Maria - evangelische Mariologie
AK 16. 10. 25 Thema: „… geboren von der Jungfrau Maria …“ Mariologie – ein evangelisches Thema?
A. Erste Überlegungen
1. Schwierige Personalie, schwierige Geschichte
Welche Texte kommen in Frage?
Außer unserem Glaubensbekenntnis … und Lk 1 und Mt 1 die 10 Gebote als Forderungen, die wir gegenüber Gott und Elternhaus sowie gegenüber Mitmenschen (Nächsten) erfüllen sollen, damit wir keine Sünder werden ... (Gibt es noch andere Texte, die eine Ehrenbezeugung gegenüber Maria wie in Lk 1 erkennen lassen?)
B. Unsere Arbeitsschritte
I. Die Voraussetzungen
2. Positionen: römisch-katholisch und evangelisch (lutherisch/reformiert)
3. Typisches Frauenthema?
4. Dogmatisch – empirisch
Inwieweit sind Dogmen oder dogmatische Aussagen an eine empirische Basis gebunden?
Was wäre eine zulässige empirische Aussage über die Maria?
Gibt es in der Bibel überhaupt eine ausreichende historisch überprüfbare Basis für die Darstellung und Beschreibung der Maria als Mutter Jesu?
II. Problemstellungen
5. Worin könnte der Grund liegen, sie zur göttlichen „Jungfrau“ zu erheben? Was für ein Jesusbild drückt sich darin aus, wenn Jesus eine so unnatürlich erhöhte Frau zur Mutter braucht?
Geht es bereits um eine Sündlosigkeit, die nur dogmatisch zu erklären ist?
Was für ein Sündenbegriff liegt hier vor? Damit Jesus sündlos auf die Welt kommen kann, müsse auch seine Mutter bereits sündlos sein …
Gab es Verdächtigungen oder ungünstige Spekulationen über sie? Nicht verheiratet - und trotzdem ein Kind?
Also stellt die Vorgeschichte mit dem Engel in Lk 1 (auch in Mt 1) eine Beschwichtigungsszene dar? (hony soi qui mal y pense, ein alter französischer Spruch = „schämen soll sich, wer schlecht darüber denkt“, in dem Fall über Maria)
III. Vertiefungen
6. Es gibt offenbar einen doppelten Sündenbegriff:
a) Sünde ist nur Tatsünde, wobei auch Worte* dazu gehören können (z. B. Drohungen und Beleidigungen), aber nicht Gedanken, die ja auch innerlich bleiben und eventuell eine Handlung oder eine Rede vorbereiten, aber auch abgeblockt werden können.
* Dabei spielt die Spontaneität in bes. Gesprächssituationen eine große Rolle. So können z. B. im Streit Haltungen und Empfindungen der Kontrahenten zum Vorschein kommen, die sie im Normalfall viel besser voreinander versteckt hätten. Andererseits kann ein Emotionen freisetzender Streit auch viel zur Klärung und Entspannung der gegenseitigen Beziehungen und zu einer positiven Normalität beitragen.
b) Ganz anders ist die Sünde zu verstehen, wenn wir als Menschen sozusagen von Geburt an als Sünder bezeichnet werden, wie es der Ausdruck „sündiges Fleisch“ behauptet. Das ist dann eine Anlage, für die wir nichts können. Das ist unsere Natur. So sind wir geboren. Dadurch ist noch nichts darüber ausgesagt, ob wir gute oder schlechte Menschen sind. Denn das „Fleisch“ ist eben so. Wenn wir aus diesem Material geschaffen sind, kommt es auf uns an, was wir daraus machen. Denn wir sind dadurch nicht auf ein generell sündiges = schlechtes Verhalten festgelegt. Dann sind wir also unseres eigenen Glückes Schmied… Allerdings muß gegen diese (sündige) Natur angekämpft werden, weil durch sie die Tendenz zu sündigem Handeln begünstigt wird.
c) Die sog. Erbsünde gehört eigentlich dazu, wenn sie auch eine Erweiterung der zweiten Sichtweise darstellt. Denn nur durch sie kann vor allem eigen-verantwortlichen Tun behauptet werden, daß der Mensch von Geburt an und eigentlich schon vorher, nämlich mit der Zeugung und damit letztlich durch die Sexualität selbst zum Sündersein verurteilt ist. Das ist aber eine biologisch abwegige Vorstellung, die bereits eine negative ethisch-moralische Wertung der Sexualität vorausetzt!
