Festschrift

Unsere Jubiläumsschrift (Redaktion: Dr. Heike Müns) enthält Beiträge von (haupt- und ehrenamtlichen) Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, Gemeindegliedern und Zeitzeugen sowie einen Abriß der Geschichte der Erlösergemeinde und vieles andere mehr. (Umfang  131 Seiten)

 

Wer eine Festschrift erhalten möchte, kann sie noch bei mir oder in der Erlöser-Gemeinde käuflich erwerben. Selbstkostenpreis 5 Euro. Anfragen  per email. Vielen Dank. (Als Postsendung mit entsprechendem Porto)

 

Die Textfassung der Festschrift (ohne Bilder, Umlaute und andere Zeichen nicht durchgängig korrigiert)

100 Jahre Erlöserkirche
Festschrift
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
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Herausgeber:                                                               
Gemeindekirchenrat der Erlöser-Kirchengemeinde            
Wikingerufer 9, 10555 Berlin                                                                        
030/ 391 22 17, www.erloesergemeinde-moabit.de             
Erarbeitet von einer Projektgruppe der ErlÄserkirche
unter Leitung von Dr. Heike Müns.  
Layout: Heiko Hobohm
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Inhaltsverzeichnis
1. Geleitwort................................................................................................................................ 5
2. Aus der Geschichte unserer Kirche .......................................................................................... 8
Kleiner Spaziergang durch Moabit ................................................................................................... 8
Warum noch eine fÅnfte Kirche in Berlin Moabit? ......................................................................... 11
Kleine Baugeschichte der ErlÄserkirche in Moabit ......................................................................... 15
Die ersten 10 Jahre ........................................................................................................................ 26
NS-Zeit – VerdrÉngte Zeit? ............................................................................................................. 38
„100 Jahre alt bin ich ja noch nicht…“ ............................................................................................ 38
„Beschwerden Åber Geistliche und Kirchenbeamte der ErlÄserkirche von 1934“ ........................... 39
Aus der Zeittafel ............................................................................................................................ 45
ZerstÄrung und Wiederaufbau....................................................................................................... 50
Die Wiedereinweihung der ErlÄserkirche am 9. MÉrz 1958............................................................ 58
3. Kirche heute – Kirche im Wandel........................................................................................... 64
Unsere Pastoren ............................................................................................................................ 64
Paul Tillich als Hilfsprediger in der ErlÄserkirche 1912/ 13 ............................................................. 65
PersÄnliche EindrÅcke von Pfarrerin Annette Reichwald-Siewert ................................................... 69
Wolfgang Massalsky: Mein Dienst in der Erlösergemeinde ............................................................ 72
Wir engagieren uns: Moabiter Erklärung ....................................................................................... 75
Aus der Gemeindearbeit ................................................................................................................ 79
Jugendarbeit.................................................................................................................................. 79
Erinnerungen an die Junge Gemeinde ........................................................................................... 80
Ein Jugendprojekt .......................................................................................................................... 81
Fahrt nach Taizá 02.07.-10.07.2011 ............................................................................................... 87
Spätcafá ........................................................................................................................................ 88
Laib und Seele ............................................................................................................................... 89
4. Laudate Dominum ................................................................................................................. 90
100 Jahre Kirchenmusik in der Erlöserkirche .................................................................................. 90
5. Stimmen aus der Gemeinde .................................................................................................. 94
Familie Berndt – Ein Leben mit der Erlöserkirche ........................................................................... 94
Ein Geburtstagsstrauß mit vielen guten Wünschen........................................................................ 96
Schlusswort ................................................................................................................................. 100
6. Dokumentation.................................................................................................................... 101
Wortlaut der Urkunde, die am 18. November 1909 in den Grundstein eingelegt wurde .............. 101
Bericht zur Kreissynode aus der ErlÄsergemeinde 1931 ............................................................... 102
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
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Berichte der Pfarrer zur kirchlichen Statistik an der Erlöser-Kirchengemeinde 1932 und 1933 .... 106
Wirksame Erwerbslosenhilfe In der Erlöser- Kirchengemeinde .................................................... 110
Berichte der Pfarrer zur kirchlichen Statistik an der Erlöser-Kirchengemeinde 1935 .................... 111
Kostenvoranschlag fÅr GlockenlÉutemaschine 1935 .................................................................... 113
Schreiben an die Metallsammelstelle von 1940 ........................................................................... 114
Das Sammellager in der Levetzowstraße und der Abtransport in die Konzentrationslager 1941 .. 115
Bericht über den Brand in der Kirche am 01. März 1943 .............................................................. 117
Die Not der Erlösergemeinde im Nachkriegs-Berlin ..................................................................... 119
Wiedereinweihung der Erlöserkirche: Zeitdokumente zur Einlage in die Turmkugel von 1956 ..... 121
Festpredigt anlässlich der Wiedereinweihung der ErlÄserkirche .................................................. 123
Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1965 ............................. 129
Neuaufteilung unseres Gemeindebezirks Okt/Nov 1976 .............................................................. 130
Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................................................ 131
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
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1. Geleitwort
Liebe Gemeinde, sehr verehrte, liebe Gäste!
In  diesen  Tagen,  genauer  gesagt  vom  8.  bis  15.  Mai feiern  wir  den  100.  Geburtstag  unserer
Kirche  und  wir  freuen  uns  besonders  darauf,  dass  auch  unser  Bischof  Dr.  Dröge  dabei  sein
kann. Am 14. Mai 1911 war sie einst in  Gegenwart des Prinzen August Wilhelm von Preuàen
eingeweiht worden. Die Ära von Thron und Altar ist bald darauf erloschen. Eine neue stürmische Zeit brach mit der Ausrufung der Republik an. Und bald danach wieder eine andere, die
durch  die  versuchte  ideologische  Gleichschaltung  der  Kirche  durch  den  NS-Staat  gekennzeichnet war, eine Zeit der KÉmpfe, in der auch unsere Gemeinde und besonders einer unserer  Pfarrer  manchen  Zerreiàproben  ausgesetzt  war,  und  schlieàlich  als  Ergebnis  dieser
schrecklichen Zeit der Trümmerhaufen am Ende des Krieges, eine Ruine unter Ruinen.
Was hat diese „Dame“ nicht alles in  ihren  100 Lebensjahren an Höhen und Tiefen erlebt und
erlitten!  Bis  die  Gemeinde  sich  in  ihr  erneut  zu  gemeinsamen  Gottesdiensten  sammeln
konnte,  das  war  1958,  mussten Gottesdienste  und  sogar  Konfirmationen  viele  Jahre  lang  in
der  1.  Etage  des  Gemeindehauses  abgehalten  werden,  weil  der  Wiederaufbau des  Kirchenschiffs  und  die  Erneuerung  des  Westwerks  sich  so  lange  hinzogen.  Trotzdem  erinnern  sich
noch viele gern an die Zeit, die sie damals hier erlebten.
Unsere Kirche  hat  in  den  epochalen  UmbrÅchen unserer  Geschichte für  viele  Mitbürger und
Mitbürgerinnen,  die  sogar  im  roten  Arbeiterbezirk  Moabit  lange  Zeit  mit  der  Christengemeinde  fast  identisch  waren,  das  Erscheinungsbild  und  die  innere  Struktur  des  Lebens  in
unserer Region mit geprÉgt und mit geformt – zusammen mit ihren  „Kirchenschwestern“ St.
Johannis,  Heilige  Geist,  Kaiser-Friedrich-GedÉchtnis,  dazu  Heiland  und  Reformation,  die  inzwischen in der neuen Gemeinde Moabit West aufgegangen sind.
Einst  als  Ableger  der  Élteren  Heilands-Kirchengemeinde  und  im  Hinblick  auf  die  neu  zu
schaffende  Erlösergemeinde  gegründet,  um  den  Abstand  der  Kirche von  der  Arbeiterschaft
am westlichen Rand des damaligen Kirchenkreises Berlin Stadt II zu verringern, kam es schon
bald  zu  einem  regen  pastoralen  und  seelsorgerischen  Wirken  mit  für  heutige  Verhältnisse
erstaunlichen Zahlen von Gottesdiensten (Sonntagvormittag  und -abend) und Amtshandlungen  (Taufen,  Trauungen,  Konfirmationen).  Mit  dem  spÉter  fertiggestellten  Pfarr-und  Gemeindehaus am  Wikingerufer mit seinen  Diensten und  Angeboten war die  Volkskirche  auch
in diesem Bereich Moabits voll funktionsfÉhig.
Heute wie damals  ist  das wuchtig wirkende,  wehrhafte Westwerk unserer Kirche, der Abteikirche  von  Corvey  nachempfunden,  fÅr  viele  „Spreekieker“,  Kanuten,  Fracht- und  Ausflugsschiffer  eines  der  Wahrzeichen  auf  ihren  Fahrten  durch  die  Wasserstraàen  Berlins,  unter
Brücken  hindurch,  an  Häuserschluchten  und  Parks  sowie  Industrie- und  Forschungsstätten
vorbei.
Wie  vor  hundert  Jahren  winken  ihre  beiden  Türme  auch  heute  noch  vielen  Wasserwanderern,  aber  auch  Autofahrern,  Radfahrern  und  Fußgängern,  Menschen,  die  zur  Arbeit  fahren
oder  am  Abend auf  dem  Weg in  den  Feierabend  sind,  einen  freundlichen  Willkommensgruß
zu. Und wenn „Offene Kirche“ ist, hält so mancher bei ihr an und besucht sie auch von innen,
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freut  sich aus dem Gedränge des Verkehrs draußen in  ihre  Mitte  einkehren, für  ein  paar Minuten stille werden zu können.
Also  Grund  genug  dankbar  zurückzublicken,  eine  Woche  lang  diese  Zeit  Revue  passieren  zu
lassen,  dabei  den  Blick  immer  auch  nach  vorne  gerichtet,  nicht  nur  der  Gegenwart, sondern
auch der Zukunft zugewandt.
Viele  Generationen  haben  am  Bau  dieser  Kirchengemeinde  und  ihrer  Kirche  mitgearbeitet.
Während die  Ufer der  Spree  mit ihren  unterirdischen  Wasserarmen sich  in  dieser  Zeit  kaum
verändert  haben,  strebt  die  Gemeinde neuen  Ufern zu:  In  diesem  Jahr  wurde die  Erlösergemeinde  Teil  des  neugegründeten  Tiergartener  Pfarrsprengels.  Vielleicht  gelingt  es  uns,  daraus  eines  Tages  eine  neue  Gemeindekonstruktion  zu  errichten,  die  die  Gemeinden  Tiergartens zu noch engerer Zusammenarbeit verbindet.
Das Charakteristische  unserer  Gemeindearbeit,  was  wir  als  Mitgift in  eine  zukünftige  Regionalgemeinde  Tiergarten  einbringen  kÄnnen,  ist  neben  der  großen  Bedeutung  der  Kirchenmusik  und  der  Chorarbeit  für  Jung  und  Alt  (einschließlich  Posaunenchor),  das  soziale  Engagement.
So  wurde nicht  nur  das  Spätcafá  bei  uns  aufgemacht  mit Essen  und  anderer  Versorgung für
viele  Obdachlose  und  sozial  Schwache,  es  kam  in  den  letzten  Jahren  auch  die  Einrichtung
„Laib  und  Seele“  dazu,  wo  Menschen  aus  der  ganzen  Region  und  darüber  hinaus  sich  das
ganze Jahr über Nahrungsmittel verschiedenster Art abholen können.
Daneben wurde die Verbindung von Politik und Kirche durch besondere Veranstaltungen nie
ganz aus dem Blickfeld verloren, aber auch der  interreligiöse  Dialog hat hier, seitdem  dieser
Stadtteil  durch  seine  muslimischen  Mitbürger  ein  anderes  Gesicht  bekam,  reges  Interesse
gefunden.  Auch  bildungshungrige  und  theologisch  interessierte  Erwachsene  konnten  hier
auf ihre Kosten kommen, und deutsche und ausländische Kinder werden nicht nur in unserer
Integrations-Kita  betreut,  sondern  sie  können  in  der  Kinderkirche  („Kiki“)  auch  das
Einmaleins der Bibel und eines Lebens mit dem großen Kinderfreund Jesus lernen.
Wohin werden  wir  gehen,  wenn  wir  nach  dem  Fest  und  den  gemeinsam  verbrachten  Stunden  wieder  auseinander  gehen?  „Wohin  sollen  wir  gehen?“,  fragte  schon  Petrus  seinen
Herrn. „Nur  du  hast  Worte des  ewigen  Lebens“,  erlösende  Worte mitten in  unserer  Arbeits- und  Leistungsgesellschaft,  das  wollte  die  Erlösergemeinde  den  Menschen, die  zu  ihr  kamen
anbieten, Brot des Lebens, eine Speise, die Herz und Seele stärkt und zeigt, dass der Mensch
nicht nur von dem täglichen  Brot lebt,  das sauer verdient werden muss, „sondern von einem
jeglichen  Wort, das aus Gottes Mund kommt“. Aber auch umgekehrt: Niemand sollte auf ein
besseres  Jenseits  vertröstet  werden,  dem  das  Nötigste  zum  Leben  verwehrt  wird. Dazu
möge  der  Gemeinde  als  ein  wichtiger  Schwerpunkt  in  dieser  Region  noch  lange  Zeit  Platz
zum Wirken gegeben sein. Ihre Stimme war in der Vergangenheit nicht unwichtig.
Hoffentlich  kann  sie  zum  gemeinsamen  Besten  ihre  Gaben,  ihre  Kraft  und  ihre  Glaubensbereitschaft  auch  weiterhin  klingend  und  singend,  betend  und  verkündigend,  arbeitend  und
lachend, tröstend und segnend in  den Gabenteller der Gemeinden dieser Region einbringen,
damit  das  Werk  der  vielen  Pfarrer  und  Pfarrerinnen,  der  Kantoren  und  Kantorinnen,  der
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Gemeindehelferinnen  und  Jugendarbeiter,  der  Haupt- und  Ehrenamtlichen,  aber  auch  das
Leiden und Kämpfen, Bangen und Hoffen nicht umsonst gewesen ist.
Viel  hängt  freilich  auch  von  den  Gemeindegliedern  selbst  ab,  wie  sehr  sie  ihrer  Kirche  treu
bleiben,  was sie zu  ihrem  Erhalt  tun,  was sie  dazu  in  Wort und  Tat  beitragen  können.  Kirche
zu  bauen,  zwischen  Dovebrücke  in  Charlottenburg,  Turmstraße,  Huttenstraße,  Kaiserin-Augusta-Allee  bis  zur  Jagowstraße und  Hansabrücke,  ist  jetzt  ein  Jahrhundertwerk  geworden.
Wie  wird  sich  die  Kirche  in  den  nächsten  Jahrzehnten  entwickeln?  Wahrscheinlich  kleiner,
aber muss das heißen schwächer?
Möge  sie  uns weiterhin  begleiten  auf  unseren  Lebenswegen  die  alte  und  immer  wieder
junge Erlöserkirche. Darauf richten sich heute die Wünsche vieler, wenn sie der 100 Jahre alt
gewordenen  Kirchendame  gratulieren  kommen,  wozu  wir  Sie  alle  sehr  herzlich  willkommen
heißen.
Pfarrer Wolfgang Massalsky Berlin, 28. April 2011
Die Erlöserkirche heute von der Gotzkowsky-Brücke aus.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
8
Erlöserkirche 1960
Erlöserkirche heute
Erlöserkirche und Gemeindehaus vor der Zerstörung.
2. Aus der Geschichte unserer Kirche
Kleiner Spaziergang durch Moabit
Erste Annäherung von der Gotzkowsky-Brücke aus:
Verkündigung durch Wort und Musik –
das  sind  die  Grundpfeiler  des  Innenlebens  in  der  Moabiter  ‚Erlöserkirche’
seit  nunmehr  100  Jahren.  Die Wirkung
von  Wort und  Musik scheint  durch  die
betonte  Sachlichkeit  des  nach  der
Zerstörung  1943  durch einen
Luftangriff  erst  1958  wieder  eingeweihten  Kirchenraumes  verstärkt  zu
werden.
1
Diesen  Eindruck  einer  Konzentration  auf  das  Wesentliche
vermittelt  auch  der wuchtige
schnörkellose  Kirchenbau  am  Ufer  der
Spree,  der  mit seinen  beiden
markanten Türmen jeden grüßt, der sich der Gotzkowsky-Brücke nähert.
Die nach  dem  Kaufmann,  Bankier  und  Besitzer  einer  Porzellanfabrik,  Johann  Ernst  Gotzkowsky benannte Brücke wurde zwischen 1910 und 1911 erbaut. Ihr  Name weist auf die Be-1
Vgl. Anhang, Dokumentation: Bericht über den Brand in der Kirche am 1. März 1943
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
9
deutung der rasanten  industriellen Entwicklung der ‚Kaiserstadt  Berlin’ nach der Reichsgründung  1871  hin.  Die  Betreiber  der  an  den  Ufern  der  Spree  errichteten  Fabriken,  nutzten  die
Wasserstraße für  den  Güterverkehr,  neue  Brücken  wurden  von  den  Industriefirmen  um  die
Jahrhundertwende  benötigt.  So  wurde  beispielsweise  der ‚Borsigsteg’  1905  als  Fußgängerbrücke  in  Betrieb  genommen,  die  an  den  ‚Lokomotiven-König’  August  Borsig  und  seine
Maschinenfabriken  in  Moabit  erinnert,  1909  folgte  der  Neubau  der  Hansabrücke  zwischen
Moabit und dem Hansaviertel. Die für  ihre  Erbauungszeit (1910-1911) modern erscheinende
Gotzkowsky-Brücke,  wichtig  auch  für  den  Industriestandort  Franklinstraße,  bildet  den  Abschluss  dieser  Spreebrücken,  mit  ihrer  eigenwilligen  Schönheit  in  einem  Reiseführer  für
Moabit treffend als ‚Brückensymphonie’ bezeichnet.
2
1894  hatte  die  Berliner  Stadtverordnetenversammlung  den  Bau  der  Gotzkowsky-BrÅcke  unter  der  Bedingung  bewilligt,  dass  die  anliegenden  Industriefirmen  einen  finanziellen
Zuschuss von 30.000  Euro zahlten. FÅr die Gestaltung waren der Architekt Alfred Grenander
und  die  BrÅckenbaufirma  der  Maschinenfabrik  von  Ludwig  Loewe  an  der  Huttenstraàe  in
Moabit  zustÉndig. Auf  12  StahlbÄgen  ruhend  und  geschmÅckt  mit  Tierplastiken  des  Bildhauers  Walter  Schmarje  hat  man  von  der  BrÅcke  aus  einen  wunderschÄnen  Blick  auf  den
imposanten und ungewÄhnlichen Kirchenbau von ‚ErlÄser’.
Der  Blick  wird,  auch  wenn  man  mit  dem  Schiffsweg  auf  der  Spree  von  Charlottenburg
kommt, sofort angezogen von der Westfassade der zweischiffigen Hallenkirche mit dem Glockenturm mit seinen beiden mit Kupfer beschlagenen TÅrmen (37,5 m). Ihr architektonisches
Vorbild  zitiert  deutlich  das  Westwerk  der  vorromanischen  Abteikirche  Corvey,  der  Gesamtbau  orientiert  sich  am  Stil  mÉrkischer Backsteingotik.  So  leuchten  die  Klinker  der  ErlÄserkirche je nach Jahreszeit in warmen Farben durch die BÉume am Ufer der Spree.
Sie  wurde  und  wird  als  Wahrzeichen in  verschiedenen  Richtungen  und  Funktionen  wahrgenommen: FÅr die GlÉubigen als „VerbindungsbrÅcke besonderer Art zwischen den Menschen
und  dem  ‚lieben  Gott’ in  diesem  damals  nicht  gerade  von  Zuspruch  und  Zuwendung  seitens
der  anstÉndigen  BÅrger  verwÄhnten  Arbeiterviertel  Moabits“,  wie  es  Wolfgang  Massalsky,
Pfarrer an der ErlÄserkirche, einmal ausdrÅckte
3
.
