden? Aber bis wohin dürfen wir dieser Tendenz nachgeben, ohne uns gleichzeitig von Jesus zu verabschieden, wie das viele heute tun, die Kirchenoberen als erste? (Sie sind sicher am meisten dankbar gewesen für den angeblichen Satz Jesu „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ vgl. Mt 22, 21.) Andererseits, wie sonst sollte zukunftsoffen an einer neuen Welt gebaut werden, nachdem sich die Reichgotteshoffnung zunächst als unerfüllbar erwiesen hatte, als indem die Kirche versuchte, auf der einen Schulter die Welt zu (er)tragen und auf der anderen Schulter die Hoffnung auf das Reich Gottes durch diese dem Vergehen ausgelieferte Welt hindurch zu tragen?

3. Das Problem war aber dann folgendes: Mußte sich die Kirche nicht durch diese Doppelaufgabe früher oder später die Hände schmutzig machen (schon durch die oft faulen Kompromisse zwischen Gott und Welt), bis dahin, daß sie ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren begann? Und mußte man schließlich nicht zugunsten eines neuen Weltverständnisses beginnen, die Welt aus den Händen der Kirche ganz zu befreien, um eine echte, nur auf die Welt bezogene Freiheit zu entwickeln, die sich von den zu engen Vorstellungen der Kirche ablösen mußte? Das ist die Situation seit der Aufklärung und zuvor schon die Sicht der Reformation gewesen (also Freiheit für die Welt, obwohl sie Gottes Welt bleibt, aber zugleich die Gebote Gottes ernst nehmen!). Damit aber wurde auch der Glaube immer mehr der Oberhoheit der Kirche entzogen und zu einer Sache des individuellen Verhältnisses von Mensch und Gott. Heute stehen wir vor der Frage: Wie notwendig ist Gott für das Bestehen des menschlichen Lebens und zur Wiederherstellung eines menschenwürdigen Lebens auch für den Durchschnittsbürger, der mehr und mehr seine eigenen Bedürfnisse zu seinem Gott gemacht hat, und der trotz der weltbedrohenden Klimakrise an seinem Besitz auch dann noch festhält, wenn das Schiff bereits im Untergehen ist?

 

Gesprächsthemen:

1. Zunächst die Frage, ob das ökologische Problem des Umgangs mit der Schöpfung in der Bergpredigt bereits angedeutet ist (ich würde sagen nein; höchstens wenn wir uns fragen, ob auch der Welt und ihren sonstigen Lebewesen das Gericht droht und wenn ja warum?)

2. Das Recht zur Selbstverteidung mit kriegerischen Mitteln? Oder kann man mit Pazifismus die Welt retten? Zumal Jesus an einer Stelle sagt: „Ich bin nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern das Schwert…“ (Mt 10, 34)

 

 

Wolfgang Massalsky, eingestellt am 22.10.23

 

 

Verwendete Literatur (unvollständig):

Biblisches Lexikon, hrsg. H. Haag, 1969 (1968)

ThWNT (zur Kontrolle)

K. Wegenast, Jesus und die Evangelien, 1965

J. Roloff, Neues Testament, 1999 (7. Auflage)

 

 

 

Für den AK am 16.11.23 Thema: Einführung in die Bergpredigt, Teil II

 

Einstieg ins Gespräch (Seligpreisungen und Anwendung)

 

1. Wer ist gemeint, wer ist angeredet? Sind wir, die Christen von heute oder die damaligen Jünger, gemeint mit „selig sind...“, oder sind (andere) Menschen gemeint, deren Elend himmelschreiend ist, und die trotzdem unter dem Schutz Gottes stehen, unsere Schutzbefohlene, um die wir uns kümmern sollen, deren Elend uns nicht egal sein darf ... ?

 

Und ist das abschließende Votum, daß die Jünger („ihr“!) „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ sein sollen, als eine Art Abschlußbilanz der Seligpreisungen oder als Aufforderung an alle übrigen Hörer zu verstehen, die richtigen Schlußfolgerungen aus der Haltung der Seliggepriesenen zu ziehen?

 

Die Hauptthemen der Bergpredigt (Weichenstellungen)

 

I. Die Armut des Geistes - Geist der Armut (pneuma in der Bergpredigt und sonst bei Mt)

 

2.1 Die Armen (im Geist) sind zwar unterteilt in zwei Gruppen: a) Leidtragende und b) Sanftmütige, die dann noch weiter unterteilt und charakterisiert werden als c) die nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden bzw. als d) die Barmherzigen: die Menschen reinen Herzens und Friedensstifter.

 

2.2 Aber kann man sie wirklich als zwei voneinander getrennte soziale Gruppen ansehen? Bilden sie nicht eine Einheit, wenn auch mit (temporär) unterschiedlichen Eigenschaften? Was sind das für besondere Menschen? Es sind nicht nur die Mitglieder der Gemeinde Jesu angesprochen, sondern alle Menschen, die in dieser Situation sind: Obwohl es ihnen materiell nicht gut geht, verglichen mit anderen Menschen, treibt sie etwas anderes an als das Streben nach materiellem Besitz und Wohlergehen. Sie suchen Gerechtigkeit und Frieden, auch wenn dies in einer Gesellschaft wie der ihrigen weltfremd, ja umstürzlerisch klingt.