d) Eine andere Frage ist, ob damit alle Formen von Sexualität gleich gut sind. Da gibt es in den Kirchen sehr unterschiedliche Auffassungen. Denn wahr ist, daß mit der Sexualität in der Praxis viele Verletzungen bis zu roher Gewalttat verbunden sein können. Deswegen ist die Ehe auch kirchlicherseits oft als der Ort und die Gemeinschaft der „Versittlichung“ der Sexualität verstanden worden…! (Und noch bei meiner Ordination wurde darauf geachtet, daß wir unser zwischenmenschliches Zusammenleben in den erwartbaren Formen organisieren ...)
e) Wenn die Erbsünde also angeboren ist und quasi wie eine Krankheit von den Eltern auf die Kinder übertragen, also „vererbt“ wird, wie wird man sie dann los, damit sie nicht unser ganzes Leben überschatten und verderben kann? Nur durch die Hinwendung zu Gott, der uns von dieser Qual unseres Lebens befreit! Kann man dann aber noch behaupten, daß wie es Gen 1 heißt, die Schöpfung auch des Menschen „gut“ gelungen ist? (Vom Erbsündengedanken aus müßte man sogar jede Form von Sexualität gleich behandeln… )
IV. Mariologie - Schutzwall gegen den Modernismus?
7. Maria - das unschuldige Mädchen vom Lande?
Wenn man zum Glauben durch Jesus kommen soll und gleich am Anfang liest, daß seine Geburtsumstände weitestgehend unaufgeklärt sind, – könnte das nachdenkliche Menschen nicht vielleicht davon abhalten, sich mit diesem Jesus zu befassen? Seine Geburt im Stall verlangt dem Betrachter doch einiges an Selbstüberwindung ab, besonders wenn man an gebildetere Schichten und nachfragende Hörer denkt. Dann ist es schon besser, man läßt die Geschichte von der armseligen Geburt Jesu ganz weg – wie das Markus tat!
Sicher ist vielen Nichtchristen diese Geschichte seiner Geburt und noch mehr sein elender Tod zum Anstoß geworden, sich nicht weiter mit diesem Mann und seinem Schicksal zu beschäftigen. Und das ist bedauerlich.
Man wollte ja nicht abschrecken! Die, die das Evangelium kennen lernen sollten, waren meistens Menschen, die nicht schreiben und lesen konnten, wie die Hirten, denen diese primitive Szene gar nichts ausmachte. Zumindest in der ersten Zeit, als man in diesem Milieu nach interessierten Zuhörern suchte, konnte man mit dieser etwas anrüchigen Geschichte als Aufhänger viel Aufmerksamkeit gewinnen, die dem zugute kam, was über diesen Jesus im Evangelium sonst noch zu sagen war.
Aber später, wenn man städtisches Publikum und die eher Gebildeten in die Gemeinde Jesu einladen wollte, wenn man also die Menschen, die lesen konnten, wohlwollend (im Sinne einer captatio benevolentiae) dazu einstimmen wollte, diese Botschaft interessiert zur Kenntnis zu nehmen, dann war ein solcher Einstieg von femininer Anmut und Schlichtheit sicher sehr hilfreich und anziehend.
8. Mutter Jesu = Gottesmutter?
Schmückt sich nicht jede Mutter gern mit den Meriten ihres Sohnes? Und inwieweit gehen ihre eigenen Meriten über die einer normalen Sterblichen hinaus? Ist die Geburt eines Kindes wie Jesus eine besondere Leistung, wofür sie außergewöhnlich geehrt zu werden verdient?
Und wenn man ihr im himmlischen „Pantheon“ der Christenheit einen höheren Platz zusichern will, ist dazu eine außergewöhnliche Heiligsprechung nötig?
Jahrhunderte lang kam man ohne eine förmliche Dogmatisierung dieser Maria und der mit ihr verbundenen Aspekte aus. Erst 1854 und knapp 100 Jahre später, am 1. Nov. 1950 - in zwei Wochen ist also 75jähriges Jubiläum - , wurde in einem dogmatischen Doppelschlag diese ihre definitive Aufwertung nachgeholt, letzteres Dogma mit dem Namen "Assumptio beatae Mariae", „die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel“, – kommt sie denn nicht auch so in den Himmel?