Für  alle  Berliner  und  Touristen  dient  sie  als  geographische  Orientierung von  der  Charlottenburger  Seite  aus,  und  schließlich  zeigt  die  weithin  sichtbare  Turmuhr  an,  welches  Stündlein
geschlagen  hat. Wer den  Klang  von  Kirchenglocken  liebt,  wird den  fein  abgestimmten  Klang
mit  dem  Geläut  der  Heilands- und  Kaiser-Friedrich-GedÉchtniskirche  als  wohlklingend
empfinden.
Nichts scheint mehr darauf hinzudeuten, dass der schöne Kirchenbau durch einen Luftangriff
am  22.11.1943  bis  auf  die  Grundmauern zerstört  worden war,  ist  er  doch  ab  1956  nach  Plänen  von  Walter  Krüger  in  schlichterer,  aber  überzeugender  Ausführung  wieder  aufgebaut
und am 9. März 1958 durch Bischof Dibelius wieder eingeweiht worden.
4
2
Jürgen  Grothe: Ein  Spaziergang  durch  Moabit….wie Bolle  auf  dem  Milchwagen. Geschichte und Geschichten.
Kassel 2008, S. 89
3
Der Gemeindebrief der Evangelischen ErlÄser-Kirchengemeinde 2001, S. 5.
4
Vgl. Anhang, Festpredigt von Bischof Dibelius.
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
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Erlöserkirche noch ohne Gemeindehaus.
Will man die ErlÄserkirche von der Hansabrücke aus kommend erreichen, so scheint sie sich
zu  verstecken,  bildet  sie  doch  als  ‚Eckkirche’  gleichsam  den  Schlussakkord  der
Levetzowstraàe neben der heutigen Heinrich von Kleist–Oberschule.
5
Im  Verlauf  der  Levetzowstraße  erinnern  zahlreiche  vor  den  HÉusern  eingelassene  Stolpersteine  aus  Messing  mit  den  eingravierten  Daten  an  die  jüdischen  Bewohner,  die  bis  1938
unsere  Nachbarn  waren.  Eine  Gedenkstätte,
6
eine  stilisierte  Rampe  mit  einem
Eisenbahnwaggon,  dahinter  eine  metallene  Schrifttafel  mit den  Daten der  von  Berlin  ausgehenden  Transporte  in  die  Vernichtungslager  an  der  Stelle  der  ehemaligen  Synagoge  mahnt
uns,  dass  auch  die  einhundert  jährige Geschichte  der  Erlöserkirche  nicht  nur  Freudenzeiten
kannte, sondern auch mit belastenden Situationen konfrontiert war.
5
Das damalige Kleist-Lyzeum wurde  zwischen 1927-1929 gebaut.
6
Errichtet  von  dem  Bildhauer  Peter  Herbich  und  den  Architekten  Theseus  Bappert  und  JÅrgen  Wenzel,  eingeweiht am 14.11 1988.
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
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Warum noch eine fünfte Kirche in Berlin Moabit?
oder: Kirchlich unversorgte Massen als politische Gefahr
7
ZunÉchst  stellt  sich  die  Frage:  Warum  noch  eine  fünfte Kirche  in  Moabit? Will  man  verstehen,  in  welchen kulturpolitischen  und  sozialen  Kontext  der  jüngste  Kirchenbau  in  Moabit zu
stellen  ist,  so  kommen  hier  mehrere  Aspekte  in  Betracht: Als  älteste  Kirche  im  Stadtteil
Moabit  gilt  die  St.  Johanniskirche,  ein  Bau  von  Karl  Friedrich  Schinkel  im  Auftrag  von
Friedrich  Wilhelm  III,  die  1835  geweiht  wurde.  Ihr  folgte  1894  die  Heilandskirche  an  der
Thusnelda-Allee.  Aus  ihrer  groàen  Gemeinde  erwuchsen  mit dem  zunehmenden  Wachstum
der Stadt dann drei neue Gemeinden: Reformation, Heilige Geist und Erlöser.
Neben den Problemen viel zu groàer Gemeinden in  Berlin  mag zusätzlich eine weitere Komponente  Beachtung  finden: Nach  dem  Machtantritt  Wilhelm  II  ist  eine  neue  Politik,  eine
Neuausrichtung  im  Hinblick  auf  die  Stellung  zu  Kirchenneubauten  zu  registrieren,  die  nicht
nur  der  tiefen  Religiosität  des  Kaiserpaares  geschuldet  scheint.  Wenn  auf  einer  Tagung  der
Vereinigten Kreissynoden im Juni 1886 der VizeprÉsident des Evangelischen Oberkirchenrats,
Hermann Freiherr von  der Goltz, die Meinung vertrat, dass das Anwachsen ‚  kirchlich  unversorgter  Massen’ auch  eine politische  Gefahr darstelle,  so  bestätigte  er  damit  BefÅrchtungen
monarchischer  Kreise  vor  einem  Umsturz  und  politisierte  die  damals  so  genannte  ‚Kirchennot’.
8
Viele Kirchenleute hatten zu Ende des Jahrhunderts das Fehlen von Kirchen beklagt und Berlin  als  ‚kirchenärmste  Stadt  der  christlichen  Welt’  bezeichnet.
9
Mit  der  explodierenden
Bevölkerungsentwicklung  in  Berlin  hatte  die  kirchliche  Versorgung  bei  beiden  Konfessionen
nicht  mithalten  können,  so  dass  Gottesdienste  an  andern  Orten  wie  Krankenhauskapellen,
HÄrsÉlen oder Turnhallen stattfinden mussten.
Eine  aufschlussreiche  Begründung  bietet  der  Kammerherr  des  Kaisers,  E.  Freiherr  von  Mirbach, in  der  Einleitung  seines  Buches:  „Die  drei  ersten  Kirchen  der  Kaiserin  für  Berlin“ (Erlöser-Kirche
10

.  Himmelfahrt- Kirche. Gnaden- Kirche)“: „Bei dem schnellen äußeren Emporblühen Berlins, bei dem gewaltigen plötzlichen Aufschwunge der Stadt seit den sechziger Jahren
war  für  alle  kirchlichen  Verhältnisse  sehr  wenig…geschehen.  Die  Mahnrufe  mancher  Getreuen  verhallten in  dem Taumel der blendenden Entwicklung, wo die Stadt von einigen hunderttausend Seelen zur Millionenstadt anschwoll; nur wenige Kirchen wurden gebaut, in unÉbersehbaren Gemeinden…wucherte die Gleichgültigkeit und die Feindschaft gegen die Kirche
empor,  und  fanden  je  mehr  und  mehr  die  Umsturzgedanken  verhängnisvolle Ausbreitung.
Damit ging Armut, Elend und Sünde jeder Art Hand in Hand.“
11
Mit dieser  Einschätzung  bezieht  er  sich  auf  mehrere mündliche und  schriftliche  Äußerungen
des Kronprinzenpaares  seit November 1887. Auf die so genannte ‚Kirchennot’  waren kirchli-7
Paradoxon:  Wie man am Beispiel der  ‚Stillen  Revolution’  in  der  ehemaligen  DDR erkennt,  bilden  auch  ‚Kirchlich versorgte Massen’ eine politische Gefahr!
8
Vgl. Stephan Goetz: Kirchen fÅr Berlin. Der Wilhelminische Bauboom, Berlin 2008, S. 140f.
9
Blasius: Die Noth an Kirchen in Berlin, 1888, S.1. Hier nach Goetz 1988, S. 38.
10
Gemeint ist die ErlÄserkirche in Rummelsburg!
11
E.  Freiherr  von  Mirbach: Die drei  ersten  Kirchen  der  Kaiserin  fÅr  Berlin.  ErlÄser-Kirche.  Himmelfahrt-Kirche.
Gnaden-Kirche. Berlin 1901.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
12
A. von Levetzow, Leiter und MitbegrÅnder
des Ev. Kirchlichen Hilfsvereins. Aus
Mirbach, 1901.
Siegel des Ev. Kirchlichen Hilfsvereins. Aus
Mirbach, 1901.
che  Kreise  also  schon  vorher  aufmerksam  geworden.  Interessanterweise  ist  Åbrigens  Mirbachs  Buch  dem  Landesdirektor  der  Provinz  Brandenburg  A. von  Levetzow
12
gewidmet,  und
da  unsere  ErlÄserkirche  den  Eckpunkt  der  Levetzowstraàe  bildet,  gewinnt  dieser  Fakt  im
JubilÉumsjahr besonderes Interesse.
Den 28.  November 1888  darf  man wohl als  Beginn  einer  intensiven  Bauphase  evangelischer
und katholischer Kirchen werten: „An diesem Tage trafen  sich etwa 40 Vertreter verschiedener  politischer  und  kirchlicher  Richtungen  auf  Einladung  des  spÉteren  Kaiser  Wilhelm II,  um
„im ganzen Lande eine allgemein Sammlung fÉr  die kirchlichen NothstÅnde zu veranstalten“,
auch mit dem Ziel, die Berliner Stadtmission zu unterstÅtzen.
Da auf  diesem  Treffen  in  der  Wohnung des  Grafen Waldersee im  GeneralstabsgebÉude vorgeschlagen  wurde, einen  Verein  zu  schaffen,  der  Mittel zur  VerfÅgung stellen  konnte,  wenn
kirchliche  MÄglichkeiten  erschÄpft  waren,  ist  dieser  Tag  als  ‚Walderseetreffen’  in  die  Kirchengeschichte eingegangen und gilt als Geburtsstunde des dann im  Mai 1888 endgÅltig begrÅndeten ‚Evangelisch Kirchlichen HÅlfsvereins’.
13
12
Albert  Erdmann  Karl  Gerhard  von  Levetzow,  1827-1903,  Politiker,  1867  Landrat  des  Kreises  KÄnigsberg/
Neumark,  von  1881-1884  und  1888-1895  ReichstagsprÉsident.  MitbegrÅnder  des  Evangelischen
Kirchenbauvereins.  Den Ev.  Kirchlichen  Hilfsverein leitete  er  bis  zu  seinem  Tode  1888.  Die  Straàe  wurde  1886
nach dem Adelsgeschlecht der von Levetzow benannt.
13
Vgl. neben Mirbach zuletzt Stephan Goetz, 1982 und die dort angegebene Literatur.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
13
Zum Vorsitzenden wurde von Levetzow bestimmt, das Protektorat Åbernahm Kronprinzessin
Victoria
14
mit  Genehmigung  ihres  Schwiegervaters,  Kaiser  Friedrich  II,  der  am  9.  Mai  durch
eine  Kabinettsordre  ihrem  Wunsch  entsprach:  „Eurer  kaiserlichen  Hoheit  will  ich,  ihrem
Wunsche  gern  entsprechend,  hiermit  die  Erlaubnis  erteilen,  das  Protektorat  Åber  den  zu
grÅndenden  ‚Evangelisch  Kirchlichen  Hilfsverein’  zur  BekÉmpfung  der  religiÄs-sittlichen
NotstÉnde in  den  groàen  StÉdten  anzunehmen.“ Der Dankesbrief der  Kronprinzessin  vom  1.
Mai 1988 an Levetzow fÅr die åbernahme des Amtes des Vorsitzenden nennt die GrÅnde der
Vereinsbildung deutlich:
„Sehr geehrter Herr von Levetzow!
Da  seit  Jahren  an  den  Kronprinzen  und  mich  von  verschiedenen  Seiten  WÉnsche  zur
UnterstÉtzung  der  BekÅmpfung  der  geistlichen  MissstÅnde  unter  den  groÇen  Volksmassen,
vor  allem  in  Berlin,  gerichtet  worden  sind,  und  da  diese  stets  wachsenden  NothstÅnde  eine
dauerndes,  vereintes  Eintreten  aller  derjenigen  erfordern,  denen  eine  AbhÉlfe und  das  Wohl
des  Volkes  wahrhaftig  am  Herzen  liegt,  so  regte  der  Kronprinz  den  Gedanken  der  Bildung
eines  HÉlfsvereins  an,  mit dem  Wunsche,  daÇ ich  demselben  meine dauernde  FÉrsorge  widmen mÑchte.
Ich thue dies von Herze gern. DaÇ Sie, geehrter Herr von Levetzow, trotz ihrer mit GeschÅften
bereits  ÉbermÅÇig  in  Anspruch  genommenen Zeit,  auf  des  Kronprinzen  und  meine Bitte  den
Vorsitz  des  Vereins  Ébernommen  haben,  dafÉr  sage  ich  Ihnen  unseren  aufrichtigsten  Dank.-Mir ist  es  eine  besondere  Freude,  das  Protektorat  mit AllerhÑchster Genehmigung  fÉhren  zu
dÉrfen.
Die von dem Vorstande ausgearbeiteten Statuten habe ich mit groÇem Interesse gelesen und
hoffe,  dass  der  Verein,  von  Ihnen  in  bewÅhrter  Treue,  im  Lande  die  nÑthige  UnterstÉtzung
finden,  segenbringend  wirken  und  dem  einst  ausgesprochenen  Willen und  Wunsche unseres
dahingeschiedenen  unvergesslichen  Kaisers
15
gemÅÇ  dazu  beitragen  werde,  dem  Volke  sein
wichtigstes Kleinod, die Religion zu erhalten.
Ihre dankbare ergebene
Victoria, Kronprinzessin
16

Ein  zweites  Schreiben  der  Kronprinzessin,  das  Levetzow  vor  300  Teilnehmern  der  GrÅndungsversammlung  am  28.  Mai  1888  im  ReichstagsgebÉude  verlas,  wiederholt  die  Klagen
Åber  die  ‚religiÄs-sittlichen  NothstÉnde’  und  fordert  auf,  neue,  notwendige  Arbeiten  anzuregen.  Das  Schreiben  der  Kronprinzessin,  so  Mirbach, „bildete  die  Grundlage nicht  allein  fÉr
die  Arbeiten des  Evangelisch-Kirchlichen  HÉlfsvereins, sondern  auch  fÉr  den  spÅter  von  demselben fÉr Berlin begrÉndeten Kirchenbau-Verein.“
17
Zu  den  bekanntesten  Mitgliedern  gehÄrten  Kaiserin  Auguste  Victoria, Pastor  Friedrich  von
Bodelschwingh, der  LandesprÉsident  der  Provinz  Brandenburg  Albert Erdmann  Karl  Gerhard
von  Levetzow,  der  Privatbankier  Ernst  von  Mendelssohn-Bartholdy,  Albert  Graf  von  Ziethen
als Mitglied des Preuàischen Herrenhauses.
14
Der spÉtere Kaiser Wilhelm II., Éltester Sohn des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preuàen, hatte 1881 Prinzessin Auguste Victoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg geheiratet.
15
Kaiser Friedrich III,  der aufgrund seiner fortgeschrittenen Erkrankung nur 99 Tage regierte, starb am 15. Juni
1888.
16
Mirbach, a.a.O., S. 15.
17
Ebenda, S. 20; am 26. 4. 1921 wurde die AuflÄsung des Vereins beschlossen und arbeitete danach als
Kirchenbau-Kommission im Evangelisch-Kirchlichen Hilfsverein.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
14
Auf der zweiten Jahresversammlung  am 23. Mai 1889  regte  die Kaiserin dann erstmals neue
Kirchenbauten  fÅr  Berlin  an.  Aber  es  gab  vorher  auch  schon  AktivitÉten  fÅr  kirchliche  Neubauten. Wie wichtig der Kirchenneubau erschien, verdeutlicht die hohe Zahl der aufeinander
folgenden Bauten. FÅr die Regierungszeit von Kaiser Wilhelm II ist ein regelrechter Bauboom
auffÉllig, wurden doch zwischen 1888 und 1914 gleich 66 Kirchen in Berlin errichtet.
Neu gebaute evangelische Kirchen bis 1900
18
Frieden 1888-91
ErlÄser (Rummelsburg) 1890-92
Gethsemane 1890-93
Himmelfahrt 1890-93
Emmaus 1890-93
Gnaden 1890-95
Kaiser- Wilhelm-GedÉchtnis 1891-95
Luther 1891-94
Heiland  1892-94
Auferstehung 1892-95
Samariter 1892-94
Apostel Paulus 1892-94
VersÄhnung 1892-94
Immanuel 1892-93
Kaiser-Friedrich-GedÉchtnis 1892-95
Simeon 1893-97
Garnison 1894-96
Trinitatis 1896-98
Kapernaum 1897-02
Golgatha 1898-00
Johannes Evangelist 1898-00
Es folgten 24 weitere evangelische Kirchen bis 1912
Stephanus 1902-1904
Martha 1903-04
Tabor 1903-05
Genezareth 1903-05
Melanchthon 1904-07
Epiphanien 1904-06
Heilig Geist 1905-06
Passion 1905-08
Reformation 1905-07
Lazarus 1905-07
Zwingli 1906-08
Segen 1906-09
Pfingst 1906-08
Martin Luther 1908-09
18
Goetz 1988, aus dem Anhang S. 246.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
15
Hochmeister 1908-10
Paul Gerhardt 1908-10
Elias 1909-10
GalilÉa 1909-10
ERLÉSER 1909-11
Advent 1910-11
Oster 1910-11
KÄnigin Luise GedÉchtnis 1910-11
Heilsbronnen 1911-12
Nikodemus 1912-13
In diesem Kontext ist also auch der Neubau der vierten Kirche in Moabit zu sehen.
Kleine Baugeschichte der ErlÄserkirche in Moabit
Auf Antrag  der  KÄrperschaften  der  Heilands-Gemeinde  beschloss  die  Stadtsynode  auf  ihren
Sitzungen  am  28.  und  29.  April  1904,  fÅr  den  Bau  von  Kirche  und  Gemeindehaus  das  1.188
m
2
bzw.  83,75  Quadratruten  groàe  GrundstÅck  fÅr  144.636,- Mark  von  der  ‚Neuen  Hansaviertel Terrain-Aktiengesellschaft’ zu kaufen. Einen
BeschluÑ XXIII, betreffend Ankauf eines GrundstÅcks zur Errichtung einer dritten Kirche fÅr
die Heilands-Gemeinde
19
, hat die Stadtsynode dahin gefasst:
1. Sie  gibt  ihre  Zustimmung  zu  dem  beigefÉgten,  am  21.  Dezember 1903  zwischen  dem
geschÅftsfÉhrenden  Ausschuss und  der  neuen  Hansaviertel  Terrain-Aktien-Gesellschaft abgeschlossenen Vertrage Éber den Ankauf des in  demselben und auf dem angefÉgten  Lageplan  genauer  bezeichneten,  am  Wikinger  Ufer,  Ecke  Levetzowstraße
belegenen Grundstücks in Größe von 1.188 qm = 83,75 Quadratruten.
2. Die  Kosten  des  Grundstücks  in  Höhe  von  144.636  M  sollen  aus  Anleihemitteln
entnommen werden.
3. Sobald  die  Genehmigung der  Aufsichtsbehörden und  die  Auflassung  des Grundstücks
fÉr  den Stadtsynodalverband  erfolgt  sein  werden, wird dieselbe  zwecks  Errichtung  einer dritten Kirche der Heilands-Kirchengemeinde Éberwiesen.
4. Die  Stadtsynode  räumt  der  Heilands-Gemeinde  den  ungestörten  und  unentgeltlichen
Besitz,  Gebrauch  und  Genuß  des  Grundstückes  solange  ein,  als  auf  demselben  eine
landeskirchlichen Zwecken dienende Kirche sich befindet.
