Religion und Kultur

Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Kultur

im Anschluß an die Ausführungen

von G. Krämer zum Thema:  Religion, Culture, and the Secular. The Case of Islam, 2021 (Working Paper)

 

Das Verhältnis von Religion und Kultur – warum ist es so schwer, dieses genauer zu bestimmen? Ist das eine im anderen enthalten? Ist die Religion sekundär oder primär gegenüber der Kultur? Lebenswelt, Sozialwelt, Sozialbeziehungen – wie sehr repräsentieren sie eine bestimmte Kultur? Und was an ihnen ist religiöser Natur?

 

Fragt man nach dem Konstitutionsverhältnis zwischen individueller Identität und kultureller Lebenswelt, so kann man immer wieder die Antwort erhalten, das sei wie bei dem Verhältnis von Henne und Ei – was ist zuerst da? Was ist das Erste für die Konstitution des Menschen? Religion oder Kultur? Oder ist die Frage falsch gestellt?

 

Üblicherweise behauptet die Kulturanthropologie, daß der Mensch die kulturellen Systeme seiner Lebenswelt geschaffen habe, andererseits behauptet die Sozialpsychologie, daß die Identität des Menschen ein Produkt seiner soziokulturellen Umwelt sei. Also ist er einmal Schöpfer und ein anderes Mal Produkt seiner (kulturellen) Umwelt. Was ist nun richtig? Oder gibt es noch einen tieferen Aspekt, der in der Darstellung von G. K. noch nicht angesprochen worden ist?

 

Tatsache scheint zu sein, daß durch die sozialwissenschaftlichen Methoden die „religiösen Implikationen“ sowohl der individuellen Identitätsbildung als auch der kulturellen Lebenswelt „verdeckt“ (Pannenberg) werden können.

 

Die philosophische Anthropologie hat den Menschen als das Wesen gekennzeichnet, das wie die höhere Tierwelt ganz allgemein (gebunden an ihre artgerechte Umwelt) durch Zentralität charakterisiert ist, zugleich aber auch, exzentrisch-frei über sich und seine Umwelt hinausgehend, im Anderen seiner selbst seine Erfüllung findet. Das erst mache den Menschen im eigentlichen Sinne zum Menschen. Und das ist zugleich der Sinn der Religion, nämlich dem Menschen zu helfen, über sich selbst hinausgehend Erfüllung zu finden, u.z. im Anderen seiner selbst, sei es der Mitmensch, sei es Gott, soweit er eine Ahnung davon hat, daß es noch etwas anderes gibt als Pflichterfüllung bzw. Verantwortung gegenüber dem eigenen Volk, oder sei es das Erleben der Natur.

Wenn man das genauere Verhältnis von Religion und Kultur erfassen will, wird man an diesen Überlegungen nicht vorbeikommen: man muß sie entweder mit guten Gründen zurückweisen oder von da aus eine definitive Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur vorzunehmen versuchen.

 

G. K. kann sich letztlich nicht wirklich entscheiden, wie beide Größen miteinander zusammenhängen, obwohl sie die religiöse Dimension des Menschseins mehrmals mit ausdrücklich positiven Worten hervorhebt.

Entwicklungsgeschichtlich gehören beide Größen auf dem Weg des Menschen zu sich selbst, zur Entdeckung seines eigenen Leibes und Lebens als sein höchstes Gut, von Anfang an zusammen. Der Zentralität seines biologischen Organismus entspricht die Erstellung einer Kultur von Lebensmöglichkeiten und -gestaltungen (Naturbearbeitung, Unterkunft, Versorgung usw.). Der Anlage zur Exzentrizität in seiner Natur entspricht das Über-sich-selbst-hinausgehen-können, das Suchen nach vollkommeneren (auch spirituellen) Lösungen für seine Lebensprobleme. Bedingt ersteres den Impuls zum Kulturaufbau, so dürfte letzteres die Anlage zur Religionsbildung und -ausübung beinhalten. Insofern entspringen Religion und Kultur der relativ komplexen Doppelnatur des Menschen, die nach einem sinnvollen Ausdruck für die positiven und negativen Erfahrungen des Menschen in seiner jeweiligen Epoche verlangt.