 

2.3 Wenn Mt sonst von Geist redet (das ist allerdings nicht sehr oft), meint er entweder Gottes Geist, mit dem Jesus die bösen Geister austreibt und so Menschen heilt. Das sind also hervorgehobene Handlungen Jesu, die sich der Gemeinde Jesu bes. eingeprägt haben. Auch das Hinausgetriebensein Jesu durch den Geist in die Wüste gehört dazu. Oder er spricht sogar vom „heiligen Geist“ oder Geist des Gottes bzw. des Vaters, den Jesus bzw. die Jünger empfangen und durch dessen Kraft er bzw. sie etwas Besonderes tun (z.B. taufen, verurteilen, reden). Es wäre allerdings zu überprüfen, ob an den Stellen, an denen Mt von heiligem Geist spricht, etwas anderes gemeint ist als Gottes Geist. Soll hier eine gewisse Exklusivität hergestellt werden? Wenn pneuma sowohl göttlichen Geist als auch menschlichen Geist bezeichnen kann, ist es allerdings schwierig hier immer eine klare Entscheidung zu treffen, in welchem Sinn von Geist gesprochen wird.

 

 

3.1 Was bedeutet bei Mt „Arme im bzw. durch den Geist“? Bloß eine überflüssige Ergänzung gegenüber Lk, der hier nur von den gewöhnlichen (= sozial) Armen spricht? Als wollte Mt auch die geistig Minderbegabten nicht unerwähnt lassen1? Sicher nicht. Mt hält diese Ergänzung offenbar aus anderen Gründen für notwendig. Denn ihm geht es ja weniger um soziale oder geistige Armut, sondern um eine tiefere, spirituell und damit freiwillig auf sich genommene Armut in der Nachfolge Jesu. Oder vielmehr eine Armut, zu der Gott den Jünger Jesu durch die Gabe des Geistes verpflichtet. Mt nimmt damit eine qualitative (und nicht nur quantitative) Einschränkung gegenüber Lk vor: Nur die durch den Geist Gottes arm, also bedürfnislos gemachten Menschen sind die hier gemeinten, die auserwählten Armen.

 

3.2 Denn sicher weiß auch Mt, daß die Mehrzahl der ökonomisch und sozial Verarmten eher mit ihrem Schicksal hadert. Man müßte schon sehr abgestumpft sein, um solche Armut als gottgegeben hinzunehmen. Die Regel dürfte jedenfalls in einer den Menschen zum billigen Arbeitssklaven entwürdigenden Gesellschaft die sein, daß man diesem Schicksal entfliehen möchte, wenn sich eine Möglichkeit dazu bietet.

 

3.3 Gelegentlich ist einer dieser Armen durch die Nachsicht eines gnädigen Herrn aus dieser lebenslangen Arbeitsfron entlassen oder freigekauft worden. Aber eine Garantie für einen echten Neuanfang war das nicht, es sei denn sein (neuer) Herr hatte für ihn eine andere, bessere Verwendung, oder er fand anderswo eine gute Stellung. Solche Freistellung konnte sonst auch mit einem Fiasko enden. Erst recht, wenn man sich auf unerlaubte Weise von seiner Herrschaft entfernte, denn darauf reagierte das System im allgemeinen sehr unbarmherzig. Freiheit verlangt zudem ein Mindestmaß an Ordnung, an Selbstbeherrschung sowie an (geistiger) Orientierung - und zugleich ein Höchstmaß an Liebe und Verständnis für die weniger Freien. Wer unvorbereitet in das Leben in der Freiheit entlassen wird, kann sehr tief fallen. Das Leben in der Freiheit ist wie das Leben in der Fremde. Deshalb scheitern so viele daran. Es ist seltsam: Fluchtversuche gibt es nicht nur aus dem Gefängnis des Sklavendaseins in die Freiheit, sondern auch aus Freiheit und Selbstverantwortung in Abhängigkeit und Sucht. Die Leibeigenschaft der Zeit Jesu ist vielleicht noch nicht einmal die schlimmste Form von Unfreiheit.

 

3.4 Nur Gottergebenheit, wie sie die Gemeinschaft mit Jesus verlangte, konnte seinen Jüngern die Kraft geben, ein solches Schicksal (vom Dasein als Arbeitstier bis zum Dasein lebenslanger Leibeigenschaft) zu ertragen (vgl. Onesimos im Brief an Philemon), ohne die eigene Würde zu verlieren, - vorausgesetzt, daß der Herr einigermaßen anständig mit den ihm Untergebenen umging.

 

3.5 Aber will nicht jeder, der die Freiheit in Christus kennengelernt hat, sich auch in seinem Alltag frei und ungegängelt bewegen können? Jeder normal denkende Mensch wird doch mit aller Kraft versuchen, seine Ketten abzuwerfen, um frei und sein eigener Herr zu sein und sein Leben in die eigene Hand nehmen zu können!