5. Dafür  übernimmt  die  Heilands-Kirchengemeinde die  auf  dem  Grundstücke  ruhenden
Lasten  und  Pflichten  für  die  Zeit  des  Besitzes  vom  Tage  der  Übergabe  an  die  Gemeinde an.
6. Die Heilands-Kirchengemeinde verpflichtet sich, zum Bau der auf diesem Grundstücke
zu  errichtenden  Kirche  die  auf  märkischem  Provinzialrecht  beruhende  Bauverpflichtung der politischen Stadtgemeinde in Anspruch zu nehmen.
Nr. 410 des Notariats-Registers pro 1903
19
Beschlüsse  der  Berliner  Stadtsynode  in  den  Sitzungen  am  28.  und  29.  April  1904,  gedruckt  bei  J. Sittenfeld,
Berlin 1904, S. 39.
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
16
Lageplan für den Bau der Erlöserkirche von 1904
Berlin, den 24. Dezember 1903
Der Kaufvertrag  wird am  24.  Dezember 1903  vor  dem  Notar Felix  Tichauer  durch  die  Personen Louis Oehmke im  Namen des geschÉftsfÅhrenden Ausschusses der Berliner Stadtsynode
für  den  Berliner  Synodalverband  und  Otto  Coulon  und  Albert  Wichmann  als  Vertreter  der
‚Neuen  Hansaviertel  Terrain-Aktiengesellschaft’  geschlossen  und  in  der  Sitzung  der  Berliner
Stadtsynode am 29. April 1904 angenommen.
20
20
Beschlüsse der Berliner Stadtsynode in den Sitzungen am 28.und 29. April 1904, Berlin 1904, S. 43.
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
17
Entwurf der Erlöserkirche von Dinklage
und Paulus 1907
Obwohl  zu  diesem  Zeitpunkt  noch  nicht  an  einen  Kirchenneubau  gedacht  werden  konnte,
wollte  die  Heilands-Kirchengemeinde  Vorsorge  treffen  für  den  Fall,  dass  durch  die  vorhersehbare  Vergrößerung  ihrer  Gemeinde  Neubauten  nötig  werden.  Ausschlaggebend  für  die
Wahl  des  Grundstückes  an  der  Gotzkowsky-Brücke  war  die  überlegung,  „dass  die  an  die
neue  Gemeinde  angrenzende,  von  der  Charlottenburger  Luisengemeinde  sehr  entfernt  liegende  und  darum  schwer  pastoral  zu  versorgende  Gebietsteile  wie  die  Helmholtzstraße,
Franklinstraße, Hallerstraße  u. s. w. und  vom  Martinickenfelde  (Beusselstraße,  Erasmusstraße, Reuchlinstraße) u. s. w. in die neue Gemeinde eingepfarrt werde sollten.“
21
Warum eine Eckkirche?
Die  Erlöserkirche  war  nicht  die  einzige  Eckkirche  in
Berlin,  auch  Advent  und  Oster,  Immanuel,  Kapernaum,  Epiphanien  und  Heilige  Geist  wurden  in  dieser  AusfÅhrung  errichtet.  Zwar  gab  es  schon  Erfahrungswerte  durch  den  bisherigen  Bauboom,  aber
auch  stÉdtebauliche  Grenzen  schienen  erreicht,  so
dass  Eckkirchen  eine  neue  LÄsung  in  der  engen
Bebauung boten.
Auàerdem  gab  es  ab  1900  aufgrund  von  Prozessen
zwischen  Stadt  und  Kirche  keine  unentgeltlichen
BauplatzÅbertragungen  mehr, so  dass  z.B.  die  Neubauten  Simeon,  Golgatha  und  Johannes-Evangelist
„als  Blockkirchen  auf  den  GrundstÅcken  gebaut
wurden,  auf  denen  schon  Éltere  Kapellen  standen.“
22
Bis  dahin  stammten  die  BauplÉtze  fÅr  die  neuen
Platzkirchen  bis  auf  zwei  Ausnahmen  von  staatlicher oder kommunaler Seite.
Die Innenausstattung der neuen Kirche
Eine  pompÄse  Innenausstattung war  zu  bestaunen. In  der  handschriftlichen  Chronik
23
heiàt
es  dazu:  „Die  Ausmalung  der  Kirche,  die  Glasmalerei  des  Altarfensters  sowie  die  Verglasung
sind  eine  SchÑpfung  des  Prof.  Oetken.  Das  Altarfenster  zeigt  die  Weihnachtsgeschichte. FÉr
die  Darstellung  der  Weihnachtsgeschichte hat  man die  ohne  Perspektion  arbeitende SpÅtgothik  gewÅhlt,  damit  die  fÉnf dicken  Steinrippen  nicht  wie  eine  unertrÅgliche  ZerreiÇung
wirken,  sondern  einfach  unbeachtet  bleiben.  Die  Muster  der  anderen  Kirchenfenster  sind
Vorlagen im Utrechter Dom nachgebildet“
24
21
Maschinenschriftliche Chronik der ErlÄserkirchengemeinde, ohne Verf., S. 1.
22
Goetz, a.a.O., S. 164.
23
Handschriftliche  Chronik  von  Pfarrer  Carl  Schmidt  in:  Acta  der  ErlÄsergemeinde  VIII,  Nr.  1.  ErlÄser-Kirche.
Bau. o. p.; Neue ZÉhlung: Archiv der ErlÄserkirche ,1101.
24
Handschriftliche Chronik.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
18
Innenansicht der ErlÄserkirche von Prof. Oetken (oben).
Als Motiv fÅr einen Konfirmationsschein in den 40er Jahren (unten).
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
19
Die  drei  Guss-Stahlglocken,  angefertigt vom  Bochumer  Verein  fÅr  Bergbau  und
Gussstahlfabrikation  wurden  musikalisch  abgestimmt  mit  dem  GelÉut  der  Heilandskirche
und Kaiser-Friedrich-GedÉchtniskirche, so erklingen die Glocken mit den TÄnen es, g und b.
Die auf ihnen angebrachten BibelsprÅche sind bestimmt durch den Gedanken der ErlÄsung:
Die es-Glocke: Gelobt sei der Herr, denn er hat bewahrt und erlÄst sein Volk (Lukas 1,68)
Die g-Glocke: Ich weià, dass mein ErlÄser lebet (Hiob 19,25)
Die b-Glocke: ErlÄse und von allen åbeln
Bei  der  Abnahme  des  GelÉuts  gab  es  kleine  Beanstandungen:  „Die  grÑÇte  und  die  kleinste
Glocke sind absolut rein im Ton, wÅhrend die mittlere eine kleine Schwankung nach oben hat,
die  bei  LÅuten  aber  ausgeglichen  wird.“
25
Der  Bochumer  Verein  fÅr  Bergbau  und
Gussstahlfabrikation gibt daraufhin einen Nachlass von 100 M. Den Auftrag fÅr den Orgelbau
hatte  die  damals  in  Berlin  noch  recht  unbekannte  Firma  Schuke  aus  Potsdam  erhalten, die
stolz auf ihren ersten Orgelbau in Berlin war.
26
Die Turmuhr baute die Firma C.F. Rochlitz aus
Berlin-NeukÄlln.
Das eigene Leben der ErlÄsergemeinde begann erst am 1. August 1912, nachdem sie von der
Heilands-Kirchengemeinde  mit  ca.  14.000  Seelen  laut  Errichtungsurkunde  des  KÄniglichen
Konsistoriums  und  des  PolizeiprÉsidenten  vom  6.  Juli  1912  abgezweigt  worden  war.  Sie
wurde zunÉchst provisorisch verwaltet und dann am 7. Dezember amtlich geleitet von Pastor
Schmidt,  ab  18.  Mai 1913  dann  mit weiterer  UnterstÅtzung  durch  Pastor  Manger aus  Flieth
(Uckermark). Seit 1912 gilt die ErlÄsergemeinde endgÅltig als selbstÉndiger Kirchenbezirk mit
ca. 14.000 GlÉubigen.
Die Architekten Paulus & Lilloe entwarfen auch das Gemeindehaus, ebenfalls in  rotem Backstein,  in  dem  auch  eine  Krankenstation,  eine  Kleinkinderschule,  ein  VorlÉufer  der  Kita,  ihren
Dienst  aufnahmen. So  konnte  vier  Wochen  spÉter,  am  1.  September  1912,  eine  weitere
Einweihung vollzogen werden: Die Einweihung des Pfarr- und Gemeindehauses durch Generalsuperintendent  D.  Lahusen.  Das  schÄne  Haus  beherbergte  zwei  Wohnungen  fÅr  die  beiden  Pfarrer,  aber  auch  Wohnungen  fÅr  KÅster  und  Kirchendiener.  Alle  Wohnungen  galten
durch  die  ErklÉrung  der  KÄrperschaften  in  ihrer  Sitzung  vom  17.  Dezember  fÅr  Dienstwohnungen.
Wiederum an einem Sonntag Kantate, am 30. MÉrz 1913, konnte Pastor Hoppe vom OberlinMutterhaus-Nowawes die TÅr der Schwesternstation der ErlÄsergemeinde aufschlieàen.
Und  am  8.  Oktober  1913  kam schlieàlich  auch  noch  eine  ‚Kleinkinderschule’  mit 15  Kindern
dazu,  in  der  die  Kinder  morgens  von  8-12  und  nachmittags  von  14  bis  16  Uhr  von  einer
unentgeltlich  (!)  arbeitenden  Helferin  betreut  wurden.  Lediglich  ein  Beitrag  von  1  Mark pro
Kind und Monat wurde verlangt.
25
Brief  von  Friedrich  Kerper  am  6.August  1910,  der  im  Auftrag der  Baukommission  der  Heilandsgemeinde die
fÅr ErlÄser gegossenen Glocken auf ihre Stimmung hin prÅfte.
26
Vgl. Beitrag von Edda Straakholder.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
20
So  schienen  zu  diesem  Zeitpunkt  alle  Voraussetzungen fÅr  ein  gutes  Gemeindeleben  erfÅllt,
bis  der  erste  Weltkrieg  diese  Entwicklung  unterbrach  und  die  nÉchste  Einweihung,  nÉmlich
von Gedenktafeln, nicht mehr den Lebenden, sondern den Toten galt.
Seine MajestÖt der Kaiser und KÄnig haben geruht…
Der  PrÉsident  des  ‚KÄnigliche(n)  Konsistorium  der  Provinz  Brandenburg,  Steinhausen,  Åbersendet  dem  Kirchgemeinderat  der  Heilands-Kirchengemeinde  am  10.  Juli  1909  mehrere
Zeichnungen  der  Architekten  Dinklage, Paulus  &  Lilloe  (Berlin  N.W.  Alt  Moabit 110)  und  einen Kostenvoranschlag von  230.000 M. Dazu der  Aufforderung, sich wegen des Termins  der
Grundsteinlegung  mit  dem  Generalsuperintendenten  von  Berlin  ‚ins  Benehmen  zu  setzen’
und  Programm  und  Feier  mit  dem  Vertreter  des  KÄniglichen  Konsistoriums,  Ober-Konsitorialrat  Dr. Crisolli zu besprechen. „Wegen der Benennung der Kirche als ‚ErlÑserkirche’  haben
wir heute dem Evangelischen Ober-Kirchenrat Vortrag gehalten.“
27
FÅr  den  Bau  der  ErlÄserkirche  wurde  wegen  der  ungÅnstigen  BodenverhÉltnisse,  d.h.,  des
sumpfigen  Bodens,  die  Bewilligung  um  30.000  Mark erhÄht,  weil  kostspielige  Fundamentierungsarbeiten  notwendig  waren.  Auch  die  finanziellen  MÄglichkeiten der  kaiserlichen  Schatulle  waren  offenbar  erschÄpft. „Die  Summe  aller  53  Kirchen,  die  in  der  ersten  Phase  des
Wilhelminische  Kirchenbaus  erbaut  wurden,  betrug  nach  dem  Jahresbericht  von  1903  24,1
Millionen  M.,  inklusive  des  Wertes  der  BauplÅtze  30,2  Millionen.  Die  Gesamtaufwendungen
des  Kirchenbauvereins  sowie  des  Engeren  Ausschusses  des  Hilfsvereins  in  und  um  Berlin
wurden mit 11,6 Millionen Mark angegeben.“
28
Die Kosten betrugen beispielsweise:
ErlÄser (Rummelsburg)
Himmelfahrt
Gnadenkirche
Kaiser-Wilhelm-GedÉchtnis
Kapernaum
919.303 M
545.466 M
1.537.615 M
4.499.802 M
603.300 M
29
Am  19.  August  1909  teilt  das  KÄnigliche  Konsistorium  dem  Gemeinderat  der  Heilands-Kirchengemeinde mit:
„Seine MajestÅt der Kaiser und KÑnig haben die Beilegung des Namens „ErlÑserkirche“ fÉr die
in  der  Heilands-Kirchengemeinde  in  Berlin  zu  erbauende  zweite  Kirche  zu  genehmigen  geruht.“
Planung  und  AusfÅhrung  lagen  also  in  den  HÉnden  der  Architekten  August  Georg  Dinklage,
Ernst  Paulus  und  Olaf Lilloe.  Der  Tag  der Feier  der  Grundsteinlegung am  18.  November vormittags  durch  den  Generalsuperintendenten  von  Berlin,  Wilhelm  Faber,  unter  Beteiligung
kirchlicher  AmtstrÉger,  von  Mitgliedern  des  KÄniglichen  Konsistoriums,  aber  auch  des  PolizeiprÉsidenten  von  Berlin,  v.  Jagow;  dem  OberbÅrgermeister  von  Berlin,  Kirschner,  dazu
27
Brief  des  KÄniglichen  Konsistoriums  der  Provinz  Bandenburg,  Abt.  Berlin  an  den  Gemeinde-Kirchenrat  der
Heilands-Kirchengemeinde vom 10. Juli 1909.
28
Goetz, 1988, a.a.O., S. 165.
29
Goetz,1988, a.a.O., S. 165
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
21
Grundsteinlegung der ErlÄserkirche 18.11.1909
Vertretern  der  Architektenfirma,  gehÄrte  zu  den  ersten  festlichen HÄhepunkten  im  Leben
der  ErlÄser-Kirchengemeinde. Wie  wichtig  dieser  Tag  den  Verantwortlich  erschien,  belegt
das  liebevoll  mit  Zierleisten  im  Jugendstil  gestaltete  Programm
30
und  die  aufwÉndige
Zeremonie:
Der Chor unter dem Organisten Reinhold Kurth, der Vater des langjÉhrigen Kantors Johannes
Kurth, sang  die  Motette des  Berliner  Komponisten  Friedrich  Silcher mit dem  beziehungsreichen  Text:  Herr, ich  habe  lieb  die  StÉtte  deines  Hauses,  die  Festansprache  hielt  Pfarrer  Lehmann, die  Stiftungsurkunde  verlas  der  KirchenÉlteste  Prof.  Hoerenz. Mit einer  Eigenkomposition von R. Kurth, einer Mottete mit dem Text ‚FÅrchte  dich nicht’ begann dann die Grundsteinlegung,  die  Weihe  erfolgte  durch  den  Generalsuperintendenten  von Berlin,  Propst  D.
Faber unter Vollziehung der drei HammerschlÉge’.
Und  traditionsgemäß  wurde  auch  eine  Urkunde in  eine  Zinkkapsel  eingelötet  und  in  den
Grundstein  unter  der  Vorhallenfläche  mit  eingelegt.  Der  Hauptteil  des  Urkundentextes  beschäftigt  sich,  gemäß  dem  Namen  der  neuen  Kirche  mit  dem  Erlösungsgedanken.  Der  vollständige Wortlaut des zeittypischen Dokuments ist im Anhang abgedruckt.
30
Preuàe’sche Buchdruckerei, Berlin, Turmstraße 24
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
22
100 Jahre Erlöserkirche, Berlin-Moabit
23
Zur  Einweihung  des  neuen  Gotteshauses  am  Sonntag  Kantate  am  14.  Mai  1911  hoffte  die
Kirchenleitung auf  die Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II,  der jedoch  Pfarrer Lehmann  (Heilandsgemeinde)  telegraphisch  am  10  Mai  um  5.42  aus  dem  Schloss  in  Wiesbaden  wissen
lieà:
„seine majestÅt der kaiser und koenig haben mit allerhoechst ihrer vertretung bei der am 14.
d.  mts.  bevorstehenden  einweihung  der  erloeserkirche  seine  koenigliche  hoheit  den  prinzen
august wilhelm von preussen zu betrauen geruht=der geheime kabinettsrat von valentini“
Und  noch  eine  Zweite Absage  brachte  der  Telegraphenbote,  nun  aus  dem  Neuen Palais  am
13. Mai zu Pastor Lehmann in die Ottostraàe 17:
„ihre  majestÅt  die  kaiserin  werden  sich  bei  der  einweihung  der  erloeserkirche  durch  besondere entsendung einer prinzessin nicht vertreten lassen = von winterfeld kammerherr“
Vielleicht  war man ein  wenig enttÉuscht,  doch  bekamen  die  Telegrammformulare  einen  Ehrenplatz  in  der  Akte  Nr.  1  der  ErlÄsergemeinde,  und  immerhin  konnte  man  das  gedruckte
Programm fÅr die Einweihung, das minutiÄs den Ablauf regelte, mit dem Namen des Prinzen
schmÅcken.
Vor dem Festgottesdienst scheint zunÉchst alle Aufmerksamkeit dem Protokoll fÅr  den Prinzen zu dienen. Er wird an der KirchentÅr empfangen vom Generalsuperintendenten von Berlin,  D.  Faber,  dem  Minister  der  geistlichen  und  Unterrichts-Angelegenheiten  Staatsminister
D. v. Trott zu Solz, dem PrÉsidenten  des Evangelischen Kirchenrates Voigts und weiteren Excellenzen,  dem  OberbÅrgermeister,  den  Geistlichen  der  Heilands-Kirche,  dem  Gemeindekirchenrat, den Mitgliedern der Baukommission, den Architekten Paulus und Lilloe u. a. m.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
24
Ordnung der Einweihungsfeier der ErlÄserkirche von 1911
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
25
Die  Beilage  zum  Evangelisch-Kirchlichen  Anzeiger  berichtet  Åber  die  Einweihungszeremonie
in  ihrer  nÉchsten  Sonntagsbeilage  am  20.  Mai:  „Durch  die  Einweihung  der  ErlÑserkirche  in
Moabit, am  Wikingerufer an  der  Ecke  LevetzowstraÇe,  ist  Berlin  um  ein  bemerkenswertes,
zweitÉrmiges  Gotteshaus  reicher  geworden.  Mit  seinen  oben  verbundenen  TÉrmen  ist  es
weithin  sichtbar.  Die  Kirche  ist  von  den  Architekten  Paulus  und  Lilloe  erbaut;  sie  hat  1000
SitzplÅtze  und  wird  der  neugebildeten,  von  der  Moabiter  Heilandsgemeinde  abgezweigten
Gemeinde dienen…
Beim feierlichen Einzug sang der Kirchenchor der Heilandskirche unter Leitung des Organisten
Kurth  den  98.  Psalm.  Den  Weiheakt vollzog  unter  Assistenz  des  Sup.  Fraedrich  und  des  Pastors  Schmidt  von  der  Heilandskirche  Gen.  Sup.  D.  Faber,  der  seine  Ansprache  anknÉpfte  an
Matth.  20,28:“  Des  Menschen  Sohn  ist  nicht  gekommen,  dass  er  sich  dienen  lasse,  sondern
dass  er  diene  und  gebe  sein  Leben  zur  ErlÑsung fÉr  viele.“  Nachdem  die  Gemeinde  – nicht
mehr mit Posaunenbegleitung,  sondern  zum  ersten  Mal unter  Begleitung der  Orgel – gesungen hatte: “Ich habe nun den Grund gefunden“, bestieg Pfarrer Lehmann die Kanzel zur Festpredigt  Éber  HebrÅer 9,2.:  „Christus  hat  eine  ewige  ErlÑsung  erfunden.“ Mit Gesang und Gebet schloss die Éberaus stark besuchte Feier, der auch Geistliche aus der Umgebung beiwohnten.“
Schon vor 100 Jahren war man auf Spenden angewiesen
Nach  den  Mitteilungen  in  der  handschriftlichen  Chronik  scheint  sich  die  Heilands-Kirchengemeinde besonders um die AusschmÅckung ihrer Tochterkirche bemÅht zu haben.