9. Mariologie als Reinheits- oder Unschuldserklärung der Maria und gleichzeitig das grundlegende Dokument für ihre Ehrenstellung als "Gottes(sohn)mutter" und Patronin der Kirche
(15. 10. 25)
Katholisch - evangelischer Gegensatz?
Die Mariologie kann als Seitentrieb der Christologie verstanden werden, wenn sie richtig dargestellt wird. Das muß allerdings erklärt werden. Denn für evangelische Christen ist Maria bekanntlich kein Bestandteil des Erlösungswerkes Christi. Ihre Mutterschaft ist ein Geschehnis, für das sie eigentlich nichts kann. Normalerweise fällt kein besonderes Licht auf sie, meist steht sie im Schatten ihres Sohnes.
Katholiken bemühen sich mit Recht um mehr Aufgeschlossenheit ihr gegenüber. Sie ist immerhin die Mutter Jesu. Das darf in ihren Augen nicht unterschlagen werden.* Aber wenn man sie nach ihrer persönlichen Meinung fragt: Ist Maria durch ihr Ja zu dieser biologisch unerklärlichen Schwangerschaft zur Teilhaberin am Erlösungswerk Christi geworden? sind sie oft recht hilflos, jedenfalls gibt es kein eindeutiges Ja. Einige werden Vielleicht sagen, andere eher Nein, wieder andere fragen zurück: Inwiefern?
* Darum fragt es sich, warum Maria seit Vatic. II in die Ekklesiologie abgeschoben worden ist und nicht mehr ein eigenes Kapitel in der dogmatischen Christologie erhält, wo sie hingehört, wenn auch nicht als "Miterlöserin", sondern als erwählte Person! Insofern gehört sie streng genommen in die Erwählungslehre, erwählt um Christi willen.
Ist eine Verständigung möglich?
Wenn der biblische Text historisch-kritisch betrachtet wird, kann man Luk 1, 26ff. wie auch Mt 1, 18ff nur als sekundäre (poetische) Gebilde betrachten, die für eine historische Erörterung unbrauchbar sind. Denn jeder der beiden Evangelisten, vielleicht handelt es sich auch um spätere Redakteure, stellt uns die Ereignisse vor und um die Geburt Jesu je nach ihren Intentionen sehr unterschiedlich dar. Das einzige, was sie verbindet, ist die Armseligkeit der Geburtsumstände, die sie erzählen, bei gleichzeitiger symbolischer Überhöhung des ganzen Geschehens, wobei im einen Fall auf prophetische Verheißungen (Mt 1, 22; 2,15.17.23) und auf die Geschichte des Alten Israel zurückgegangen wird, und im anderen Fall wird sogar der weltpolitische Kontext (Lk 2, 1f.) des Römischen Reiches und seines Kaisers Augustus herangezogen. Damit geben sie die Perspektive vor, die sie bei ihrer Abfassung des Evangeliums leitet und in der sie die weitere Geschichte Jesu gesehen wissen wollen.
Klärungsversuch - ist die Jungfräulichkeit Marias theologisch notwendig?
(1) Ohne Maria wäre Jesus natürlich nicht geboren worden. Deshalb gehört sie irgendwie in das göttliche Erlösungswerk hinein. Es wird ja nicht der pure Zufall gewesen sein, daß Gottes Wahl auf sie fiel. Denn mit ihr und dem Kind (in ihrem Bauch) geht eine alte Verheißung in Erfüllung, wie es auch die Verwandtschaftslisten erkennen lassen.
(2) Einerseits ist klar: So wie diese geheimnisvolle Schwangerschaft zustande gekommen ist, nämlich ohne einen Mann, allein durch Gottes Willen, muß sie auf ihre Weise Gottes Erwählte sein. Sollte dieser Umstand die Kirche nicht veranlassen, sie besonders hervorzuheben und zu ehren; und warum nicht sogar mit dem symbolischen Titel einer „Gottesmutter“, auch wenn dieser Titel mißverständlich sein mag? Andererseits müssen wir uns fragen, was von dieser "Leihmutterschaft" rein menschlich zu halten ist. Wenn Maria nur ihren Körper für dieses Kind zur Verfügung stellt, ohne selbst, wie es natürlich wäre, an der Zeugung beteiligt zu sein, dann mag zwar die "göttliche Natur" in Jesus durch sie unverletzt zur Welt gekommen sein, aber für den "Menschen" Jesus scheint doch das Wichtigste zu fehlen, nämlich die Zeugung durch einen menschlichen Vater. Schämte man sich seiner, oder hielt man es für unpassend, daß Jesus wie alle anderen Menschen auf natürliche Weise gezeugt wurde? Die Geburt Jesu durch die "Jungfrau" Maria ist jedenfalls kein hinreichender Beleg für seine natürliche Menschlichkeit. Was später die Zwei-Naturen-Lehre zu leisten versuchte, nämlich die Einheit von Gott und Mensch in Jesus, wird bei dieser Darstellung der Schwangerschaft Mariens entweder noch nicht als Problem erkannt oder bewußt überspielt.