 

3.6 Leider wurde aber diese religiöse Freiheit oft durch den Zwang zum Gehorsam gegenüber den Autoritäten von Kirche und Staat unterdrückt. Religiöse Freiheit kann zwar auch mit ökonomischer Abhängigkeit und politischer Unmündigkeit zusammen bestehen, und das war ja in jener Gesellschaft die Normalsituation der meisten Christen. Aber wenn man erst einmal entdeckt hat, daß vor Gott alle Menschen prinzipiell gleichgestellt sind, die Armen und Schwachen jedenfalls gegenüber den Reichen und Mächtigen keineswegs weniger wertvoll sind, wie gerade auch die Bergpredigt zeigen will, dann dürfte klar sein, daß auf ihrer Grundlage eines Tages auch konkrete Forderungen nach politischer Gleichberechtigung aller Bürger erhoben werden konnten. Der Mensch hört ja als Christ nicht auf frei zu sein, selbst wenn er in einem Käfig steckt. (Man denke nur an Luthers Schrift von der „Freiheit eines Christenmenschen“.)

 

3.7 Allerdings ist in unserem Text von Freiheit gar nicht die Rede, oder nur indirekt. Denn ebenso wie es auch keine echte Armut gibt ohne die Kraft des Geistes Gottes, gibt es auch Freiheit, wahre Freiheit nur durch den Geist Gottes, der uns frei macht.

 

3.8 Auf unrechtmäßig erworbenen Reichtum zu verzichten, ist keine wirkliche Armut, die vor Gott zählt, obwohl sie juristisch sehr anerkennenswert ist. Die Armut, die in der Nachfolge Jesu gefordert ist, zielt auf ein anderes Leben: ein Leben mit Gott und ohne falsche Sicherheit („Mammon“). Deshalb kann die Armut dieser Armen hier geradezu als eine Auszeichnung verstanden werden. Genau sie sind die Richtigen, die „Seligen“; genau sie braucht das Reich Gottes, denn allein sie haben ihr Leben „nicht auf Sand“ gebaut, sondern die lebenslange Zuwendung Gottes an die Stelle einer falschen Sicherheit gewählt.

 

 

Wolfgang Massalsky, 13.11. 23

 

1 Fälschlicherweise hat die Schmoller‘sche Handkonkordanz die pneuma-Stelle in Mt 5, 3 als „menschlichen“ Geist (hominis animus) aufgefaßt. Allerdings findet sich diese Übersetzung auch in der seriösen wissenschaftlichen Literatur. So schreibt z. B. E. Schweizer, Art. pneuma etc. (ThWNT VI, 1959, 387-453) : „pneuma bezeichnet den menschlichen Geist“ (398, Z. 24), aber in Mt 28, 19 sei pneuma eben der Geist, in dem Gott den Menschen begegne, was er als Sonderfall bezeichnet (399, Z. 6). Wie sich diese Verschiedenheit erklären soll, sagt er nicht. Dagegen schreibt A. Schlatter (Der Evangelist Matthäus. Seine Sprache, sein Ziel, seine Selbständigkeit, 1929), dem ich hier folge: „Am Dativ haftet der kausale Gedanke; nicht das woran jemand arm ist, sondern das wodurch er arm, gering oder hoch ist, nennt too pneumati.“ (133) Entscheidend ist m.E., daß der Geist, durch den bzw. in dem der Christ wirkt, durch das pneuma Gottes beeinflußt bzw. verwandelt ist (bzw. sein sollte), also nicht im Sinne heutiger Anthropologie (Subjektivitätstheorie) ausschließlich sein eigener Geist (Intellekt) ist, obwohl der Mensch in diesem (auf Gott ausgerichteten und von ihm ausgehenden) Geist durchaus eigenständig, also nicht fremdgesteuert handelt (selbst wenn wir manchmal nicht wissen, was wir tun!).

 

 

Gesprächsfäden zum heutigen Thema

 

I. Umkehr als gesellschaftspolitische Aufgabe:

 

1. Der Sinn der Bergpredigt ist Umkehr, ein anderes Leben – aber das kann nicht nur ein inneres Leben sein, sondern es muß auch nach außen spürbar werden (ohne daß wir uns überfordern). Wie kann das funktionieren? Gollwitzer, einer meiner Lehrer, hat einmal gesagt: „Es geht um die gesellschaftspolitische Dimension der Metanoia, des neuen Lebens aus dem Reiche Gottes, aber unter den Bedingungen der noch nicht erlösten Welt ...“ (H. Gollwitzer: Ich frage nach dem Sinn des Lebens, 1974, 58)

 

2. „Das ist Pneuma, das ist Reich Gottes: Wiederherstellung des Ebenbildes Gottes, Wiederherstellung der Menschheit, wie Gott der Schöpfer sie gedacht hat...“ (51)

 

3. Die Pneuma-Gabe ist für Gollwitzer bereits das Reich Gottes, zumindest „Angeld“ (Vorschuß) des Reiches Gottes, aber eigentlich schon das Reich Gottes selbst, genauer: Ersatz des ausgebliebenen Reiches Gottes. (47)

 

4. Kritische Überlegungen dazu:

 

a) So richtig diese Sicht zu sein scheint, muß man doch darauf achten, daß man das Reich Gottes nicht mit der persönlichen Wunschvorstellung von einer heilen Welt verwechselt. Das Reich Gottes ist das Reich Gottes! Nicht das Reich sozial-karitativer oder charismatisch veranlagter Menschen! Oder von politischen Utopisten.