Es wurden gespendet:
ï‚· Heilige  GerÉte  fÅr  Taufe  und  Abendmahl  von  den  KÄrperschaften  der  HeilandsKirchengemeinde
ï‚· Kruzifix von Rektor Labs
ï‚· Rotes Festtags- Antependium fÅr Altar und Kanzel von den Konfirmandenkindern von
Pastor Schmidt
ï‚· Weiàe Altardecke vom Jungfrauenverein der Heilands-Kirchengemeinde
ï‚· Ein Teppich vom positiven Parochialverein der Heilands-Kirchengemeinde
ï‚· Eine groàe Krone von Frau Oberamtmann Gehricke und ihrer Tochter
ï‚· Das  Altarfenster  durch  Geldspenden  der  St.  Georgen,  Petri-,  Friedrich-Werder-Gemeinde sowie durch Sammlungen in der Gemeinde.
Es mutet uns heute mÄglicherweise eigenartig an, wenn der Kaiser ausgerechnet zur Einweihung einer neuen Kirche  in  Moabit eingeladen wird – zu der er dann schlieàlich Prinz August
Wilhelm schickte – ist  doch Åberliefert,  dass Wilhelm II.  Hofbeamten seine Abneigung ihnen
gegenÅber mit der Bemerkung einleitete: „Na, Sie alter Moabiter!“
Aber  selbstverstÉndlich  hatte  die  kirchliche  Obrigkeit  Wilhelms  Stellung  als  summus  episcopus,  als  hÄchster  Landesbischof  der  Evangelischen  Landeskirche  der  Élteren  Provinzen  Preuàens  zu  berÅcksichtigen,  der  in  dieser  Funktion  auch  den  Namen  ‚ErlÄserkirche’  fÅr  den
neuen Sakralbau am 19. August 1909 genehmigte.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
26
Und  der  Kaiser  war  Åberzeugt  vom  Gottesgnadentum  der  Hohenzollern,  der  Einheit  von
Thron  und  Altar. Bis  heute  werden vielfach  AussprÅche zitiert  wie: „…dass  Wir Hohenzollern
Unsere  Krone  nur  vom  Himmel nehmen  und die  darauf  ruhenden  Pflichten  dem  Himmel  gegenÉber zu vertreten haben“
31
oder 1888 beim Empfang der Berliner stÉdtischen BehÄrden:
„Sorgen Sie dafÉr, dass in Berlin Kirchen gebaut werden!“
32
Die  tiefe  ReligiositÉt  des  Kaiserpaares  war  bekannt, besonders  die  Kaiserin  „gehÄrte  zu  den
Menschen, die  nur  von  der  FrÄmmigkeit  aus  zu  verstehen  sind  “
33
.  Der gutmÅtige  Spott  der
Berliner  sprach  zwar  respektlos  von  der  ‚Kirchenjuste’,  aber  ihr  Einsatz  um  den  Neubau von
Kirchen in Berlin verdiente Achtung: „Der Name der Kaiserin und kirchliche Vorhaben – beide
Begriffe begannen miteinander zu verschmelzen. Die Berliner quittierten das mit gutmÉtigem
Spott,  doch  insgesamt  nicht  ohne  Stolz  selbst  bei  jenen,  deren  Bindung  an  die  Kirche  mit all
ihren Einrichtungen gering oder gar nicht vorhanden war.“
34
Die ersten 10 Jahre
Bei  ihrer  GrÅndung  1911  gehÄrten  von  den  16.414  Einwohnern  14.000  ‚Seelen’,  zur  neuen
Gemeinde,  die  in  den  ersten  20  Jahre  von  den  Pfarrern  Carl  Schmidt  und  Martin  Manger
seelsorgerisch betreut wurde.
Der  Umfang  der ErlÄsergemeinde  geht  hervor  aus  dem:  Kirchlichen  Bericht  fÉr die  ErlÑserGemeinde Éber das Jahr 1913, ausgegeben Neujahr 1914.
Darin  heiàt  es:  „Die  ErlÑsergemeinde  umfaÇt  den  sÉdwestlichen Teil  Moabits,  der  durch  die
LevetzowstraÇe  (beide  Seiten),  JagowstraÇe  (beide  Seiten),  Alt- Moabit  westwÅrts (beide
Seiten), GotzkowskystraÇe (b. S.), TurmstraÇe 61- 66, BeusselstraÇe 1- 14, Spreelauf aufwÅrts
bis zur HansabrÉcke umgrenzt wird. “
Es gehÄren also zur ErlÄser-Gemeinde:
Agricolastraàe, Alt-Moabit 36-76, Solinger Straàe,
Beusselstraàe 1-14a, Eyke-von-Repkow-Platz, Turmstraàe 61- 66, Tile-Wardenberg-Straàe,
Gotzkowskystraàe, Hansa-Ufer , Wikingerufer, Wullenweberstraàe,
Jagowstraàe, Levetzowstraàe, Zinzendorfstraàe, Zwinglistraàe 16-27.
Da es sich bei der Erarbeitung unserer kleinen Festschrift herausgestellt hat, dass kaum noch
jemand  die  ‚alte  Schrift’  lesen  kann,  mÄgen  hier  von  dem  Verfasser  der  handschriftlichen
31
Aus  dem  Trinkspruch  des Kaisers  beim  Besuch  des  Provinzial-Landtages  in  KÄnigsberg  im  Mai  1890,  vgl.
Eugen Richter –Archiv, Politisches ABC Buch, 9.Aufl. 1898.
32
Ebenda.
33
Walter Wendland: Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte in Berlin, Berlin 1930, S. 337.
34
Iselin  Gundermann:  Kirchenbau  und  Diakonie:  Kaiserin  Auguste  Victoria  und  der  Evangelisch-Kirchliche
Hilfsverein.“  In:  Hefte  des  Evangelischen  Kirchenbauvereins,  Bd.  7,  p  4  hier:  Webfassung  von  Dr.  Hermann
Detering, S. 4.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
27
Chronik,  Pfarrer  Carl  Schmidt,  Teile  des  Berichts,  aus  der  RÅckschau  von  1929  geschrieben,
folgen. Mit ihm beginnt die „Acta der ErlÄsergemeinde No.1 ErlÄser-Kirche. (Bau)“.
„Mit dem  Bau  der  ErlÑserkirche  an  der  Grenze zwischen  Berlin  und  Charlottenburg  kam  eine
Bewegung  zum  AbschluÇ, die  vor  1202  von  der  Åltesten  Seite  Berlins  in  dem  kleinen  Fischerdorfe, von der Nikolai-Kirche ihren  Anfang nahm. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts  gab es weit
drauÇen  gelegen  eine  Kapelle  St.  Georgen,  die  zunÅchst  AussÅtzige,  dann  Arme  und  Sieche
und  schlieÇlich  die  Einsamen  der  neu  entstandenen  VorstÅdte:  Spandau-Vorstadt,  Friedrichstadt,  KÑnigstadt  betreute,  kirchlich  jedoch  zu  Nikolai  gehÑrte.  1686  wurde  dieser  Teil  mit
seiner  Hospitalkirche  St.  Georgen  abgetrennt  und  zur  selbstÅndigen  St.  Georgen-Gemeinde
erhoben.  Die  weite  Entfernung  vieler  Vorstadtbewohner  zum  Gotteshaus  legte  den  Wunsch
nach einem eigenen Gotteshaus nahe, den die 3. Gemahlin Friedrich I., Sofia erfÉllte.
1713  war sie  selbst  bei  der  Einweihung  der  nach  ihr  benannten  Kirche    und  von  Georgen abgezweigten  Gemeinde  zugegen.  Bauliche  Ausdehnung  sowie  weiter  drauÇen  entstehende
Neusiedlungen drÅngten  zu  weiteren Abzweigungen. 1718  war durch  die  Ansiedlung franzÑsischer FlÉchtlinge in dem GelÅnde zwischen der heutigen Paul- und KirchstraÇe, die Friedrich
Wilhelm I.  zur  Anlage  von  Maulbeerpflanzungen  und  zum  Betrieb  von  Seidenraupenzucht
dorthin  gewiesen  hatte,  ein  neuer  Lebenspunkt  und  Entwicklungspunkt  entstanden,  der
schon  1730  den  Namen  Moabiter  Land fÉhrte.  Die  frommen,  aus  der  Bibel  lebenden
FlÉchtlinge,  haben  sicher  oft  das  Jesaiaswort  16,4  gebraucht,  das  nach  der  unverÅnderten
Luther-ábersetzung  lautet:  LaÇ  meine  Verjagten  bei  dir  wohnen,  lieber  Moab,  sei  du  ihr
Schirm vor dem ZerstÑrer, so wird der Treiber ein Ende haben .Aus dankbarer Bezeugung hieÇ
es immer wieder: Pays de Moab. „Mein liebes Moab.“
Aus  Moabiterland,  wie  die  Berliner  diese  Kolonie  dann  nannten,  wurde  allmÅhlich  Moabit.
Die Entwicklung war in  100 Jahren  soweit gediehen, dass fÉr  diese zur Berlingemeinde gehÑrenden  Moabiter  ein eigenes  Gotteshaus  gebaut  werden  musste,  das  Friedrich- Wilhelm  IV.
entstehen  lieÇ  und  1835  einweihte,  die  Johanniskirche.  Als Moabit 1861  in  Berlin  eingemeindet  und zu  100.000  Seelen  angewachsen  war, wurde 1896  die  Abzweigung  der  Heilands-Gemeinde und  1907 die  der  Heilige Geist-Gemeinde notwendig.  Bald  waren die  FreiflÅchen  der
Heilands-Gemeinde  nach  Charlottenburg  zu  bebaut  und  ermÑglichten  1907  die  Abtrennung
der  Reformationsgemeinde,  1912  die  der  ErlÑsergemeinde. Die  zu  bildende  ErlÑsergemeinde
sollte  nicht  nur  Teile  Moabits,  sondern  auch  Teile  von  Charlottenburg,  die  sogenannte  Insel
zwischen Spree und Landwehrkanal umfassen…“
Es  folgen  die  Namen  der  Spender.  Und  weiter  heiàt  es:  „Die  vier  kleinen  Figuren  Éber  dem
Eingangsportal  sollen  Petrus,  Paulus,  Augustin  und  Luther  darstellen. Die  Baukassen  AktenbestÅnde  befinden  sich  in  unseren  HÅnden. PlÅne und  Polizeischeine  waren bei  der  HeilandsGemeinde verblieben und sind als Altpapier verkauft worden.“
Nachrichten Åber Moabit aus der ‚Moabiter Chronik’ von Wilhelm Oehlert
Will man den riesigen QualitÉtsunterschied zwischen dem alten lÉndlichen und nun stÉdtisch
erscheinenden Moabit wÉhrend der letzten Jahrzehnte vor der Einweihung der ErlÄserkirche
begreifen, muss man sich einige Akzente der Geschichte Moabits vor Augen fÅhren: Generell
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
28
Karte von Moabit 1861. Aus Oehlert, Moabiter Chronik, S. 112.
kann  bei  Fragen  nach  der  Geschichte  Moabits  auf  die  detailreiche  Chronik  von  Wilhelm
Oehlert verwiesen werden, die 1910 im Selbstverlag des Verfassers erschien.
35
Oehlert  berichtet  u. a.  von  den  Ausgrabungen  slawischer  åberreste,  der  ersten  Ansiedlung
durch  wendische Fischer,  der  Anlage des  Tiergartens  durch  den  Groàen KurfÅrsten,  der  diesen zum Schutze des Wildes 1656 eingattern  lieà,  der Besiedelung des heutigen Moabit, beginnend  1685, mit  einem  ‚Staakensetzerhaus’,  auàerhalb  des  Geheges  des  Tiergartens,  die
Ansiedlung  von  Hugenotten sowie  die  beginnende  Industrialisierung  des  Moabiter  Stadtgebietes. Auch  die  Grundsteinlegung  fÅr  die  ErlÄserkirche  wird  von  Oehlert  fÅr  das  Jahr  1909
vermerkt. Aus dieser Moabiter Chronik ist  offenbar nach einem Teilabdruck in  einer Berliner
Sonntagsbeilage immer wieder zitiert worden.
Sehr  ausfÅhrlich  berichtet  der  Verfasser  Åber die  Ansiedlung  der  franzÄsischen  GlaubensflÅchtlinge  durch  Friedrich  Wilhelm I.  und  diskutiert  die  Thesen  Åber  den  Ursprung  des  Namens  ‚Moabit’.  Nach  Durchsicht  der  zeitgenÄssischen  Literatur  mit  ihrer  Vielzahl  von  Deutungsversuchen  von  „terre  maudite“  – Fluchland  Åber  „terre  (pays)  des  Moabites“  unterstÅtzt  er  die  These  des  ersten  Direktors  des  Luisen-Gymnasiums  in  Moabit,  Dr.  Wilhelm
Schwartz. Dieser  vertrat  die  Ansicht,  dass  die  Benennung  eines  ‚Fluchlandes’  nicht  zu  der
Stimmung  der  franzÄsischen  FlÅchtlinge  passen  kÄnne.  Anzunehmen  sei  eher,  dass  die  bibelfesten  Hugenotten  sich  auf  die  ErzÉhlungen  des  Alten  Testamentes  bezogen  wie  Jesaja
16,4.  Eine  åberzeugung,  die  dann  auch  der  Verfasser  der  handschriftlichen  Chronik,  Pfarrer
Carl Schmidt, teilt.
35
Moabiter Chronik. Festgabe zur Feier der fÅnfzigjÉhrigen ZugehÄrigkeit.   des Stadtteils Moabit zu Berlin. Von
Wilh. Oehlert. Im Selbstverlag des Verfassers. Berlin NW 21, 1910. Zu beziehen durch Albert Loewenthal, Berlin.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
29
Carl Schmidt,
1912-1930 Pfarrer an der
ErlÄserkirche
Bis  zur  Eingemeindung  1861  bot  Moabit noch  ein  ausgesprochen  lÉndliches  Bild:  es  gab  auàer  der  Moabiter  Chaussee  weder  gepflasterte  StraàendÉmme  noch  Straàenbeleuchtung.
Man kannte dort weder BÅrgersteige, Wasserleitung oder Kanalisation. GrÄàere Mietskasernen fehlten.  Kleine HÉuschen mit GÉrten bestimmten den Charakter. Im  Norden erstreckten
sich Felder, an der Spree Wiesen. Ein riesiger Aufschwung setze erst mit der ReichsgrÅndung
1871  ein.  Oehlert nennt  fÅr  diese  AktivitÉten beispielsweise  Konferenzen  der  Bezirksvorsteher, freie AusschÅsse der BÅrgerschaft, Vertreter Moabits im Stadtparlament.
„Albert  Borsig,  der  Fabrikbesitzer  Lehmann,  der  Baumeister  Wieck, vor  allem  aber  der  Kaufmann  Wilhelm  Gericke,  ein  eingeborener  Moabiter  (geb.  29.1.1838),  dem  schlieÇlich  im
Volksmunde  der  Ehrentitel  des  „KÑnigs  von  Moabit“  zuteil  wurde,  verdienen  hier  besondere
ErwÅhnung.“
36
In  dem Band: Deutsche Kirchen – Die evangelischen Kirchen  in  Berlin, ist  zu diesen Aspekten
nachzulesen: „Es  ist  ein  historischer  Boden,  auf  dem  die  ErlÑser-Kirche  steht,  denn  hier  wurden  durch  Ausgrabungen  wendische  Ansiedlungen  festgestellt,  die  aus  der  Uebergangszeit
der  heidnisch-slavischen  zur  Christlich-deutschen  Herrschaft  stammten.  Hier  wurde auch  auf
dem jetzigen  GrundstÉck Alt Moabit 61- 66 durch den GroÇen KurfÉrsten dem Zaunsetzer und
WÅchter  ein  Haus  errichtet,  das  auf  dem  Stadtplan  aus  dem  Jahre  1675  verzeichnet  ist.  Es
war die erste dauernde Ansiedlung auf dem heutigen Moabiter Gebiet.“
37
Wie das kirchliche Leben an ‚ErlÄser’ begann
In  den  ersten  Jahren  wurde Pfarrer  Carl  Schmidt bei  den  kirchlichen  Amtshandlungen durch
den  jungen,  damals  noch  ganz  unbekannten  Licentiaten  Paul  Tillich  unterstÅtzt,  ein  Name,
der unter den Theologen BerÅhmtheit erlangt sollte.
38
Vor  welchen  Aufgaben  standen  die  neuen  Pfarrer  der
jÅngsten  Kirche  in  Moabit,  deren  Gemeindemitglieder
ebenso  wie  sie  mit  einer  unbekannten  Situation  fertig  werden  mussten?  Denn:  Nicht  nur  an  neue  Pfarrer,  eine  neue
Kirche,  sondern  auch  an  einen  neuen  Friedhof  musste  sich
die neue Gemeinde gewÄhnen. Dass das zunÉchst nicht ohne
Folgen  blieb,  ist  an  den  KirchenbÅchern  ablesbar:  Es  gab
Austritte,  und  ganz  besonders  betraf  das  Verharren  im  BewÉhrten bei  dem  Wunsch der  Begleitung  durch  den  vertrauten Pfarrer im Tode.
36
Oehlert, a. a. O., S. 123
37
Wilhelm LÅtkemann:  Deutsche Kirchen  Bd.1 – Die evangelischen Kirchen in Berlin. Berlin 1926,  S.43; 70.
38
Vgl. den Beitrag Wolfgang Massalsky.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
30
Titelblatt
Kirchlicher Bericht
ErlÄser-Gemeinde 1913
Da  von  den  Pfarrern  minutiÄse  Statistiken  verlangt  wurden
Åber  kirchliche  Amtshandlungen,  aber auch  von  Angaben,  die
bei  uns  heutigen  Lesern  Verwunderung auslÄsen  wie etwa  die
Frage  nach  vorheriger  Verehelichung,  die  im  ‚Normalfall’  mit
dem  Eintrag  ‚Jungfrau’  belohnt  wurde,  oder  der
Krankheitsursache  im  Todesfall,  lassen  sich  einige  Aussagen
treffen Åber  den Beginn  des Gemeindelebens an ‚ErlÄser’  oder
auch die soziale Zusammensetzung der Gemeinde.
Aus unseren KirchenbÅchern
In  den ersten zehn Jahren  von  1912 bis 1921 wurden getauft (nach  Auskunft der KirchenbÅcher und der von den Pfarrern ausgefÅllten Statistik).
Taufen
27 Kinder  taufte der  amtierende Pfarrer  Schmidt,  64  der  junge
Hilfspfarrer Tillich,  zwei Kinder  tauften  Pfarrer aus  anderen
Kirchen. In  der  Rubrik:  Bemerkungen  findet  man  dazu  Hinweise
Åber  die  Taufen  von  Kindern,  deren  Eltern  als  ‚Dissidenten’
bezeichnet  werden,  Eltern  also,  die  keiner  Religionsgemeinschaft
angehÄren,  Åber  die    Taufe  eines  Erwachsenen,  „dessen  beide
Eltern  mosaisch  sind“,  die  Taufe  eines  Israeliten  und  von  zwei
Juden.