(3) Was können wir an Maria für unseren Glauben gewinnen? Auf jeden Fall die Einbeziehung des weiblichen Elements. Erinnert sei an die jüngste katholische (feministische) Reformbewegung „Maria 2.0“. Die Gefahr ist allerdings die, daß Maria zur Konkurrentin für Jesus wird; daß man sich im Gebet (Maria hilf!)* lieber ihr zuwendet als Jesus. Denn er verkörperte in vorkonziliarer Sicht als der Herr eher das harte und strenge Regiment des Richters in der Kirche, sie dagegen das milde und nachsichtige Element der liebenden Dulderin. Für viele Katholiken vor dem 2. Vatik. Konzil hatte sie als das wahre Bild einer Mutter gegolten, und noch immer beeinflußt sie in aller Welt die Mutterrolle vieler Katholikinnen. Wegen ihres möglichen Einflusses auf Jesus wird sie auch heute noch von vielen (kathol.) Gläubigen angefleht, für sie und ihre Anliegen bei ihrem Sohn ein gutes Wort einzulegen, als ob man sich nicht direkt an ihn wenden könnte. Die Stellung der Frau ist allerdings heute nicht mehr so untertänig auf den Mann ausgerichtet (und das gilt auch für die Nonnen im Kloster!), und deshalb sollte sich auch die Rolle der Maria und damit der Frau in der Kirche nach und nach ändern. Sie wird sich nicht nur ein neues Kleid und eine neue Frisur zulegen, sondern gegenüber der Männerkirche stärker auf Gegenkurs gehen müssen. Umgekehrt sollten Männer nicht ständig als herrschsüchtig und alles bestimmen wollend verleumdet werden. Beide Seiten brauchen einander. Und irgendwann wird darum auch der Pflichtzölibat fallen müssen ...
* Die offizielle Kirche hat sie allerdings inzwischen nur noch als „Postbotin“ für die an sie gerichteten Gebete beschäftigt, die sie an den eigentlichen Adressaten, Jesus, weiterzuleiten hat …
(4) Übrigens bietet auch die Ekklesiologie keine Gewähr, daß die Widersprüche der römischen Mariologie definitiv aufgelöst werden. Denn solange Maria die Kirche repräsentiert, wenn auch nur symbolisch, steht Jesus offenbar unter ihr! Er ist dann nur Mittel zum Zweck für die heilige Kirche und sie die über allem thronende Himmelskönigin! Dieser Gefahr ist sich die Kirche aufs ganze gesehen noch nicht hinreichend bewußt geworden (trotz Vaticanum II), denn in manchen Regionen der Weltkirche gibt es noch immer reichlich extreme Formen des Marienkults (und das um so mehr, je weniger die Frauen in der Kirche zu sagen haben!), wobei auch Überreste von Mutterkulten auf Maria übertragen wurden.
(5) Eine letzte Frage: Wenn die röm. Kirche aus eigenem Ermessen Jungfrauengeburt sowie Mariae Himmelfahrt bzw. assumptio als Dogma verkündet hat, müssen wir uns als Protestanten dagegen mit allen Mitteln wehren, nur weil es dafür keinen Schriftbeweis gibt? Nein, das müssen wir nicht. Man muß nur auf die zeitgeschichtliche Situation sehen, in der diese Dogmen für notwendig erachtet wurden: Es waren Zeiten des Kampfes der sich schwach fühlenden Kirche einer übermächtigen (atheistischen) Moderne gegenüber. Sie brauchte nichts so sehr wie Ermutigung und Trost (ich denke dabei an die Schutzmantel-Madonna). Kirchliche Dogmen darf man ja weniger nach ihrem faktischen Wahrheitswert beurteilen, sondern vor allem nach dem Nutzen für die Kirche und für die Gläubigen.
Wolfgang Massalsky, 25. 10. 25