 

b) Für Gollwitzer war das der Sozialismus, der echte Sozialismus, ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Das Ende des real existierenden Sozialismus hat er zwar noch miterlebt. Aber was danach kam, war gewiß auch nicht das Reich Gottes. Sondern der harte Alltag in einer Leistungsgesellschaft. Kein Wohlstandsparadies. Für viele ein schwieriger Neuanfang, vor allem im Osten, auch wenn er durch die Vereinigung mit dem Westen etwas Hoffnungsvolles hatte, zumindest für kurze Zeit.

 

c) Immerhin gibt es seitdem für die dortige Bevölkerung die ersehnte Freiheit, tun und lassen zu können, was man will und reisen zu können, wohin man will (wenn man das Geld dafür hat). Eine Freiheit, die jedoch alles Aufregende verliert, wenn sie nichts Neues mehr bietet und wie die Luft zum Atmen gehört. Und vor allem, wenn man sie nicht für seine Zwecke nutzen kann, d.h. etwas Nützliches daraus macht, das zumindest „gutes“ Geld einbringt … Man darf nur nicht mit den Gesetzen in Konflikt geraten. Sonst ist alles erlaubt. Das ist das Leben in der Freiheit, heißt es: Entweder du bist ein produktiv-nützliches Glied der Gesellschaft oder wenigstens ein guter Konsument.

 

d) Aber fehlt da nicht etwas? Wovon lebt die Gesellschaft selbst? Was gibt dem Leben Kraft und Hoffnung über den Tag hinaus? Gesellschaften können auch zerfallen, wenn es an Gemeinschaft fehlt, wenn gemeinsame Werte, die uns einst gegenseitig verpflichtet haben, verloren gehen. Oder wenn übermächtige Gegner einen nicht in Frieden leben lassen.

 

e) Kirche bot sich lange Zeit als eine Alternative zu einem bloß dem Gelderwerb dienenden Leben an, – auch heute noch? Hat die Kirche nicht vor allem bei jungen Menschen alle Attraktivität verloren? Brauchen wir vielleicht sogar eine neue Kirche? Bestimmt aber brauchen wir eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern und vielleicht sogar mit neuen Inhalten und Formen. Aber manche befürchten, daß es dafür schon zu spät ist. Mit dem Ende des Kirchensteuersystems hat die überlieferte Kirchenherrlichkeit sowieso ein Ende.

 

f) Womöglich brauchen wir eine neue Religion? Eine Religion, die Judentum, Christentum und Islam unter einem Dach (wie das House of One) vereint? Daß unsere teils katholische, teils evangelische Kirche noch immer die allein seligmachende ist, glaubt jedenfalls heute niemand mehr. Und die Behauptung der „Absolutheit“ des christlichen Glaubens gegenüber allen anderen Glaubensformen (von der der evangelische Theologe und Religionsphilosoph E. Troeltsch einst sprach) ist nicht nur aus Toleranzgründen inzwischen unpassend geworden, sondern auch aus Respekt vor den vielen aus dem Nahen Osten und vielen anderen Teilen der Welt in unser Land eingeströmten, in Liturgie und Sitten ganz anders gearteten Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften. Unsere religionsneutrale, pluralistische Gesellschaft hat auch keine Probleme damit, daß unsere sehr stark von katholischem und evangelischem Christentum geprägte Kultur durch die Vielzahl unbekannter Kirchen und Religionsgemeinschaften, die in den letzten 50 Jahren sich hier angesiedelt haben, allmählich zurückgeht, ihre „Singularität“ verliert und sich in etwas anderes verwandelt. In manchen Stadtteilen Berlins hat dieser Prozeß ja bereits stattgefunden. Man braucht nur zu sehen, wie sich die Arbeit in den Schulen durch ihre neuen (muslimischen) Schüler verändert hat. Insbesondere die Konflikte zwischen Juden und Palästinensern oder zwischen den europäischen Muslimen und den „Ungläubigen“ werden in der Zukunft auch in Deutschland dramatische Formen annehmen können, wie sich bereits in diesen Tagen bei den Demonstrationen und Auseinandersetzungen um die israelische Invasion im Gaza-Streifen zeigt, wenn es nicht gelingt sie in die europäische Kultur zu integrieren.