Vor  welchen  Aufgaben  die  Pfarrer  in  dieser  Gemeinde  mit  ihren
oft  schwierigen  sozialen  VerhÉltnissen  standen,  verdeutlicht
bereits  die  erste  Amtshandlung: Das erste  Kind  wurde von  Pfarrer
Schmidt  in  einer  Nottaufe  am  14.08.1912  auf  den  Namen  Erwin  Kurt  Erich  getauft.  Sein
katholischer  Vater,  Friedrich  Knorr,  war  BÉcker,  der  Beruf  seiner  evangelischen  Mutter,
Marianne  Lienkowski,  wurde,  wie  damals  Åblich,  nicht  eingetragen.  Die  Eltern  waren  nicht
kirchlich  getraut.  Bei  der  Mutter verzichtete man grundsÉtzlich  auf  die  Angabe des  Berufes,
wohl  nach  der traditionellen  Vorstellung,  dass  eine  Frau  das  Haus  besorgte? Das  erste
MÉdchen, getauft am 18.08.1912, hieà Elfriede Wilhelmine, sein Vater war der Postschaffner
Karl Friedrich Wilhelm Brose. wohnhaft Alt-Moabit 55.
Der  Auswahl  des  ‚richtigen’  Namens  wurde  zu  allen  Zeiten  Bedeutung  beigemessen,  keine
Rolle  spielten  damals  die  Namensvorbilder  etwa  von  Filmhelden  oder  berÅhmten  PersÄnlichkeiten,  oder  von  Heiligen  wie  bis  heute  bei  den  Katholiken,  sondern  man  bevorzugte
noch  traditionell  Namen  der  Vorfahren,  der  Élteren  Generation.  Viele  Kinder  trugen  drei
Namen. Auch die Namen der Paten wurden eingetragen.
1912 93
1913 148
1914 230
1915 218
1916 136
1917 120
1918 117
1919 143
1920 199
1921 167
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
31
Die Angaben Åber die  Berufe  der  VÉter widerspiegeln gut die soziale  Zusammensetzung und
die ArbeitsmÄglichkeiten generell in  Moabit: Von  den 93 angegebenen Berufen sind angegeben: 15 Arbeiter, 10 Schlosser, dazu kommen  Werkmeister, Maschinenmacher, Mechaniker,
Installateure, Glaser, Tapezierer, Maler, BÉcker, Drucker, Tischlermeister, Heizer.
Aber  es  gibt  auch  mehrere  Oberlehrer,  Kaufleute und  fÅr  den  damaligen  Stand  des  Verkehrswesens  wichtig:  einen  Straàenbahnschaffner  und  sogar  einen  Oberpostschaffner. Und
auch  das  nahe  gelegene  Moabiter  GefÉngnis  brauchte  GefÉngnisaufseher.  So  lassen  allein
die  Namen der  Getauften und  die  Berufe  der  VÉter ein  Bild  Åber  das  Leben  und  die  ArbeitsmÄglichkeiten  in  Moabit  entstehen.  Weitere  Eintragungen  in  den  alten  sorgsam  gefÅhrten
KirchenbÅchern  geben  Erkenntnisse etwa  auf  problematische  WohnverhÉltnisse  und  mangelnde  Hygiene  in vielen  HÉusern,  die  sicherlich  auch eine  Ursache  fÅr  die  damalige  hohe
Kindersterblichkeit  waren. Als ein  Beispiel  seien  die  so  genannten  ‚NissenhÅtten’  im  Bereich
der Wullenweberstraàe genannt.
EheschlieÑungen und Trauungen von Evangelischen
Ohne  hier  in  Einzelheiten  gehen  zu  wollen,  scheint,  was  die  ‚messbare’
ReligiositÉt  anbelangt,  der  damalige  Einzugsbereich  von  ‚ErlÄser’  nicht  an
der  Spitze  zu  stehen  und  auch  nach  der  sozialen  Zusammensetzung  der
Gemeinde  gehÄrte  sie  nicht  zu  den  ‚Reichen’. So  erwiesen  sich  die
kirchlichen  Amtshandlungen  im  Vergleich  zu  den  11  anderen  Kirchen  der
DiÄzese  II  in  Berlin  (Dankeskirche,  Gnadenkirche,  St.  Golgathakirche,
Heilandskirche,  Heilige  Geistkirche,  St.  Johannis  (Baptist  Moabit)  Kirche,
St.  Johannis-Evangelistkirche,  Kapernaumkirche,  Nazarethkirche,
Osterkirche,  St.  Philippus-Apostelkirche,  Reformationskirche)  von  der
Anzahl her etwas geringer.
Die  Heilandskirche  beispielsweise  mit  1000  SitzplÉtzen  (ErlÄser  960)  verzeichnet  1914  an
Taufen  415, Konfirmanden 597, Trauungen 172,  Beerdigungen  273. Dennoch erscheinen die
Zahlen  im  Vergleich  zur Gegenwart nahezu gigantisch, und auch fÅr  die Gemeindemitglieder
von ErlÄser war es sicherlich ein  imposanter  Anblick, wenn der lange Zug der Konfirmanden,
angefÅhrt von den Pastoren in  ihrem  schÄnen  Talar in  die Kirche einzog. Die vergleichsweise
prÉchtige  Gestaltung  der  Konfirmationsscheine belegt,  dass  die  Symbole,  die  Ikonographie
dieser  Generation  noch  bekannt  waren und  zum  religiÄsen  Allgemeinwissen gehÄrten:  wie
der  Hinweis auf  den  Psalm:  „So  wie der  Hirsch nach  frischem  Wasser schreit“,  die  Gesetzestafeln von Moses, die Krone als Symbol fÅr Treue und das Ewige Leben.
1912 10
1913 80
1914 59
1915 87
1916 68
1917 59
1918 66
1919 92
1920 119
1921 83
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
32
Konfirmationsschein von KÖthe Luise Margarethe Klamm vom 19.09.1920 (siehe Kapitel 5).
Klagen  der  Pfarrer  Åber  den  RÅckgang  der  Konfirmationszahlen  und  den  mangelnden  Gottesdienstbesuche  der  Konfirmanden  und  Åber  die  Suche  nach  GrÅnden  lesen  wir  nicht  nur
1913,  sondern  auch  in  einem  kleinen  inhaltsreichen  Faltblatt  von  Pfarrer  Karl  Schulz  zum
50jÉhrigen JubilÉum. Einiges erscheint bis heute aktuell, wie aus dem Bericht zu erfahren ist:
„Mit groÇer Sorge sehen wir in diesen Zahlen einen Mangel an VitalitÅt in der jungen Generation,  die  entweder  in  der  Ehe  ganz auf  Kinder  verzichtet oder  sich  nur  auf  ein  Kind  beschrÅnken  will.  Die  jungen  Leute  machen  sich  nicht  klar,  dass  es  unter  diesen UmstÅnden  in  kommenden Jahren  keine  arbeitsfÅhigen  Menschen mehr geben  wird,  die  die  Renten  fÉr  ihre  alten Eltern werden erarbeiten kÑnnen. WÅhrend die Zahl der Hunde zunimmt, nimmt die  Zahl
der  Menschenkinder  ab.  Welche  Folgen  das  fÉr  die  kirchliche  Jugendarbeit,  fÉr  den  kirchlichen  Unterricht   haben  wird, kann man sich  leicht  ausmalen,  wenn man die  Zahlen  der  Konfirmanden einst und jetzt vergleicht.“
39
39
Karl Schulz: Kleines Faltblatt mit dem Titel: Aus der Geschichte der ErlÄserkirche Berlin – Moabit  1961.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
33
Die Konfirmierte KÖthe Luise Margarethe
Klam vom 19.09.1920. (Siehe Kapitel 5).
Heute  scheint  ein  Gegensatz  zu  klaffen  zwischen  dem
deutlichen  Interesse  vieler  Jugendlicher  an  den  kulturellen  Angeboten der Kirchen sowie der Akzeptanz ihre
Hilfsangebote  fÅr  BedÅrftige  und  der  Verpflichtung,
sich als aktives Gemeindemitglied auch mit finanziellen
Pflichten zu bekennen.
Konfirmationen
1912 Keine
1913 172
1914 166
1915 181
1916 179
1917 202
1918 180
1919 196
1920 204
1921 250
Beerdigungen
Gerade im  Todesfall  klammert  man sich  gern  an  das
Vertraute,  und so fiel  es der neuen  ErlÄsergemeinde
deutlich  schwer,  sich  von  dem  bisherigen  Friedhof
an der Heilands-Kirche  zu lÄsen  und an den neuen   in  Stahnsdorf zu gewÄhnen. War es doch
nun  erforderlich,  die  Entschlafenen  zum  Bahnhof  Halensee  zu  bringen;  von  wo  sie  dann  in
besonderen  Eisenbahnwagen    nach  Stahnsdorf  transportiert  wurden.  „Zur  Trauerfeier  wird
die Leiche dann feierlich auf einem schwarz drapierten Leichenwagen vor dem hochliegenden
Altarraum  der  Kirche  aufgebahrt  und  nach  der  Feier  durch  6  LeichentrÅger,  die  eine  der
Bergmannskleidung nachgebildete Uniform tragen, zum Ruheplatz geleitet.“
40
Wie  die  Tradition  des  gewohnten  Bestattungsortes  nachwirkte,  zeigt sich  darin, dass  der
Groàteil  der  Bestattungen  zunÉchst  noch  auf  dem  Heilands- oder  Johannisfriedhof  erfolgte.
WÉhrend  sich  die  Gemeinde  dann  allmÉhlich  umgewÄhnte,  erscheint  ein  anderer  Fakt  erschreckender:  die  hohe  Zahl  der  Kindersterblichkeit.  Allein  im  ersten  Zeitraum  vom
01.08.1812  bis  zum  30.11.1912, handelte  es  sich  bei  den  30  Verstorbenen  um  16  Kinder.
Viele Åberlebten das erste Jahr nicht.
åber die Todesursache geben wiederum die KirchenbÅcher Auskunft, LungenentzÅndungen,
Tuberkulose, LebensschwÉche’ Åberwiegen in  den Angaben. Auch bei den Erwachsenen fÅhren  diese  Krankheiten  neben  dem  Schlaganfall  die  Tabelle  an.  WÅrde  man  Todesursache,
erreichtes  Lebensalter,  Beruf  und  Wohnadressen  zusammenstellen,  lieàen  sich  unschwer
Ursachen  beispielsweise  fÅr  die  vergleichsweise  hohe  Kindersterblichkeit  ermitteln.  Wenn
40
Kirchlicher Bericht fÅr 1913, S. 12.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
34
Ordnung des Festgottesdienstes zur „Weihe
unserer Ehrentafeln“ vom 09.10.1921.
Jahre  spÉter  Tillich  ein  Konzept  des  ‚religiÄsen  Sozialismus’  entwickelte,  so  mochten die  frÅhen Beobachtungen Åber den Alltag in Moabit mit prÉgend gewirkt haben.
Beerdigungen
Vergleicht  man  die  Anzahl  der  ‚mit  kirchlichen  Akten’
Bestatteten,  wie  der  Terminus  in  der  offiziellen  Statistik
heiàt,  mit  der  Anzahl  der  Verstorbenen,  so  ist  zu  ersehen,
dass  etwa  90  % die  Dienste der  Kirche  in  Anspruch nahmen.
Der  HÄhepunkt  an  Beerdigungen fÉllt  natÅrlich  in  die  Zeit
1917/18 und  die  Jahre  danach.  Als  sehr  beeindruckend  in
diesen  ersten  Jahren  erscheint  das  sehr  frÅhe  Engagement
der ErlÄsergemeinde fÅr  sozial Benachteiligte, das uns heute
unter dem Begriff ‚Laib und Seele’ vertraut ist.
Der 1. Weltkrieg
Die  ersten  Jahre,  die  fÅr  die  Gemeinde  so  hoffnungsvoll  begannen,  werden  Åberschattet
durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges.
Als  grÄàter  Verlust  fÅr  die  Gemeinde  sind  natÅrlich  vor  allem  die  vielen  Menschenleben zu
werten, wie sie an von Professor Oetken angefertigten hÄlzernen KriegergedÉchtnistafeln fÅr
die  Kirchenbesucher  sichtbar  wurden,  die  im  Oktober  1921  als  ‚Ehrendenkmal  fÅr  die  Gefallenen der ErlÄsergemeinde’ eingeweiht wurden.
Oetken versah die vier Tafeln mit geographischen Hinweisen, wo
die  ehemaligen  Gemeindemitglieder  gefallen  waren,  so  dass
noch  einmal  die  ungeheure  Ausbreitung  des  ‚Weltkrieges’  vor
Augen gefÅhrt wurde:
Tafel I: Elsaà-Lothringen, Belgien Frankreich
Tafel II: Frankreich, Ostpreuàen, Russland
Tafel III: Russland, Galizien
Tafel  IV  (an  der  Kanzel): Galizien,  Serbien,  SiebenbÅrgen,
Kleinasien, RumÉnien, Mazedonien, Ukraine, Heimat.
Der  Bund  religiÄser  Sozialisten  protestierte
gegen eine Feier fÅr die Ehrung der Gefallenen.
Im  Archiv  der  ErlÄserkirche  fanden  sich  noch  einige  indirekte  Hinweise  auch  auf  materielle
Probleme, mit denen die Geistlichen zu kÉmpfen hatten:
1912 62
1913 112
1914 114
1915 117
1916 123
1917 140
1918 147
1919 128
1920 118
1921 99
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
35
Zum Andenken an Pfarrer Manger
(gestorben 13.07.1932).
Pfarrer der ErlÄsergemeinde von 1913-1931.
Am 01. September 1915 beispielsweise erwidert  der GeschÉftsfÅhrende Ausschuss der Berliner Stadtsynode auf die Anfrage eines Gemeindekirchrates Åber die AusfÅhrung des Verordnung  des  Ober-Kommandos  in  den  Marken vom  31.  Juli  1915  Åber  die‚ Beschlagnahme  von
GegenstÉnden aus  Kupfer,  Messing und  Reinnickel’  an die  Kirchen,  dass  sie  sich  nicht  in  der
Lage  sieht,  die  entsprechenden  Maànahmen  durchzufÅhren.  Der  jeweilige  Gemeindekirchenrat mÄge selbst die Verordnungen in  der Presse verfolgen und die notwendigen Anordnungen treffen.
41
Am 30. September  erreicht  den  Gemeinde-Kirchenrat  dann  ein  Schreiben  mit dem  Vermerk
‚Geheim’  aus  dem  ‚MetallbÅro’  im  Stadthaus  vom  Magistratskommissar  fÅr  MilitÉrangelegenheiten mit der Aufforderung, dem Erlass des Herrn Ministers des Innern vom 10. September  1915,  betr.  ‚Bestandsmeldung  und  freiwillige  Ablieferung  von  Dachkupfer  u. s. w  die
Aufforderung zu folgen:  „die auf dem GrundstÉck verwendeten Kupfermengen, einschlieÇlich
der kupfernen Dachrinnen,  Abfallrohre, Fenster- und Gesimmsabdeckungen, dem Reiche zum
Zwecke der Landesverteidigung freiwillig zur VerfÉgung zu stellen“.
42
FÅr  den  Fall,  dass  der  Kirchgemeinderat  dieser  ‚Patriotischen  Pflicht’  nicht  nachgekommen
will,  wird  eine  zwangsweise  Ablieferung  angedroht.  Der  handschriftliche  Entwurf  des  Antwortschreibens  ist  erhalten:  in  ihm  wird  schlau  vorgerechnet,  dass  die  Kosten  der  EinrÅstung,  um  das  Kupfer  zu  entfernen,  hÄher  sind  als  der  Gewinn  fÅr  den  Anfordernden.  Diese
Situation wird sich noch einmal im Juli 1940 wiederholen.
43
Am  14.  Oktober  1916  empfiehlt  die  Berliner  Stadtsynode  brieflich,  „das  Brennen  der  Altarwachskerzen  ganz  oder  doch  nach  MÑglichkeit einzuschrÅnken“.  Vorgeschlagen  werden  als
Ersatz  elektrische  Lampen  am  Altar,  die  die  Gemeinde-KÄrperschaften  zusammen  mit  KostenvoranschlÉgen  beantragen  sollen. Nach  dem  handschriftlichen  Entwurf  auf  der  RÅckseite
des Briefes wurde dieser Bitte nachgekommen.
41
Brief   des GeschÉftsfÅhrenden Ausschusses   der Berliner Stadtsynode   an den ErlÄser-Kirchgemeinderat vom
1. Sept. 1915 In: Archiv der ErlÄsergemeinde, Akte 1101
42
Brief  aus  dem  ‚MetallbÅro’,  Stadthaus,  Der  Magistratskommissar  fÅr  MilitÉrangelegenheiten  an  den
Gemeinde-Kirchenrat der ErlÄser-Gemeinde vom 30 Sept. 1915. In: Archiv der ErlÄsergemeinde, Akte 1101.
43
Vgl. Brief vom 9.Juli 1940 von Pfarrer Streckenbach an den BezirksbÅrgermeister  im Teil ‚Dokumente’.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Kindergartengruppe 1924.
Die Festkleidung ist noch bestimmt von dem Geschmack der Kaiserzeit.
Erste Bauprobleme 1926
Die  Kriegsverluste  bleiben  nicht  die  einzige  Belastung  in  den  Anfangsjahren.  Auch  am    Kirchenneubau  zeigten  sich  Probleme.  Eigentlich  musste  es  erstaunen,  dass  sich  die  Bauleute
an diesen komplizierten Grund gewagt hatten.
Zu Punkt vermerkt die handschriftliche Chronik der ErlÄsergemeinde:
„WÅhrend die  Umfassungsmauern  der  Kirche  fest  und  sicher  auf  den  eingetriebenen  BaumstÅmmen  ruhten,  wurde  der  FuÇboden  ohne  UnterstÉtzung  auf  den wiesigen  Boden  aufgelegt.  Die Lasten  drÉckten,  bildeten  Risse,  der  FuÇboden  verwarf  sich  und  sank  ein.  Am stÅrksten  trat  dies  im  Altarraum  mit  dem  schweren  Altarblock  in  Erscheinung.  15  cm  war  er  gesunken  und  bildete  so  gefÅhrliche  Risse,  dass  eine  AbÅnderung  unbedingt  nÑtig  war.  Der  Altar  wurde abgebaut,  ein  UnterstÉtzungstrÅger von  der  Langseite  zur  Taufsteinseite,  darÉber
drei  KappentrÅger  zur  Hinterwand gezogen,  die  Kappen  gewÑlbt,  der  Altar auf  dieser  Unterlage fest aufgebaut, Altarraum mit seinen Stufen wieder mit Travertin belegt.“
44
1926 musste aus dem gleichen Grund, so die Chronik, der Kirchenfuàoden erneuert werden,
wobei Pastor Schmidt bereits im April 1922 eindringlich auf die Gefahren durch den versackten Kirchenboden den geschÉftsfÅhrenden Ausschuss der Stadtsynode aufmerksam gemacht
hatte.  Der  detaillierte  Kostenvoranschlag  der  Firma  HUTA,  Hoch- und  Tiefbau  Aktiengesellschaft belegt  das  Ausmaà der SchÉden  und  den  Aufwand: 47  KirchenbÉnke  aus  dem  Betonfuàboden lÄsen; Linoleum im Mittelgang lÄsen, Unterbeton mit darÅber liegendem Terrazzo-44
Nach  dem  Schriftbild  von  Pfarrer  Schmidt  rÅckwirkend geschrieben,  denn  nach  einem  kurzem  historischen
Abriss notiert er die wichtigsten Ereignisse von 1914-1929 auf nur 1,5 Seiten. 1930  starb Schmidt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Kindergartengruppe 1932.
Braune lange „Kratz“-StrÅmpfe, feste Schuhe und SchÅrzchen gehÄrten zur
Kinderkleidung.