 

Die Unterscheidung von Religion und Kultur im Islam wie in jeder anderen Religion ändert daher nichts an der ursprünglichen Einheit beider im Menschen verankerten fundamentalen Lebens- und Streberichtungen.

 

Die Identitätsproblematik ist deswegen für den Menschen eine lebenslange Aufgabe, weil es gilt, sein Leben in diesen sehr verschiedenen Dimensionen so einzurichten, daß es nicht in einer Art Schizophrenie auseinanderfällt. Dabei wird man damit leben lernen müssen, auch mit den eigenen Ecken und Kanten zurecht zu kommen, d.h. alle durch eigene und fremde Schuld geschlagenen Wunden heilen lassen zu können.

 

Das Verhältnis von Religion und Kultur ist somit aus der anthropologischen Notwendigkeit ihrer gemeinsamen Entstehung zu bestimmen. Das ist das ganze Geheimnis von Religion und Kultur. Daraus sollte man darum keinen „Staatsakt“ machen, so als hänge von der Priorität der Religion vor der Kultur das ganze Seelenheil der Menschheit bzw. Existenzberechtigung und Wert der Religionen ab, egal ob es sich um Islam, Judentum oder Christentum handelt. In der Tat gehören beide, Religion und Kultur, zur Selbstfindung des Menschen ursprünglich und konstitutiv zusammen und können ohne Schaden für die eine oder andere Seite nicht getrennt werden.

Wenn der religiöse Aspekt heute in unseren Breiten mehr oder weniger ausfällt, so ist dies ein Zeichen dafür, daß hier schwerwiegende Mängel in Erziehung und Sozialisation, aber auch ein Versagen der Religionsgemeinschaften vorliegen dürften; von dem Bedeutungsverlust einer einzelnen Religion im Zuge der Entwicklung des Staates zu einem multireligiösen Gebilde ganz abgesehen.

 

Allerdings gibt es weitere konstitutive Ursachen und Umstände, die zu den Enstehungsbedingungen von Religionen gehören, die hier nicht alle benannt werden können. In bezug auf den Jahwe-Glauben Israels wird man hervorheben müssen, daß dieses Volk sich von Anfang an als Minderheit einer breiten Opposition kanaanäischer (palästinischer) Bevölkerungen gegenüber sah, weshalb der Auserwählungsgedanke (und der entsprechende Selbstbehauptungswille) für es immer zentral war. Das Christentum, genauer die Gemeinde Jesu bildete mit der Reich-Gottes-Erwartung und der Kreuzigung Jesu im Zentrum ihres Glaubens eine jüdische Sondergemeinschaft, die zum Durchbruch durch alle Grenzen nationaler Zugehörigkeit entschlossen war. So verhalf sie zugleich der Idee allgemeiner Menschenwürde (und -rechte) ohne Rücksicht auf Nationalität und Klassenzugehörigkeit zum Durchbruch. Dabei spielte der Auferstehungsgedanke eine wesentliche Rolle. Er ermutigte zu grenzüberschreitender Mission. Der Islam hat in meiner Sicht als spezielle Entstehungsbedingung die erfolgreiche Überwindung des kriegerischen Gegeneinanders der arabischen Stämme, das ein gedeihliches Miteinander aller illusorisch erscheinen ließ, wobei die verschiedenen religiösen Vorstellungen in dieser Region, die wesentlich nativistischer und polytheistischer Art waren, das Gegeneinander zusätzlich verschärften, so daß Muhammad mit dem Islam deren Überwindung und daraus folgend ein nach außen drängendes Einheitsbewußtsein der arabischen Stammesgesellschaft ermöglichte. So haben diese drei Religionen wesentlich positive Folgen regionaler und menschheitlicher Art gehabt, was jedoch nicht verhinderte, daß insbesondere Christentum und Islam durch verschiedenste Nationalismen wieder korrumpiert werden konnten.

Wolfgang Massalsky, 12. 1. 22

Lit.: Zum Verhältnis von Selbst und Anderem: Vgl. Hegel, TWA, Registerband unter Anderssein, anderes; sowie E. Levinas, Die Zeit und der Andere, 1989.

Zur allgemeinen Bedeutung des Religiösen für die Selbstfindung des Menschen: W. Pannenberg, Anthropologie in theol. Perspektive, 1983.