 

II. Am meisten verbreitet ist der unpolitische Ansatz:

 

1. Die Bergpredigt dürfe nicht als ein „politisches Programm“ mißverstanden werden (E. Lohse: Theologische Ethik des Neuen Testaments, 1988, 47, ähnlich auch 51). Hier gehe es um das Vertrauen zu Gott (50), und das ist etwas anderes, als sich für ein bestimmtes Weltverbesserungsprogramm einspannen zu lassen. Bei Lohse wird ein moderates Christentum der Anrufung Gottes in der Nachfolge Jesu praktiziert. Es fehlen ihm alle Schärfen, die die Bergpredigt so unverwechselbar machen. Andererseits gehe es auch nicht um die Befolgung „allgemeiner Weisheitsregeln“ aus dem AT oder anderer Quellen, die es in der ganzen Welt geben mag, sondern um die mit Jesus „anhebende Proklamation der Gottesherrschaft“ (ib.). Und diese Proklamation bedeute doch auch, die Gottesherrschaft im Alltag Realität werden zu lassen, wenn auch in einer ganz unspektakulären, eher privaten als politischen Form.

 

2. Kritisch mag hier gefragt werden:

 

a) Wird damit die Botschaft von der kommenden Herrschaft Gottes, die in Jesu Handeln bereits ihre ersten Schatten vorauswirft, nicht zu sehr an unseren Alltag angepaßt und um ihre einzigartige Sprengkraft gebracht? Die Bergpredigt, das Evangelium Jesu, darf doch nicht zu einem lauen Lüftchen gemacht werden, wo Jesus einen Sturm entfachen wollte!

 

b) „Weisungen“ (51), wie sie in einer Bruderschaft für das Leben nach einem gemeinsamen Konvent und vielleicht sogar von einem Pfarrer für das Leben zuhause oder im Beruf ausgegeben werden, dürften kaum die programmatische Wucht der Rede Jesu auf dem Berg (die sie in erster Linie aus der speziellen endzeitlichen Situation bezog, in der sich Jesus zum vollmächtigen Sprecher Gottes berufen wußte) erreichen, geschweige denn das Anbrechen einer neuen Zeit aufleuchten lassen.

 

c) Daß Jesus für seine Aktivitäten in der Erwartung der Nähe des Reiches Gottes (→ Eschatologie) mit dem eigenen Leben bezahlen mußte, wird von Lohse zu billig in das Kleingeld ethischer Weisungen umgemünzt. Dem entspricht, daß in der Tat im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte an die Stelle der Nachfolge Jesu der Kirchenglaube getreten ist, der durch die Verehrung Jesu im Glauben an ihn als den Messias unser fehlendes Handeln in der Fortsetzung der Reich-Gottes-Hoffnung Jesu ersetzt hat, jedenfalls in den Hintergrund treten ließ.

 

d) Handeln aus dem Geist Jesu ist jetzt nur noch sporadisch wie ein Ausbruch des Glaubens in extremen Situationen zu beobachten. Im Alltag unterscheidet sich unser Glaubensleben kaum noch von den in den Medien beschriebenen und auch Nichtchristen zugeschriebenen „normalen“ Verhaltensweisen der Mehrheit der Bürger in unserem Land. Wie hieß es in der Bergpredigt? Wir sollen unseren Leuchter auf den Scheffel stellen, nicht darunter ... Was also bleibt von ihr übrig? „Sie erinnert die Christen immer wieder daran, wieviel sie versäumt haben, und wirft sie damit auf Gottes Barmherzigkeit zurück, aus der heraus allein die neue Gerechtigkeit gegründet und gelebt werden kann.“ (51)

 

W. M. zum 16.11. 23

 

 

Für den AK am 14. 12. 23 Thema: Einführung in die Bergpredigt Teil III

 

Was ist Gerechtigkeit?

(Erste Überlegungen)

 

1. Verteilungsgerechtigkeit

 

Überall erwarten wir, daß wir gleich gut bedient werden und daß wir wie alle anderen Kunden für unser Geld gleich viel erhalten. Allgemein gesprochen, daß wir als Mitglieder einer bestimmten Gruppe genauso viele Anteile an der ihr zustehenden Gesamtmenge erhalten wie auch alle anderen Gruppenmitglieder.

Es geht also um eine Art Verteilungsgerechtigkeit. Das kann nun ein materielles, aber auch ein ideelles Gut sein. Die gleiche Menge vom Ganzen für jeden einzelnen, sofern ihm das zusteht, ist das wichtigste Kriterium für Gerechtigkeit. Dabei ist es egal, um was es materiell geht, ob es um Essen, Freizeit, Verdienst (für gleiche Arbeit), Krankenbehandlung oder um ein Qualitätszeugnis (sprich Anerkennung) geht, und ebenso egal sollte es sein, ob es sich um Schwarze oder Weiße handelt. Nur so behandeln wir alle gleich.

Wenn es also gerecht unter Menschen zugehen soll, muß man jedem einzelnen Menschen den gleichen Anteil an dem geben, was der Gesamtheit, zu der er gehört, zusteht, sofern alle zum Gesamtvermögen gleich viel beitragen, – es sei denn ein diesbezügliches Gesetz regelt es anders.

 

2. Leistungsgerechtigkeit (nach Perelman)

 

In seinem Überblick über die Verwendung des Gerechtigkeitsbegriffs spricht Ch. Perelman1 darüber hinaus von einer Gerechtigkeit, die sich nach Verdiensten, Werken oder Rang richtet. Auch die Verschiedenheit der Bedürfnisse verändert den Beurteilungsmaßstab für das, was einem zusteht.