Fuàboden  herausbrechen,  320  qm  Eisenbetonfuàboden  in  der  Kirche  bemessen  fÅr  eine
Nutzlast  von  500  kg  pro  qm,  BohrpfÉhle  fÅr  eine  GesamtlÉnge von  225m  bemessen,  die  Altarstufen  entfernen  u. s. w.  Nach  der  Baugenehmigung  durch  die  StÉdtische  Baupolizei  im
Juli  1926  konnte  der  Einbau  der  Eisenbetondecke  zur  Befestigung  des  Fuàbodens  beginnen.
Die gesamte Erneuerung des Fuàbodens wird dann 17.50,34 Reichsmark kosten.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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NS-Zeit – VerdrÖngte Zeit?
„100 Jahre alt bin ich ja noch nicht…“
(Erinnerungen von KÖthe Piotrowski, Jahrgang 1932)
Interview von Edda Straakholder mit KÉthe Piotrowski
…aber  trotzdem  hat  KÉthe  Piotrowski,  1932  als  KÉthe  Nehring  in  Moabit  geboren,  viel  aus
der Vergangenheit der ErlÄsergemeinde zu erzÉhlen:
Von ihrer Kindheit in der Kita der ErlÄsergemeinde mit Tante Gerda und Tante Bertchen, den
vielen Spielstunden im Freien auf dem sonnigen Kitahof, und den Kindergartenfahrten an die
Ostsee  nach  Zinnowitz.  Von  ihrer  Schulzeit  in  der  Gotzkowskyschule,  MÉdchen  und  Jungen
getrennt in verschiedenen Trakten. Als Jugendliche nach dem Krieg begleitete sie den Pfarrer
mit  einem  groàen  Akkordeon  zur  Adventsandacht,  die  er  auf  der  Wullenweberwiese  den
Bewohnern der sogenannten „NissenhÅtten“ hielt.
1947  wurde  sie  von  Pfarrer  Streckenbach  konfirmiert,  allerdings  nicht  in  der  ErlÄserkirche,
die damals ja zerstÄrt war, sondern im Gemeindesaal am Wikingerufer im ersten Stock.
Sehr  genau  ist  ihre  Erinnerung  an  die  damaligen  RÉumlichkeiten:  der  groàe  Saal  im  ersten
Stock  (heute  Kitaraum  II  und  Chorsaal)  wurde  nach  dem  Krieg  bis  zum  Wiederaufbau  der
Kirche  als  Gottesdienstraum  genutzt.  Mit  einer  KlapptÅr  konnte  er  geteilt  werden,  aber
meistens  war  er  so  ÅberfÅllt,  dass  die  Menschen  noch  stehen  mussten,  besonders  bei  den
Konfirmationen und Weihnachtsgottesdiensten.
Auch an  die Adventsfeiern mit Kaffeetrinken im  Saal  erinnert sich Frau Piotrowski:  „Der Saal
war  immer  rappelvoll“.  Kantor  Kurth  begleitete  die  Gemeinde  mit  einem  groàen  Pedalharmonium,  und  da  er  ja  dabei  mit  den  FÅàen  beschÉftigt  war,  musste  der  KÅster  immer  den
Blasebalg treten.
Bei  Wiederaufbau  traf  der  Gemeindekirchenrat  dann  eine  weise  und  zukunftsfÉhige  Entscheidung:  der  Raum  unter  der  Empore  der  Kirche  wurde  abgetrennt  und  als  neuer,  etwas
grÄàerer   Gemeindesaal eingerichtet, wÉhrend aus dem alten Gemeindesaal im  ersten Stock
zwei schÄne helle unabhÉngige GemeinderÉume wurden.
Genau ist auch die Erinnerung von Frau Piotrowski an die Pfarrer der Kriegs- und Nachkriegszeit:  an  einen  Pfarrer,  fÅr  den  alles  seine  militÉrische Ordnung  haben  musste und  der  noch
fÅr  „Kaiser  und  Reich“  war,  oder  an einen  Pfarrer,  der  den  Talar  Åber  seine  SA-Uniform  anzog!  Und  wieder  ein  anderer Pfarrer,  der  seine  Konfirmanden  so  wenig  bÉndigen  konnte,
dass die Polizei kommen musste!
KÉthe  Piotrowski  lernte  bei  Kantor  Johannes  Kurth  das  Orgelspiel,  keine  leichte  Sache  nach
dem  Krieg,  wo  nahezu  alle  Orgeln  zerstÄrt  waren,  auch  die  Orgel  in  der  ErlÄserkirche.  Anfangs  fuhren  sie, solange die DDR es erlaubte, nach Stahnsdorf zum Unterricht, wo die Orgel
in der Friedhofskapelle noch spielbar war (Der Friedhof der ErlÄsergemeinde war ein Teil des
groàen  Stahnsdorfer  Friedhofs).  Danach  mussten  sie  zum  Unterricht  in  die  Dorfkirche  Wei-
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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àensee  fahren!  Alles  in  allem  keine  so  gÅnstigen  Bedingungen  fÅr  eine  kirchenmusikalische
Ausbildung.
Trotzdem  erhielt  KÉthe  Piotrowski  1952  die  Kirchenmusikstelle  in  der  benachbarten  Reformationsgemeinde und legte ihr C-Examen und spÉter sogar ihr A-Examen ab. 1974 wechselte
sie nach St. Johannis, wo sie bis zu ihrem Ruhe-stand vor fast 18 Jahren blieb.
Folgerichtig  erweiterte  sich  ihr Blick  von  der  ErlÄsergemeinde    auf  die  ganze  Region  Moabit
bzw. den Kirchenkreis Tiergarten-Friedrichswerder, wie er spÉter hieà.
Keiner  ist  soviel  in  dieser  Region  herumgekommen  wie Frau  Piotrowski,  hat  mit verschiedenen  kleinen  und  groàen  ChÄren  in  allen  Kirchen  der  Region  gesungen  und  auf  allen  Orgeln
gespielt, die ab den spÉten fÅnfziger  Jahren  auch  hier in  Moabit in  fast  allen Kirchen  neu gebaut wurden. Vielleicht schreibt sie ja mal fÅr uns eine „Moabiter Kirchenmusikgeschichte“?
„Beschwerden Åber Geistliche und Kirchenbeamte der ErlÄserkirche von
1934“
(7.9.1932-9.3.1934)
Von Wolfgang Massalsky
Die Kirche in ihrem sozialen Umfeld im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts
Zum  besseren  VerstÉndnis  der  sozialen  VerhÉltnisse  jener  Zeit  im  Raum  Moabit,  also  nicht
nur  bezogen  auf  die  ErlÄserkirchengemeinde  in  ihren  damaligen  Grenzen,  schicke  ich  folgende  Bemerkungen  voran: Eine  Gesamtdarstellung  der  Lage  der  evangelischen  Kirche  in
Moabit ist mir bei innerkirchlichen Recherchen leider nicht bekannt geworden.
Moabit galt vor dem 1. Weltkrieg politisch als rot.  Die Mehrzahl der Menschen waren Arbeiter  und  kleine  Angestellte,  darunter  auch  viele  GeschÉftsleute;  natÅrlich  gab  es  auch  Beamte,  ârzte,  Optiker,  Lehrer,  Justizangestellte  u.  É.  Im  Gemeindekirchenrat  der  ErlÄserkirchengemeinde waren anscheinend keine Arbeiter vertreten, dafÅr war die hÄhere  und mittlere Beamtenschaft gegenÅber der WohnbevÄlkerung ÅberreprÉsentiert.
Viele  Arbeiter-Gruppen  Moabits,  die  fÅr  ihre  Interessen  auf  die  Straàen gingen,  kamen  aus
der  SPD  oder  verstanden  sich  als  ihre  VerbÅndete.  Manche  Komitees  waren  selbst  organisiert  oder  standen  linken  Gruppierungen  nahe,  die  sich  von  der  SPD  absetzten,  gewiss  war
auch die KPD bis zu ihrem Verbot durch einzelne Kampfzellen dort aktiv, aber ohne besonderen  Einfluss  auf die  Mehrheit der  BevÄlkerung.  Erkenntnisse  Åber  das  Moabiter Wahlverhalten bei den verschiedenen Wahlen z. B. zum Reichstag liegen mir allerdings nicht vor.
Neben  klassenbewusstem  Arbeiter-„Adel“  gab  es  viel  KleinbÅrgertum  und  viele  orientierungslose,  insbesondere  nach  dem  1.  Weltkrieg in  krasse  Armut  fallende  BevÄlkerungsteile,
die  trotzdem  keine  „linken“  Positionen  vertraten,  sondern  eher  konservativ  eingestellt
waren, vielleicht auch  in  Hitler ihre  einzige Hoffnung auf Verbesserung ihrer  Lebenssituation
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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sahen. Vor allem in der Zeit der schweren Wirtschaftskrise suchten sie Åberall nach Hilfe, um
ihr  åberleben zu sichern. Daher wandten sich viele Menschen wieder an die Kirche und  ihre
diakonischen Einrichtungen um Hilfe.
Eine „Soziologie“ der Levetzowstraàe,  in  der auch jÅdische  Familien lebten  (die  wohl alle bei
den  hier  zusammengestellten  Trupps  waren,  die  in  die  Vernichtungslager  deportiert  wurden),  unweit  einer  Kohlenhandlung  und  der  erst  nach dem  2.  Weltkrieg  abgerissenen  jÅdischen  Synagoge,  sowie  der  Huttenstraàe mit  ihren  Fabriken  und  den  oft  elenden  ArbeiterWohnquartieren,  steht  bisher  aus. Zur  Erinnerung  an  diese  TragÄdie  steht  heute  auf  dem
Baugrund  der  Synagoge  Ecke  Jagowstraàe  ein  Eisenbahnwaggon  mit  zusammengepressten
Menschenpaketen aus  Stein.  Wie es  heiàt,  war  es  nicht  einfach,  dieses  Denkmal  der  BevÄlkerung schmackhaft zu machen, weil der dort vorhandene Spielplatz gegen den Willen vieler
Jugendlicher  und  ihrer  Eltern  verkleinert  werden  musste. Einige  unserer  Zeitzeugen  haben
mir  noch  vor  10  Jahren  darÅber  berichtet,  was  fÅr  Menschen  dort  lebten  und  wie  sie  mit
ihnen auskamen.
Anscheinend  gab  es  in  unserem  Gemeindebereich  (auch  ohne  den  Charlottenburger  Teil)
eine  stark  konservative  Grundstimmung  ohne  festes  politisches  Profil,  daher  wohl  auch  fÅr
die  NS-Ideologie  anfÉllig,  auch  religiÄs  wenig ausgeprÉgt  (im  Gegensatz etwa  zur  Reformationsgemeinde  wÉhrend der  Amtszeit von  Pfarrer GÅnther Dehn). Viele  standen  in  den  zwanziger  Jahren  in  einer  eher  traditionellen  Beziehung  zur  Kirche  als  einer  wichtigen  gesellschaftlichen  Institution,  die  vor  allem  durch  ihre  Taufen  und  Konfirmationen  in  die  breite
Masse hineinwirkte.
Die Erwachsenenarbeit in  der ErlÄserkirchengemeinde bestand  regulÉr  in einem Frauenkreis
und  in  einer  Gruppe  von  Ehrenamtlichen,  zu  denen  auch  die  GKR-Mitglieder  gehÄrten.  Besondere  Veranstaltungen  erweiterten  das  Publikum.  Die  Kirchengemeinde  hatte  im  Prinzip
kein  anderes  „Klientel“  als  andere  gesellschaftliche  Organisationen  auch.  Darum  war  das
Einsickern  nationalsozialistischer  Ideologie  in  die  Gemeindekreise  nicht  von  vornherein  zu
verhindern.
Zwar  gab  es  noch  ein  relativ  starkes  Volkskirchentum, das  auch  von  der  Arbeiterschaft – jedenfalls von den Arbeiter-Frauen – bei aller Kirchenferne groàenteils durchaus bejaht wurde.
Aber  da  die  Mehrzahl  der  Kirchengemeinden  in  Moabit  offensichtlich  mehr  in  den  Kategorien  von  ZugehÄrigkeit  und  Amtshandlungen  als  in  den  Kategorien  einer  (lebenslangen)
Glaubenserziehung dachte und die Gemeinden darÅber hinaus wegen der Trennung von Kirche  und  Staat  fÅr  politisches  Handeln  kein  Mandat  besaàen,  war  ihre  Stellung  zu  den  sich
abzeichnenden „revolutionÉren“ VerÉnderungen alles andere als einfach. An offenen  Widerstand  war nicht  zu  denken,  wenn schon  vorsichtige  Kritik  an  den  im  Rahmen  der  „Machtergreifung“  der  NSDAP  1933  in  der  Kirche  selbst  einsetzenden  VerÉnderungen  nur  ârger
brachte.
Zwei  Frauen,  die  ich  zum  90jÉhrigen  JubilÉum  besuchte,  hatten  jÅdische  Freundinnen  und
Bekannte,  die  irgendwann  aus  ihrem  Gesichtskreis  verschwanden.  Man munkelte manches,
aber  etwas  Genaues  Åber  ihren  Verbleib wusste man nicht.  Ratlosigkeit  und  Angst  darÅber,
was  aus  diesen  Menschen  wurde,  waren  die  Folge,  aber  kein  Widerstand.  Die  gemeindeinternen  Auseinandersetzungen,  in  die  Pfarrer  Walter  Streckenbach  (Gemeindepfarrer  in
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
41
„ErlÄser“  von  1931-1952)  Åber  einen  lÉngeren  Zeitraum  verwickelt  war,  veranschaulichen
streiflichtartig die schwierige Situation der Kirche in diesem gesellschaftlichen Umfeld.
a) Der Streit zwischen Streckenbach und Pohlmann
Die  Auseinandersetzungen  des  GKR  und  speziell  von  Pfarrer Streckenbach  mit  Heinrich
Pohlmann  ziehen  sich  eine  ganze  Weile  hin.  Sie  beginnen  schon  vor  der  MachtÅbernahme
Hitlers. Ihren Gipfel fanden sie 1934 in der konsistorialen Behandlung der Beschuldigung von
Herrn  Pohlmann,  der  damals  Gemeindejugendhelfer  war  und  auch  andere  Dienste  in  der
Gemeinde  verrichtete  und  der  behauptete,  Streckenbach  habe  von  dem  inzwischen  eingesetzten  Reichsbischof  Ludwig  MÅller als  von    „diesem  Fatzke“  gesprochen. Gegen  diesen
Vorwurf,  der zur Vorladung in  das Konsistorium und zu einer Befragung von Herrn Streckenbach  durch  Oberkonsistorialrat  Gruhl  fÅhrte,  wehrte  sich  jener  mit einer  Gegendarstellung,
in der er vor allem die VertrauenswÅrdigkeit seines Gegners zu erschÅttern suchte.
Pohlmann  wird  darin  als  jemand  geschildert,  der  Mitglied der  Deutschen Christen  war, aber
inzwischen  aus  der  „Bewegung“  ausgetreten  sei  (andererseits  in  fÅhrender  Stellung  in  der
„HJ“  =  Hitlerjugend  und  „Pg“  =  Parteigenosse  war)  und,  weil  er  aufgrund  bestimmter  Vorkommnisse, die hier nicht anzufÅhren sind, seinen Arbeitsplatz in  der Gemeinde zu verlieren
fÅrchtete,  „die Mitglieder der Deutschen Christen im  Gemeindekirchenrat fÅr  sich zu gewinnen“  versuchte.  Pohlmanns  Denunziation  sollte  demzufolge  seine  Stellung  in  der  Gemeinde
festigen  helfen,  hatte  aber  durch  die  entschlossene  Gegenwehr  Streckenbachs  nicht  den
gewÅnschten  Erfolg.  Andererseits  hatte  die  von  Streckenbach  betriebene  Entlassung  Pohlmanns  aus  dem  ArbeitsverhÉltnis  in  der  Gemeinde  (bis  zu  diesem  Zeitpunkt)  ebenfalls  keinen Erfolg.
Eine  âuàerung  Streckenbachs  deutet  auf  ein  gespanntes  VerhÉltnis  zu  Pfarrer Kornrumpf
hin,  seinem  damaligen  Amtsbruder  in  der  Gemeinde,  den  er  offenbar  im  Verdacht  hatte,
Åber das Vorgehen Pohlmanns im  voraus informiert  gewesen zu sein. Streckenbach erwÉhnt
in  seinem Brief  an  das  Konsistorium,  dass Pohlmann  gegenÅber  einer  Konfirmanden-Mutter
in  der  NS-Volkswohlfahrt  in  der  Elberfelder  Straàe  geÉuàert  hÉtte,  dass  „Pfarrer Streckenbach  ...  demnÉchst  (fliegt)  und  dass  sie  bereits  „Ersatz  fÅr  ihn“  hÉtten.  DafÅr  zur  Rede  gestellt,  habe  Pohlmann  Streckenbach  geantwortet,  dass  diese  ihm  zugeschrieben  âuàerung
nur von einem „katholischen Mitarbeiter“ der dortigen GeschÉftsstelle stammen kÄnne (und
also falsch sei?).
Streckenbach  vermutet  in  seinem  Schreiben,  dass es  nationalsozialistische  Kreise  in  der  Gemeinde  gebe,  die  seine  Entlassung  oder  Abberufung  betrieben. So  weist  er  auf  bereits  im
Herbst 1933 durchgefÅhrte Werbeaktionen fÅr die Gruppe der Deutschen Christen hin. Auch
damals  sei  bereits  von  seinem  baldigen  „Verschwinden“  die  Rede  gewesen.  Dazu  kÉmen
entsprechende  Eingaben  eines  ehemaligen  Justizinspektors  Lange.  Dieser  mÅsse  ihn  inzwischen hassen, weil er sich nicht den Deutschen Christen angeschlossen habe.
Zur  Sache  gibt  allerdings  Streckenbach  zu,  das  er  mit  bestimmten  „Maànahmen  des  Herrn
Reichsbischofs nicht einverstanden war“ und deswegen auch mit Herrn Pohlmann Åber seine
diesbezÅglichen Sorgen gesprochen habe, wenn auch mehr am Rande, da die verschlechterten Beziehungen zu Pohlmann mehr auch gar nicht aus seiner Sicht zulieàen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
42
TatsÉchlich  kam  Pfarrer Streckenbach  mit  einem  Verweis  von  Seiten  des  Konsistoriums  davon,  da  es  keine  Zeugen  gegeben  habe  und  die  VorwÅrfe  somit  nicht  erwiesen  seien.  Er
wurde aber ermahnt, sich kÅnftig in diesen Dingen ZurÅckhaltung aufzuerlegen. Eine „disziplinÉre Bestrafung“ kÄnne es jedoch nicht geben.
Aufs  Ganze  gesehen  kann  man  aber  die  Position  gegenÅber  den  nationalsozialistischen
Deutschen  Christen  einerseits  und  der  Bekennenden  Kirche  bzw.  dem  Pfarrer-Notbund  andererseits,  die  von  Herrn  Pfarrer  Streckenbach  eingenommen  wurde,  durchaus  als  widersprÅchlich bezeichnen:
1.  scheint  es  beispielsweise  zwischen  Herrn  Pohlmann  und  Herrn  Streckenbach  keinen  Gegensatz in Sachen Jugendarbeit gegeben zu haben, „da auch Herr Pfarrer Streckenbach ... die
Eingliederung  der  evangelischen  Jugend  in  die  HJ  nicht  nur  nicht  bekÉmpft,  sondern  im  Gegenteil  schon  seit  dem  vorigen  Jahr  angestrebt  und  bereits  im  August  1933  durchgefÅhrt
hat“, wie OKR Gruhl feststellte.