Perelman geht damit über unsere erste Anforderung an den Begriff einer allgemeinverbindlichen Gerechtigkeit hinaus. Es geht nach ihm nicht nur um den gleichen Anteil an den Gütern, die jedem zustehen sollen. Sondern nun wird ein zweites Kriterium eingeführt: Jedem gemäß seiner Leistungsfähigkeit, mit der er dem Ganzen dient. D.h. je mehr einer für die Gemeinschaft tut, desto mehr soll er von ihr zurückerhalten. Wenn ich in einer Stunde doppelt soviel leiste wie ein anderer, so soll mir auch doppelt soviel – in der Sprache des Geldes – „ausbezahlt“ werden.2 Die Gleichheit des suum cuique wird damit bezogen auf den konkreten Menschen mit seinen besonderen Eigenschaften und Unterschieden gegenüber allen anderen (mit denen er sie überragt oder auch hinter ihnen zurückbleibt); darum kann er unter diesem Aspekt nicht länger als Gleicher unter Gleichen betrachtet werden.

Denn: Je mehr einer leistet, desto höher ist sein gesamtgesellschaftlicher Rang (Prestige) und desto besser ist sein zu erwartender Verdienst oder die ihm zustehende Bewertung (sofern es gerecht zugeht). Je weniger er leistet, je geringer sein gesamtgesellschaftlicher Nutzen ist, desto tiefer rangiert er, obwohl er in seinem Bereich ein Spitzenkönner sein mag. „Verdienst“ ist dabei die allgemeinste Kategorie für alles, was dem einzelnen von der Gesamtheit als Lohn oder Auszeichnung zuerkannt wird, wobei Verdienst nicht nur pekuniär verstanden werden darf.

 

Damit ist aber auch gesagt, daß die Gesellschaft, in der wir uns befinden, nicht bloß eine Leistungsgesellschaft ist, sondern zugleich eine Konkurrenzgesellschaft. Sie besteht nicht aus abstrakt gleichen, sondern aus konkret sehr verschiedenen Menschen, wobei das nicht nur in ökonomischer Hinsicht gilt, sondern auch inbezug auf die politische Macht (die leider auch Gewalt einschließt), die einzelne für die Dauer einer Wahlperiode - oder kraft Geburtsrecht ein Leben lang - ausüben können.

So zeigt sich, daß Gerechtigkeit konkret etwas ganz anderes und mehr ist als bloß formal gleicher Verdienst (wenn wir vom Gehalt sprechen). Der ist nur die Basis. Denn der reale Verdienst steht nie von vornherein fest, sondern muß ökonomisch immer wieder neu austariert und gegebenenfalls sogar erst noch erkämpft werden. Damit zeigt sich, daß der Kampf um Gerechtigkeit in diesem System rein ökonomisch niemals beendet ist, solange dieses durch lebendige Triebkräfte bestimmt wird, die freilich ihrerseits abhängig sind von Welt- und Binnenmärkten sowie Sicherheitslagen bzw. ökonomischen Krisen.

 

Daß es in Wirklichkeit also ganz anders zugeht und daß keineswegs überall die idealisierte (formale) Gerechtigkeit herrscht, hat auch Perelman erkannt. Für ihn ist allerdings entscheidend, daß der Sprachgebrauch geklärt ist. Was ist Gerechtigkeit? Wann besteht Gerechtigkeit? Und zwar in den Feldern, die ihn interessieren. Und das ist eben nur der Fall, wenn jedem der gleiche Anteil vom Kuchen zusteht, wobei jedoch an jedem Tisch ein anderer Kuchen serviert wird. Es wird also Gleichheit suggeriert, aber Ungleichheit offeriert. So geht es eben in der rauhen Wirklichkeit des tatsächlichen sozialen und politischen Lebens zu. Warum soll jedem einzelnen in einer Gemeinschaft der gleiche Anteil am Ganzen gehören, wenn der im wesentlichen nur von einer kleinen Gruppe von Leistungsträgern erwirtschaftet wird? Das erschiene doch denen, d.h. den Reichen und Schlauen, als äußerst ungerecht!3 [Allerdings ist es sicher berechtigt, darüber zu streiten durch wessen Leistungskraft der Reichtum einer Gesellschaft tatsächlich erwirtschaftet wird und ob den Arbeitnehmern in ihren verschiedenen Tätigkeitsfeldern ein angemessener Lohn ausbezahlt wird.]

 

3. Moderne Theorien zur Gerechtigkeit – und was hat die Religion damit zu tun?

 

Seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist das Verhältnis von Religion und Vernunft überwiegend als ein negatives bestimmt worden. Religion ist zwar immer noch eine wichtige öffentliche Größe, aber die Menschen stehen mehr und mehr der Religion skeptisch gegenüber. Toleranz gegenüber der Religion ist nicht selbstverständlich. Sie nimmt immer mehr ab. Vor allem wenn Religion mit Politik, insbesondere mit dem Kampf um Anerkennung einer gesellschaftllichen Minderheit verbunden ist, die der Mehrheitsgesellschaft zuwider ist. Es sei denn der Staat selbst bedient sich ihrer, um damit seine Macht zu legitimieren. Ansonsten ist Religion heute Privatsache, die in der großen Politik - außer in ethischen Grenzfällen - kein Mitspracherecht 4 hat.

Aber auch sonst können religiöse Vorstellungen in einer multiethnischen Gesellschaft als störend empfunden werden: Einerseits weil sie das menschliche Zusammenleben durch immer neue Grenzlinien und Frontstellungen zwischen den Religionen erschweren können und zum andern, weil Religionen außer Gerechtigkeit (und Abgrenzung) noch einen anderen Maßstab im Umgang mit den Menschen besitzen, nämlich den der Liebe (oder der Bevorzugung), der dort zur Anwendung kommt, wo Gerechtigkeit zur Regelung der menschlichen Verhältnisse nicht mehr ausreicht, insbesondere wenn es um Streitfälle im nachbarschaftlichen Raum wie in der eigenen Familie oder mit Anhängern des eigenen Glaubens geht.

 

Der Hauptvertreter dieser strengen Ausgrenzung von Religion aus dem gesellschaftspolitischen Diskurs ist J. Rawls5, weil das Projekt einer freien und rechtlich geordneten Gesellschaft, wie es für ihn der politische Liberalismus ist, durch die Gegensätzlichkeit religiöser Leidenschaften vermutlich in einen permanenten Streit gezogen wird und dadurch vielleicht sogar zum Scheitern gebracht werden kann. Der Selbsterhaltungstrieb einer auf Frieden angewiesenen Gesellschaft muß demnach die Betätigung religiöser Gemeinschaften radikal beschneiden.

Weil also Religion (irrationale) Privatsache sein soll, müsse sie außerhalb unseres Gerechtigkeitsdiskurses bleiben, wenn sie überhaupt geduldet werden kann. Denn sowohl religiös begründeter Streit als auch falsche Versöhnungsbereitschaft, d.h. der Verzicht auf die eigenen Rechte, lassen den gesellschaftlichen Frieden in den Augen ihrer Kritiker unberechenbar werden, weil von schwer zu beeinflussenden Faktoren abhängig.

 

Aber verträgt sich das mit einer toleranten liberalen Gesellschaft? Und wird dabei nicht übersehen, daß das eigentliche Projekt der Religionen gerade der Frieden und die Gerechtigkeit in dieser Welt ist, das immer mehr Dimensionen umfaßt als nur die Politik? Zutiefst ist Frieden ja nur erreichbar, wenn Menschen das Chaos um sie herum und in ihrem eigenen Kopf eindämmen und bewältigen können. Genau dazu will die Religion dem Einzelnen ja Maßstäbe an die Hand geben, die über den Tag hinaus Gültigkeit beanspruchen können, aber auch die Kraft verleihen, Frieden nicht nur von anderen zu fordern, sondern selber zu praktizieren.

 

Eine Ausnahme im Hinblick auf die Bedeutung der Religion für den politischen und rechtlichen Diskurs bildet M. J. Sandel, der in seinem Gerechtigkeitsbuch6 im Gegensatz zu dieser Grundhaltung bei Rawls wünscht, daß die religiösen Empfindungen und Überzeugungen im Sinne des Rechts auf eine unzensierte Persönlichkeit nicht nur nicht unterdrückt, sondern auch unbeschränkt zum Ausdruck gebracht werden sollten. Weil nur so der Mensch sich wirklich frei äußern kann, wenn er zeigen kann, wer er ist und woran er glaubt, auch wenn das andere nicht tun oder sogar um des lieben Friedens willen untersagen wollen. Die Unterwerfung des Bürgers unter einen Verhaltenskodex, der ihn zwingt, vorher sein Persönlichkeitsgepäck mit allen seinen Überzeugungen, einschließlich den religiösen, abzulegen, um unbeanstandet in dieser Gesellschaft argumentieren und handeln zu können, erscheint ihm als ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht freier Bürger, der nicht geduldet werden sollte.

 

Ganz abgesehen von der speziell mit der bzw. den Religionen aufgeworfenen Problematik für die multiethnische und multireligiöse Gesellschaft, wie mit ihren Ansprüchen umzugehen ist, können wir Vorurteile welcher Art auch immer nie ganz ausschießen; die religiösen sind sogar noch am ehesten zu identifizieren und zu relativieren. Dagegen sind andere Vorurteile, die in die Auseinandersetzungen des Alltags unbewußt eingehen, viel schlechter zu erkennen und auszuschalten. Wir können ja die Subjektivität der gesellschaftlichen Akteure nicht vollständig ausschließen! Im Gegenteil: die persönlichen Prägungen erweitern nicht nur die gesellschaftliche Farbenskala unseres Lebens, sondern auch das Meinungsbild und die Maßstäbe unserer Urteile. Auch wenn auf ein Mindestmaß an kontrollierbarer Gedankenführung, was die Religion angeht, bestanden werden muß.