2. beschreibt sich Pfarrer Streckenbach selbst als „deutschen Mann“, dessen Gesinnung und
Lauterkeit  im  Sinne  nationaler  Ehrbegriffe  untadelig  sei,  und  seine  Verbindung  zum  MilitÉr
als  Divisionspfarrer  a.  D.  und  Friedens-Reserveoffizier  soll  ihn  offenbar  vor  dem  Vorwurf
falscher Gesinnung, den Pohlmann gegen ihn erhebt, schÅtzen.
3.  Andererseits  kann  ihn  diese  Einstellung  anscheinend  auch  zu  Åbertriebenen  Reaktionen
veranlassen.  Herr Rottke  (siehe  unter  c)  1.)  erhebt  im  Nov. 32  VorwÅrfe gegen  Pfarrer Streckenbach,  VorwÅrfe  des  Inhalts,  dieser  habe  nicht  nur  bedauerlicherweise  bestimmte  Verhaltensweisen Pohlmanns, gegen die sich Rottke verwahrte, gebilligt, er habe darÅber hinaus
ihm,  Rottke,  sogar  noch  ein  „paar  Ohrfeigen“  angedroht.  Man  wird  Pfarrer Streckenbach
nach  heutigen  Kriterien  nicht  eben  als  verstÉndnisvoll  gegenÅber  solcher  dem  Betreffenden
aus seiner Sicht offenbar nicht zustehenden Kritik beurteilen kÄnnen, sondern eher als autoritÉr einzuschÉtzen haben.
4.  wird  in  der  kirchengeschichtlichen  Literatur  verschiedentlich  darauf  hingewiesen,  dass
Streckenbach eine Gruppe Berliner Pfarrer reprÉsentiere, die einen vermittelnden („dritten“)
Weg zwischen DC (Deutsche  Christen) und BK  (Bekennende  Kirche) zu gehen versucht habe,
und deswegen sogar von Vertretern der BK als VerrÉter attackiert wurde. Diese Entwicklung
muss allerdings erst 1936 und 1937 stattgefunden haben.
b) Verlesung einer ErklÖrung von Streckenbach nach dem Gottesdienst
Als  Pfarrer Streckenbach  Äffentlich  gegen  den  Herrn  Reichsbischof  Anfang  Januar  1934  polemisierte  und  ihm  das  Vertrauen  entzog,  wurde  er  allerdings  mit  Schreiben  des  Konsistoriums  vom 25.01.1934  disziplinarisch  gemaàregelt. Konkrete  Konsequenzen  sind  jedoch  unbekannt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Walter Streckenbach.
Pfarrer in der ErlÄsergemeinde
von 1931-1952.
Zuvor  war  dem  Herrn  Reichsbischof  von  der  „Glaubensbewegung  („Glauben“  durchgestrichen) Deutsche  Christen“  Åber  diesen  Vorgang  Bericht  erstattet  worden.  Diesen  Akten  liegt
ein  handschriftlicher  Brief  des  Vertreters  des  „Gemeindegruppenleiters“  der  ErlÄsergemeinde an den Gauobmann Pfarrer Tausch in Tempelhof
bei,  wonach  Streckenbach  den  damals  Åberall
„bekannten  Aufruf  des  Pfarrer-Notbundes  im
Gotteshause“  verlesen  habe.  Dieser  Brief  endet  mit  der
Aufforderung  an  das  Konsistorium,  nunmehr  endlich  zu
handeln:
„Da  wir  Deutsche  Christen  nach  diesem  Vorfall  dem
Pfarrer. Streckenbach unser Vertrauen nicht mehr schenken kÑnnen, bitte ich  das ev. Konsistorium, Herrn Pfarrer
Streckenbach zur Rechenschaft zu ziehen.“
In  einer  Nachschrift  dazu  heiàt  es,  gegen  die  „fortdauernden  Entgleisungen“  des  Herrn  Streckenbach
mÅsse  das  Konsistorium  nun  endgÅltig  einschreiten.
Derartige  „Diffamierungen  der  Deutschen  Christen“
seien  nicht  lÉnger  zu  ertragen.  BefÅrchtet  werde,  dass
andernfalls  die  Gemeindegruppe  der  Deutschen
Christen  wegen  offenkundiger  Wirkungslosigkeit  „zerfÉllt“.  Die VerÉchter  der  „AutoritÉt“  dÅrften  nicht  lÉnger
ungeschoren  amtieren. Schluss-Resumáe:  „Pfarrer  von
einer  derartigen  Auffassung  sind  selbstverstÉndlich
untragbar.  Daher  raus  mit  ihnen.  Heil  Hitler  Lange,
Justizinspector i. R.“
c) Auseinandersetzungen um soziale Ungerechtigkeiten in der Gemeinde
1. So wurde April 32 der von Pohlmann geleiteten „Arbeitsgemeinschaft fÅr  Erwerbslose der
ErlÄsergemeinde“  durch  Herrn  Rottke  der  Vorwurf  gemacht,  Honorare  fÅr  arbeitslose  Berufsmusiker  anlÉsslich eines Karfreitagskonzerts unter Leitung von Herrn Kurth entgegen der
Verabredung  nicht  ausgezahlt  und  sogar  die  Gesamtabrechnung noch  nicht  vorgelegt  zu  haben.  Auàerdem  wird  ihm  GÅnstlingswirtschaft  bei  Warenverteilung  und  anderer  UnterstÅtzungsleistungen  an  die  Erwerbslosen  vorgeworfen.  Man  beanstandet,  dass  man  in  diesen
Dingen  zunehmend  vom  Wohlwollen  des  Herrn  Pohlmann  abhÉngig  geworden  sei,  so  dass
inzwischen nur die UnterstÅtzung zuteil werde, „der bei Herrn Pohlmann gut angesehen sei“.
Der  BeschwerdefÅhrer  wÅnscht  Herrn  Pohlmann,  einmal  ein  Dreiviertel-Jahr  als  Stellungloser zu leben, damit er merkt, wie sich das anfÅhlt.
Ein  gemeindeinterner  Untersuchungs- und  Vermittlungsausschuss hat  allerdings  keinen
Grund  gesehen,  hier  von  einer  Pflichtverletzung  zu  sprechen,  kommt  aber  dennoch  zu  dem
Schluss, dass Pohlmann „nicht der fÅr unsere Gemeinde geeignete Mann sei“.
2.  Zu  einer  Éhnlichen  Beschwerde  ist es  im  November  32  sogar  gegen  Herrn  Streckenbach
selbst  gekommen.  Ein  Herr  Liefe (Schreibweise  unleserlich)  suchte  Herrn  Streckenbach  auf
wegen GewÉhrung einer Miethilfe, da er kriegsbeschÉdigt sei und Åber keinen regelmÉàigen
Verdienst  verfÅge  und  von  seiner  Frau,  die  als  Reinemachefrau  im  Krankenhaus  Moabit  ar-
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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beite,  ernÉhrt  werde.  Er  bat  auàerdem  um  einen  Zentner  Winterkartoffeln.  Streckenbach
hÄrte  ihn  aber  wohl gar  nicht  an  und  lieà  ihn  auch  nicht  in  seine  Wohnung. Er  habe,  so  entgegnete ihm Streckenbach, Åber seine Frau einen auskÄmmlichen Verdienst und kÉme daher
fÅr  die  Winterhilfe nicht  in  Frage.  Dazu  sollen  die  Worte gefallen  sein,  dass  in  einer  Sitzung
(des  GKR?)  beschlossen  worden  sei,  die  „unsauberen  Elemente“,  die  „die  Kirche  aussaugten“,  nicht  mehr  zu  berÅcksichtigen.  Dagegen  verwahrte  sich  Liefke.  Seine  Drohung,  er
kÄnne  ja  aus  der  Kirche  austreten,  hat  Streckenbach  in  seiner  Ablehnung  nachtrÉglich  noch
bestÉrkt.
Zu  Pfarrer  Kornrumpf liegt  keine  Akte vor,  gerÅchteweise  wurde kolportiert,  dass er  stÉrker
mit den  Deutschen  Christen  und  der  NS-Ideologie  sympathisiert  habe,  dass er  also  als  Antipode von Pfarrer Streckenbach zu gelten habe. In  der Beschwerdeakte gibt es jedoch  keinen
gesonderten Vorgang Åber ihn.
d) Die Lage der Gemeinde vor und um 1933
Ein  differenziertes  Bild  kann  hier  nicht  gezeichnet  werden  (siehe  den  Beitrag  von  Frau  Dr.
MÅns und  das  Interview  mit Frau  Piotrowski).  Aus pastoraler  Sicht  kann  wohl nur  soviel  gesagt werden:
Sie  war in  jener  Zeit  offensichtlich  stark  obrigkeitlich  geprÉgt.  Auch innerhalb  der  Gemeinde
gab  es  eine  strenge  Hierarchie.  Nach  dem  Pfarrer  kommt  eigentlich  lange  nichts.  Eine  Gemeinde von  BrÅdern  und  Schwestern  ist  hier  noch  nicht  konkret  greifbar.  Deutschnationale
Pastoren scheinen fÅr  die Probleme der Menschen an der Basis nicht immer  das richtige GespÅr  gehabt  zu  haben.  Gemeindearbeit ist  Åberwiegend  Verwaltungshandeln,  Predigtdienst,
Unterweisung  von  Konfirmanden  sowie  Amtshandlungen.  Die  Gemeindeglieder  sind  in  dieser  Perspektive  vornehmlich  als  Objekte  gesehen  worden,  die  immer  etwas  brauchen  und
die  Kirche  in  erster  Linie  als  Sozialagentur  ansehen,  soweit  sie  nicht  nur  stille  Gottesdienstbesucher waren.
Andererseits  zeigt  gerade  das  Verhalten  von  Pfarrer Streckenbach  gegenÅber  der  allmÉhlichen  Unterwanderung  der  Kirche  durch  deutschchristlich  eingestellte  Menschen eine  schon
frÅhzeitig  einsetzende  Abwehrbereitschaft,  die  in  der  Gemeinde  jedoch  mehr  toleriert  als
aktiv unterstÅtzt wurde. Dabei ist  Pfarrer Streckenbach durch seinen spÉteren Kurs offenbar
mehr  oder  weniger  zwischen  die  eigentlichen  kirchenpolitischen  Fronten  in  der  evangelischen  Kirche  (DC  und  BK)  geraten.  Dennoch verdient  sein  entschiedenes  Handeln gegen  das
Deutschchristentum  in  der  Anfangszeit  allen  Respekt.  Die  åberfÅhrung der  evangelischen
Gemeindejugend  in  die  HJ  war  allerdings  ein  strategischer  Fehler.  Ob  er  sich  auch  dieser
Entwicklung  konsequenterweise  hÉtte  entgegenstellen  mÅssen  und  warum  das  nicht  geschah,  ist  mir nicht  bekannt.  Vielleicht  befÅrwortete  der  GKR diese  beschleunigte  Eingliederung der evangelischen Jugend in die „HJ“.
Quellen: Akten aus dem Landesarchiv der evangelischen Kirche und aus dem Konsistorium
SekundÉrliteratur: Annemarie Lange, Das wilhelminische Berlin, 1967
RÄhm/Thierfelder, Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz, 1981
Zum  besonderen  Weg  Streckenbachs  siehe  die  im  Internet  /Google  BÅcher  unter  „Walter
Streckenbach BK“ angegebene Literatur
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
45
Aus der Zeittafel
Was  die  Nachrichten  in  den  Unterlagen  bei  ‚ErlÄser’  Åber  diesen  Zeitraum  anbelangt,  so
waren  die  damaligen  Verantwortlichen  offenbar  bestrebt,  Unterlagen  zu  vernichten.  WÉhrend etliche maschinenschriftliche Abschriften einer Chronik vorliegen, die den Zeitraum von
1931  bis  1939  komplett  auslassen,  vergaà  man  offenbar  ein  Blatt  in  einer  Akte,  das  Fakten
nennt, oder man wollte es da verstecken. Die wichtigsten Daten mÄgen hier unkommentiert
folgen:
1931
17. Mai:
EinfÅhrung des Pfarrers Walter Streckenbach in die bisherige erste Pfarrstelle durch Superintendent Konsistorialrat D. Rosenfeld.
28. April:
Wahl des  Pfarrers  Erst  Kornrumpf  aus  Danzig  in  die  bisherige  zweite  Pfarrstelle  der  ErlÄsergemeinde
28. Juni:
EinfÅhrung  des  Pfarrers  Ernst  Kornrumpf  in  die  bisherige  zweite  Pfarrstelle  durch    Superintendent Konsistorialrat D. Rosenfeld.
1932
13. Juli:
Pfarrer i.R. Martin Manger im Martin-Luther-Krankenhaus verstorben.
13. November:
Neuwahl  des  Gemeindekirchenrates  und  der  Gemeindeverordneten.  1009  wahlberechtigte
Gemeindemitglieder  haben  ihre  Stimme  abgegeben.  Liste  „FÅr  Evangelium  und  Volkstum“
erhielt  736  Stimmen  und  somit  13  Sitze  im  Gem.  Kirchenrat  und  35  Gemeindeverordnete;
Liste  „Deutsche  Christen“  erhielt  268  Stimmen  und  5  Sitze  im  Gem.  Kirchenrat  und  3  Gemeindeverordnete.
23. November:
10jÉhriges Stiftungsfest der Evangelischen Frauenhilfe
1933
15. Januar:
EinfÅhrung der neu gewÉhlten Gemeindevertretung
26. Juni:
AuflÄsung  der  aus  kirchlichen  Wahlen hervorgegangenen  Organe,  also  auch  der  GemeindekirchenrÉte und Gemeindevertretungen.
29. Juni:
Pfarrer Kornrumpf ernennt Reichsbahnbeamten  Augustin und Syndikus Dr. Grawinkel zu BevollmÉchtigten der Gemeinde.
2. Juli:
Einzige  Sitzung  der  BevollmÉchtigten. Wichtigster Beschluss:  Die  Schriftleitung  des  Gemeindeblattes wird einstimmig Pfarrer Kornrumpf Åbertragen.
21. Juli:
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
46
Pfarrer Streckenbach Åbernimmt wieder die GeschÉfte
23. Juli:
Neuwahl  der  KÄrperschaften.  2202  gÅltige  Stimmen;  davon  1430  fÅr  „Deutsche  Christen“
und  772  fÅr  „Evangelium  und  Kirche“.  GewÉhlt  sind  mithin 12  Deutsche  Christen  und  6  von
„Evangelium  und  Kirche“  zu  âltesten, 31  Deutsche Christen  und  7  von  „Evangelium  und  Kirche“ zu Gemeindeverordneten.
30. Juli:
EinfÅhrung der NeugewÉhlten im Hauptgottesdienst.
1934
15. April:
Pfarrer Streckenbach wird die GeschÉftsfÅhrung durch VerfÅgung des Propstes Eckert entzogen und Pfarrer Kornrumpf Åbertragen.
1935
1.Januar:
Stud. theol. Joachim GÄrke tritt als nebenamtlicher Jugendwart in den Dienst der Gemeinde.
1936
15. Januar:
Pfarrer Streckenbach Åbernimmt wieder die GeschÉftsfÅhrung gemÉà VerfÅgung des Konsistoriums.
1936: ErlÄser feiert ihr 25jÖhriges JubilÖum
Ihr  25jÉhriges JubilÉum  konnte ErlÄser am 10. Mai 1936 feiern.  In  diesem Vierteljahrhundert
hatte  die  Gemeinde  mehrere  Wechsel  und  gesellschaftliche  UmwÉlzungen  erlebt  wie  den
Sturz  der  Monarchie, Inflation,  Weltwirtschaftskrise,  Weimarer  Republik  und  die  Machtergreifung  durch  die  Nationalsozialisten. Die vorliegenden  Fassungen  der  Chronik  geben  diese
BrÅche nicht immer wider, auf 1913 folgt hier 1936. åber das JubilÉum wird berichtet:
„Der  Dank- und  Festgottesdienst  anlÅsslich  des  25jÅhrigen  Bestehens  der  Kirche am Sonntag
Kantate nahm einen recht feierlichen und wÉrdigen Verlauf. Beim Klang der Glocken schritten
die  Mitglieder  des  Gemeindekirchenrates,  die  den  Superintendenten  geh.  Konsistorialrat  D.
Rosenfeld,  den  Vertretern  des  Pfarrministeriums  der  Heilandsgemeinde  Pfarrer  MÑller  und
des Konsistoriums und die andren EhrengÅste – ãltester der Heilandsgemeinde, Rektoren und
Lehrer  der  im  Gemeindebezirk  liegenden  Schulen,  Vertreter  der  Presse- geleiteten,  vom  Gemeindesaal zu Kirche; als sie das Gotteshaus, das Fahnenschmuck angelegt hatte, und dessen
Eingang mit Tannengirlanden geschmÉckt war, erhob.
45
1937-1942 FÅr diesen Zeitraum gibt es in der Chronik von ErlÄser keine Angaben!
45
Maschinenschriftliche Chronik, Verf. Unbekannt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
47
25 Jahre ErlÄserkirche
Ordnung zum Dank- und Festgottesdienst
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
48
Die Synagoge in der LevetzowstraÑe, Ecke JagowstraÑe. Einweihungsfeier 1914 (oben).
Am 09.11.1938 von den Nazis angezÅndet, ab 01.10.1941 als Sammellager fÅr Deportationen missbraucht und
1955 abgerissen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
49
Titelblatt eines Gemeindebriefes von 1936.
ãber das 25jÖhrige JubilÖum der ErlÄserkirche wird auch im Gemeindeblatt berichtet.
Bildgestaltung und Schriftbild, lassen die NÖhe zur verordneten Staatskultur erkennen.
Keine  ErwÉhnung  finden  beispielsweise  die  Ereignisse  vom  9.  November 1938,  als  die  Synagoge  in  der  Levetzow-Straàe  von  den  Nazis  angezÅndet  wurde  und  teilweise  ausbrannte.
Keine  ErwÉhnung  finden  die  Deportationen  jÅdischer  MitbÅrger,  obwohl  dieses  Geschehen
von  den  Berlinern  miterlebt  wurde,  denn  die  Synagoge  lag  an  einer  belebten  Kreuzung  in
Nachbarschaft von Schule und Post.
„Mit  all  diesem  Geschehen  ist  letztlich  auch  unser  christliches  Herkommen  auf  das  Tiefste
verletzt  worden  Vielleicht  war  es  Angst,  die  das  schweigend  mit ansehen  lieÇ.  Sicher  war  es
auch  die  infame  antisemitische  Propaganda,  der  viele  Menschen  Glauben  schenkten, resÅmierte Pfarrer Karl Ernst Kleiner 1986 im Gemeindeblatt zum 75jÉhrigen JubilÉum.
In  den  Unterlagen  fanden  sich  lediglich  Hinweise,  die  die  ErlÄserkirche  direkt  betreffen  wie
ein  Brief  vom  15.Mai  1942.  Darin teilt  die  Turmuhren-Fabrik  C.F.  Rochlitz  mit, “dass  mir von
den BehÄrden trotz  Einspruchs und entgegen meinen Erwartungen weitere ArbeitskrÉfte fÅr
den  MilitÉrdienst  abgefordert  sind,  so  dass  ich  leider  auàer  Stande  bin,  die  Wartung  Ihrer
Turmuhr weiter auszufÅhren.“ Er schlÉgt vor, den Wartungsvertrag bis zum Ende des Krieges
ruhen zu lassen  und: Ich  bin auch bereit, Ihre  Uhr ohne Berechnung auf 12 zu stellen und anzuhalten und bitte um Nachricht, falls Sie das wÉnschen.
46
Mit deutschem Gruà
C. Rochlitz
Allein die Gruàformen in den Briefen, aber auch die
Bildgestaltung  in  den  Printmedien  wÉhrend  des
Nationalsozialismus  lassen  Gesinnung,  aber  auch
ZwÉnge  erahnen,  denen  auch  die  Kirche  ausgesetzt
war.