 

4. Grundzüge der biblischen Gerechtigkeitsidee

 

Auf H. Cremer geht die Erkenntnis zurück, daß der biblische (at.liche) Gerechtigkeitsbegriff nicht die Übereinstimmung mit einer „absoluten ideellen ethischen Norm“ (G. v. Rad: Theologie des AT, 1966, Bd I, 383) meint, sondern in einem speziellen „Gemeinschaftsverhältnis“ (ebd.) zwischen den beteiligten Partnern oder umfassender: in der Gemeinschaft, in der sie eingebettet (392) sind, begründet ist.7 Gerechtigkeitsgemäßes Handeln der verschiedenen aufeinander angewiesenen Parteien bedeutet dann, sich auf die Zusagen bzw. Verpflichtungen verlassen zu können, die beide Seiten füreinander eingegangen sind. Darum dürfte ein Pakt zur Verteidigung gemeinsamer Interessen, also ein Beistandspakt in Krisensituationen, die eigentliche Wurzel dieses speziellen Bündnisses des Volkes Israel oder einzelner Stämme dieses Volkes mit Gott darstellen. Wobei der stärkere Partner dem schwächeren zu helfen verspricht, wenn dieser unverschuldet in Not geraten ist und zugleich die ihm auferlegten Ausgleichsverpflichtungen, die auch militärische Kontributionen beinhalten können, rechtzeitig geleistet hat. Denn beide Seiten sind nur dann verpflichtet, treu zu ihrem Wort zu stehen, wenn die beiderseitigen Verpflichtungen, die sie eingegangen sind, vertragsgemäß eingehalten wurden, wobei der schwächere Partner mehr auf den stärkeren angewiesen ist als umgekehrt. „Preist Israel Jahwes Gerechtigkeit, so dankt es ihm, daß er zu Israel steht und sich in seinem Walten zu ihm bekennt.“ (383f.)

Daß diese Bündnisvorstellung zuerst durch den Bund Gottes mit Israel aufgekommen sei und von daher auf politische und militärische Bündnisse übertragen wurde, halte ich allerdings für unwahrscheinlich. Diese Vorstellung läßt sich aber gut mit der anderen von der primären Erwählung Israels durch Gott (Jahwes Segen auf Abraham und seine Nachkommen, Gen 12, 2; 15, 6) verbinden. Diese enge Beziehung Israels zu Gott geht demnach auch dem Bundesgedanken voraus.

 

Wichtige Stellen zum Gerechtigkeitsdenken Israels: Ex 19, 5; Ps 48; 103, 17f.; Jes 11. Dabei wird deutlich, daß Gerechtigkeit weniger ein forensischer (strafrechtlicher) Begriff ist, als vielmehr das ganze Leben umgreift, das in die Gemeinschaft mit Gott eingebracht werden soll, vgl. die Auseinandersetzung von Jakob mit Laban, Gen 30.

Zum Abschluß sei noch einmal v. Rad zitiert: „Von den ältesten Zeiten an hat Israel Jahwe als den gefeiert, der seinem Volk die universelle Gabe der Gerechtigkeit zuwendet. Und diese Israel zugewendete zedakah ist immer Heilsgabe.“ (ebd. 389)

 

Zum Gespräch: 1. das biblische Verständnis von Gerechtigkeit in einigen Texten (vgl. Gen 15; Ps 85; Mt 25; 20; Lk 1, 65ff.,75), wie kann es auf die heutige Situation übertragen werden? Oder ist es völlig veraltet? 2. Gerechtigkeit und Friede sollen sich küssen - handelt es sich um zwei komplementäre Größen, ein untrennbares Paar? 3. Was können wir von hier aus für Weihnachten lernen? Gedanken zu Weihnachten ... 

(Fortsetzung folgt)

 

 

W. M. 13. 12. 23

1 Chaim Perelman, Über die Gerechtigkeit, BSR 45, 1967 in Deutsch; geht zurück auf frühere Veröffentlichungen 1945 und 1963;

2 Ähnlich bei Jesus, vgl. Mt 25, 14-30. Aber daneben wird von Jesus auch ein eher ungerechtes Verfahren überliefert, vgl. Mt 20, 1-16.

3 Und so kann auch in anderen Bereichen die Gleichheit als Ungerechtigkeit empfunden werden. Nicht einmal das Wahlrecht (für ihre politische Führung) besaßen früher alle gleichermaßen, denn der Normalbürger hatte oft eine zu geringe Bildung, um in politischen Fragen mitreden zu können. Lange Zeit machte das ja eine kleine Elite unter sich aus, wer der „König“ aller wird.

4 Weil sie als negative Vorgaben in die Beurteilung von Politik- und Rechtsfragen eingehen, wodurch ihre Behandlung als zu wenig objektiv erscheint.

5 J. Rawls, Politischer Liberalismus, stw 1642, 2003, engl. OA 1993

6 M. J. Sandel, Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun, 2013, engl. 2009

7 Die allmählich sich vollziehende Verselbständigung des Individuums bedeutet natürlich auch eine Veränderung des Gerechtigkeitsverständnisses der Israeliten, wie es in der späteren Zeit offensichtlich wird, wo wir erkennen können, welchem Druck der Einzelne gegenüber Gott ausgesetzt ist: Die Gemeinschaft kann ihn mit seinen Sorgen und Ängsten nicht mehr so wie früher auffangen.