Die  Ariernachweise,  die  von  der  NSDAP  den
Betrieben  und  âmtern  abverlangt  wurden,
brachten  die  Kirche  in  einen  Zwiespalt:  Einerseits
mussten  sie  die  erforderlichen  Informationen  aus
den  KirchenbÅchern  zur  VerfÅgung  stellen,
andererseits  unterstÅtzten  sie  damit  indirekt  das
Nazi-Regime.  Die  Fragen  nach  Sekten  am  13.
September  1933  konnten  unsere  Pfarrer  verneinen
(vergleiche  Dokumente  zur  Kirchenstatistik  im
Anhang).
46
Akte: Uhr.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
50
Blick Åber den Kirchhof auf die zerstÄrte Kirche. Nach dem Luftangriff vom 01.03.1943.
ZerstÄrung und Wiederaufbau
ZerstÄrung und Folgen des Krieges:
„ Vieles wiederholte sich vom 1. Weltkrieg. Die MÅnner der Gemeinde zogen ins  Feld und die
Gemeinde  kam  weiter  zusammen,  treuer  als  bisher  und  betend fÉr die  eingezogenen  Soldaten…  Und  doch  war  manches anders,  schlimmer  als  im  1.  Weltkrieg. Da  waren  die  Luftangriffe.  Die  Glocken  durften  nur  noch  selten  und  sehr  kurz  gelÅutet  werden.  Die  Abendveranstaltungen  mussten  vorverlegt  werden  oder  ganz  ausfallen, da  die  Kirche  nicht  verdunkelt
werden  konnte.  ZunÅchst  blieb  die  Gemeinde  vor  schweren  Angriffen  und  ZerstÑrung  bewahrt.
Am 1.  MÅrz 1943  aber  kam  der  GroÇangriff auf  Moabit. áberall  in  der  Gemeinde, Wikingerufer, ZinzendorfstraÇe, LevetzowstraÇe, JagowstraÇe, Solinger StraÇe, Alt Moabit, in der Fabrik  von  LÑwe  brannte  es.  Auch  in  unserer  Kirche war  ein  Brandherd,  der  aber  bald  gelÑscht
werden konnte,  da  eine  Reihe  von  Helfern aus  der  Gemeinde zur  Stelle  war. Am Ende  dieses
GroÇangriffes  waren  allein  in  der  Schule  LevetzowstraÇe  Éber  200 Obdachlose  untergebracht.“
47
Am  22.  November  1943  zerstÄrte  ein  Luftangriff  die ErlÄserkirche; sie  brannte  total  aus.
48
Auch die  Wohnungen der  Pfarrer  wurden vernichtet,  viele  Tote  waren zu  beklagen. Die Kita
wurde geschlossen. Ein erneuter Angriff am 4. Oktober 1943 fÅhrte  zu SchÉden am Gemeindehaus.  Pfarrer  Kornrumpf  zog  nach  Ostpreuàen. Nach  seiner  RÅckkehr  im  Juni  1944  Åbernahm er eine Pfarrstelle in Oranienburg. So musste Pfarrer Streckenbach, der mit seiner Frau
wegen  Unbewohnbarkeit  der  Wohnung  nach  SchÄneberg  gezogen  war,  zwei  Gemeinden,
47
1911-1961. 50 Jahre ErlÄserkirche. Ungedr. Typoskript, S. 10.
48
Vgl. Bericht im Anhang: Dokumente.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
51
Die zerstÄrte Eckkirche in den 50er Jahren. Gut zu sehen sind das Kleist-Gymnasium und im
Hintergrund die ausgebrannte Synagoge. Bis zum Wiederaufbau war die EingangstÅr der
ErlÄserkirche zugemauert, um Vandalismus zu verhindern.
ErlÄser  und  Reformation  betreuen.  Im  September  1947  konnte  er  wieder  in  das  Gemeindehaus einziehen.
Am  01.  Oktober  1946  begann  Pfarrer  SchÄtz  zunÉchst  kommissarisch  seinen Dienst  bei  der
ErlÄsergemeinde.  Inzwischen  war  die  ErlÄsergemeinde  auf  6.700  Seelen  geschrumpft,  so
dass  sich  die  Gemeinde  als  zu  klein  fÅr  2  Pfarrstellen  erwies  und  Pfarrer  SchÄtz noch  die
Seelsorge im Virchow-Krankenhaus Åbernahm. Der  Kindergarten Äffnete wieder ab dem. Juli
1949.  Die  Gottesdienste mussten  seit  1944 am  anderen  Ort,  in  einem  Zimmer  der  Schwesternstation,  dann  in  einem  nahe  gelegenen  Casino  stattfinden,  dennoch  schÉtzte  man  den
Besuch der Gottesdienste als gut ein. Zur ErlÄsergemeinde gehÄrten inzwischen wieder etwa
9.200 Mitglieder, deren erstes Anliegen es war, die zerstÄrten GebÉude wieder zu errichten.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
52
Innenansichten der zerstÄrten
ErlÄserkirche.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
53
Die Nachkriegszeit
Neue  behÄrdliche  Strukturen,  eine  neue  Stadtverwaltung,  entstanden  nach  der  Teilung  der
Stadt  Berlin.  Die  verÉnderte  Situation  wird  in  den  Akten  schlagartig  an  der  Betonung  der
West-WÉhrung  bei  allen  Rechnungen  bewusst. Mit  Hilfe  eines  Schuldendarlehens  von  der
Altersversorgungskasse der DiakonissenmutterhÉuser wurde zunÉchst ein Teil der Pfarrwohnung Kornrumpf fÅr  den KÅster und seine Frau bewohnbar gemacht. 1947 konnte auch Pfarrer Streckenbach wieder in das Gemeindehaus einziehen.
Das Jahr  1950 und  weitere Jahre  danach  sind  generell  geprÉgt  von  dem  BemÅhen,  Anleihen
und  Kredite zu  erhalten.  So  leiht  beispielsweise  die  Stadtsynode  1500  DM West zur  Wiederherstellung  der  Dachrinnen  und  Abfallrohre.  Die  StÉdtische  Sparkasse  Berlin  bewilligt eine
Anleihe von 2000 DM West zur Instandsetzung des Glockenturmes, Geld, das von ErlÄser zur
HÉlfte  verzinst  werden  muss,  die  andere  HÉlfte  wird  von  der  Stadtsynode  Åbernommen.
Dennoch  bot  die  Kirchenruine  immer  noch  einen  trostlosen  Anblick.  Mittel  mussten
beantragt  werden,  um  Fenster  und  TÅren  zuzumauern,  da  der  Kirchenraum  zum  Abfallort
verkommen  war.  Aber  es  gab  auch  schon  Hoffnung  machende  Tage  wie  den  26.  MÉrz,  an
dem  erstmals die Glocken wieder erklangen. Und ein Jahr spÉter begannen dann tatsÉchlich
erste  Arbeiten,  zunÉchst  am  Gemeindehaus. Das  Turmuhrwerk  konnte  von  der  Firma  C.F.
Rochlitz wieder eingesetzt werden.
Pfarrer Streckenbach war am 31. MÉrz 1952 in den Ruhestand getreten. Um seine Nachfolge
bewarben  sich  acht  Kandidaten(!).  Zum  Nachfolger  wurde  am  12.  September  1952  Pfarrer
Fritz Helbig aus Berlin-Pankow gewÉhlt.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
54
Der Wiederaufbau beginnt
49
„AuÇerdem  mÉssen  wir  betonen,  dass  die  Gemeinde  unbedingt  ein  Gotteshaus  benÑtigt,
wenn nicht  in  ihr  eine  Generation heranwachsen soll,  die  eine  Kirche  von  innen  niemals  kennengelernt hat. “
50
Als  erste  Maànahme  gewÉhrte  der  Stadtsynodalverband  am  19.03.1951  eine  Beihilfe  von
227.- West  fÅr  Maurer- und  Tischlerarbeiten.  Aber  fÅr  einen  Wiederaufbau  der  Kirche  und
des Gemeindehauses reichten  diese Maànahmen natÅrlich nicht aus. So wurde, wie von anderen  Kirchen,  beispielsweise  Heiland  und  St.  Johannis  ein Kirchbauverein  gegrÅndet.  Zur
BegrÅndung heiàt es am 7. Januar  1953  im  Protokoll der 1. Jahreshauptversammlung  vor 81
Teilnehmern u.a.:
Der Aktionsausschuss wird zur  Entlastung  des  Herrn Pfarrers  SchÑtz  und  zur  weitere Aktivierung der Aufbauarbeiten der Kirche und des Gemeindehauses gebildet.
51
Das  Protokoll  vermeldet  nahezu  enthusiastisch:  „Wir  sind  nun  soweit!!!  Nach
der  Frostperiode  kann  mit  dem  Bau
begonnen  werden!“  Denn  der  Antrag
zur  Bewilligung  eines  Kredites  war
erteilt worden und das Grundkapital von
35.000.- als  Darlehen  gegeben.  Der
Stadtsynodalverband  Åbernahm  die
HÉlfte  der  Verzinsung  des  geliehenen
Kapitals. Die Zusicherung des Stadtsynodalverbandes  lag  vor,  dass  er  die  BÅrgschaft  Åber  das  Darlehen  Åbernommen
hat.
Damit  war  die  Voraussetzung  fÅr  den
Baubeginn  gegeben.  Dennoch
schwankte  wohl die  Stimmung  zwischen
Hoffen  und  Bangen,  wenn  Pfarrer
SchÄtz  mit  der  Bemerkung  zitiert  wird,
dass  ihm  Angst und  Bange  werde, wenn
er  Åber  den  Bau  nachdenke  und  den
Kirchenbauverein  geradezu  beschwÄrt,
ihn nicht im Stich zu lassen.
Und  er  muss  auch  die  Vorfreude  und
Ungeduld bremsen, denn der Kirchenbau kann nicht eher beginnen, als bis ein beleih fÉhiges
Objekt vorhanden ist, d.h. erst nach dem Bau des Gemeindehauses, das 1953 wieder instand
gesetzt wird.
49
Vgl. Archiv der ErlÄsergemeinde, Akte B.St.V., IV, 15,5.
50
Pfarrer Helbig am 22. Oktober 1955 an die Berliner Stadtsynode.
51
Archiv der ErlÄsergemeinde, Sonstiges, hier: Kirch- Bau-Verein 1953-1956, Nr. 359.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
55
ZunÉchst  gewÉhrt  die  Stadtsynode  am  13. Nov.  1953  400  DM WEST   fÅr  die  Instandsetzung
der  Heizungsanlage.  Es  folgt  am  22.8.1953 eine  Aufforderung  des  Berliner  Stadtsynodalverbandes an alle GemeinderÉte der ev. Kirchgemeinden, -„sowohl fÅr die Westsektoren wie fÅr
den  Demokratischen Sektor  von  Berlin  …eine  åbersicht Åber  die  BauwÅnsche  der  einzelnen
Kirchgemeinden zu erhalten.“ Danach ein Rundschreiben  des Stadtsynodalverbandes an alle
KirchenrÉte,  fÅr  das  Bauprogramm  1954  fÅr  beide  Sektoren  bis  20.10.  BauwÅnsche  mitzuteilen.
23.10.1953: Brief des GeschÉftsfÅhrenden Pfarrers SchÄtz, an Berliner Stadtsynodalverband,
„die ‚Substanzerhaltung’ betreffend:
„Zu dem oben angefÉhrten Bezug melden wir gehorsamst, dass zur Erhaltung der Substanz es
unbedingt erforderlich ist, der ErlÑserkirche im Jahre 1954 wenigstens im ersten Bauabschnitt
Dach,  TÉren  und  Fenster  zu  geben.  Der  Kostenvoranschlag  hierfÉr  belÅuft  sich  auf  150.000,-DM.  Nach RÉcksprache mit dem Senat sind 30% davon aus GARIOA-Mitteln zu erhalten. Den
Antrag  dafÉr  sollen  wir  im  Januar  1954  einreichen. Wir  wollen  bemÉht  sein,  durch  gemeinsame  Besuche  der  beiden  Pfarrer  bei  den  Industriellen  unserer  Gemeinde  einen  erheblichen
Beitrag  der  Industrie  zu  erlangen.  Ferner  wird der  Kirchbauverein  die  Verzinsung  des  Restes,
der  bleibt,  nachdem  der  Berliner  Synodalverband  uns  zugesagt  hat,  wie  viel  er  ausgeben
kann, Ébernehmen….“
Hoffnung auf den Wiederaufbau
Am  28.Juni  1954  macht ein  Schreiben  des  Berliner  Synodalverbandes    an  den  Gemeindekirchenrat der ErlÄsergemeinde, Berlin NW 7, Jagowstraàe 25, Hoffnung:
„Auf  das  gef.  Schreiben  der  Kirchgemeinde  vom  4.  Juni  1954  teilen  wir  ergebenst  mit: Die
Dringlichkeit  der  Eindeckung  der  ErlÑser-Kirche  und  somit  die  Sicherung  der  Substanz  ist  uns
bekannt  und  von uns  auch  immer anerkannt  worden. Nach den  seinerzeit geltenden  Bestimmungen  Éber  die  Beleihung  von  GrundstÉcken  mit  Ñffentlichen  Geldern  muÇ  eine  beleihungsfÅhige Substanz  vorhanden  sein,  um  Sicherheit  fÉr  das  aufzunehmende  Baukapital  fÉr
die  Kirche  zu  bieten. Es  wÅre  mithin  durchaus  gerechtfertigt,  dass  der  Wiederaufbau  des
Gemeindehauses zeitlich vor dem Wiederaufbau der Kirche durchgefÉhrt wird.“
52
Allerdings wird ErlÄser darauf aufmerksam gemacht, dass sich die VerhÉltnisse auf dem Kapitalmarkt  ‚verschÉrft’  haben  und  dem  Berliner  Synodalverband  nur  geringe  Mittel fÅr  die  Instandsetzung  von  Kirchen  Åberwiesen  wurden.  GegenwÉrtig  sei  eine  BerÅcksichtigung  der
ErlÄserkirche nicht mÄglich, das Anliegen werde aber fÅr das kommende Jahr  im Auge behalten.
Angefragt wird, ob Pfarrer SchÄtz bei seinem beabsichtigten Versuch, Mittel fÅr den Wiederaufbau durch Spenden aus dem Ausland mitzufinanzieren, Erfolg gehabt habe.
Nach dem Protokoll des Kirchbauvereins am 16.  November 1954 verstÉrkt sich die Hoffnung
auf  einen  Wiederaufbau,  da  Mittel  vom  Berliner  Synodalverband  fÅr  1955  fest  eingeplant
52
Brief  vom  Berliner  Synodalverband  an  Gemeindekirchenrat  ErlÄser  vom  28.  Juni  1954.  Archiv  der
ErlÄserkirche ,’Kirchenbau-Verein 1953-1956, Akte Nr. 359.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
56
sind.  Der Kirchbauverein  hat  zu  diesem  Zeitpunkt  eine  stattliche  Mitgliederzahl von  585,  erforderlich wÉren aber 1000, um die Verzinsung und Amortisation des aufzunehmenden Kapitals zu sichern.
Um  das  Geld  des  Vereins  vor  Entwertung  zu  sichern,  beschlieàt  der  Gemeinderat,  einen  Jugendsaal unter der Empore auszubauen, der auch nach dem Wiederaufbau bestehen bleiben
soll. Diesen Bau erklÉrt das Protokoll fÅr  den Beginn des Wiederaufbaus, der dann unter Leitung des Architekten Prof. Walter KrÅger erfolgt.
Von  1953  bis  1965  konnte  der  Verein  17.947  Mark einnehmen, davon  16.350  fÅr  den  Wiederaufbau  geben.  Am  18.  Oktober  1955  hatte  der  Kirchgemeinderat  den  Wiederaufbau der
zerstÄrten  KirchtÅrme  beschlossen.  Am  12.  Oktober  folgt  wiederum  ein  Rundschreiben  an
alle  GemeindekirchenrÉte, diese  Mal nur  an  die  ev.  Kirchen  in  Westberlin,  ihre  BauwÅnsche
mitzuteilen. Der eindringliche  Antwortbrief von  Pfarrer  Helbig vom  22.  Oktober 1955  an  die
Berliner  Stadtsynode  Åber  den  Superintendenten  des  Kirchkreises  Berlin  II,  Radtke,  kÄnnte
die positive Entscheidung mit veranlasst haben. Helbig drÉngt:
„AuÇerdem  mÉssen  wir  betonen,  dass  die  Gemeinde  unbedingt  ein  Gotteshaus  benÑtigt,
wenn nicht  in  ihr  eine  Generation heranwachsen soll,  die  eine  Kirche  von  innen  niemals  kennengelernt hat. “
Die mÄglichen Baukosten  gibt  er  mit  500.000,--Mark an. Am 1.  November 1955  ging  Pfarrer
Alfred SchÄtz in den Ruhestand, ihm folgte am 3. November 1955 Pfarrer Dr. Karl Schulz.
16. April  1956:  Berliner  Stadtsynodalverband  bewilligt  30.000,-West  fÅr  den  Wiederaufbau
der  ErlÄserkirche.  Die Mitteilung,  dass  von  dem  Betrag  inzwischen  1.700  M als  Abschlagszahlung auf  das  Architektenhonorar  an  Prof.  Walter  KrÅger gedacht  seien,  lÄst  einen  umfangreichen Briefwechsel aus.
Am  7.Juni  1956  beginnt  der  Wiederaufbau  der  KirchtÅrme.  Richtfest  kann  am  16.  Januar
1957  gefeiert  werden.  FÅr  die  besondere  politische  Situation  der  Stadt,  geteilt  durch  den
‚Eisernen  Vorhang’  mag eine  Stellungnahme  des  Rates  der  evangelischen  Kirche  in  Deutschland von 1956 stehen. In ihrem Beschluss
53
heiàt es:
„Die åffentlichkeit  ist  in  den  letzten  Wochen durch  ãuÇerungen einzelner  kirchlicher  PersÑnlichkeiten  beunruhigt  worden. Wir stellen  fest:  diese  ãuÇerungen, wie immer  sie  auch  gelautet  haben mÑgen, sind nicht Kundgebungen der evangelischen Kirche, sondern gehen auf  die
alleinige Verantwortung derer, die sie getan haben.
Zu  den  aufgeworfenen  Fragen  erklÅrt  der  Rat  der  evangelischen  Kirche  in  Deutschland unter
anderem:
1. WÉrde und  Freiheit  des  Menschen sind  nach  christlicher  Lehre  unantastbar.  Auch die
Einheit  des  deutschen  Volkes,  unter  deren  Verlust  wir  heute  mit  unserem  ganzen
Volke schwer leiden,  darf nicht mit der Preisgabe dieser wÉrde und dieser Freiheit erkauft werden.
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VollstÉndiger Wortlaut s. Anhang, Dokumente
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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2. Die  evangelische  Kirche  in  Deutschland  kann  den  infolge  der  Politik  der  BesatzungsmÅchte entstandenen  Eisernen  Vorhang nicht  anerkennen.  Er  stellt  eine  stÅndige  Bedrohung des Friedens und damit der Freiheit der Menschen und der VÑlker dar.
Die evangelische Kirchenleitung Berlin-Brandenburg“
Ein groÑer Tag: Am 07.06.1956 beginnt
der Wiederaufbau der beiden TÅrme.
Und am 16.01.1957 kann Richtfest
gefeiert werden.
Kirchlicher Dienstausweis von Fritz Helbig. Pfarrer in der ErlÄsergemeinde von 1952-1960.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Die Wiedereinweihung der ErlÄserkirche am 9. MÖrz 1958
Die wiederaufgebaute ErlÄserkirche auf einem Foto von 1983 (oben). Die Ordnung (Titelblatt) zum
Festgottesdienst zur Wiedereinweihung der ErlÄserkirche vom 09.03.1958 (unten links).
Einzug der Pfarrer zum Festgottesdienst zur Wiedereinweihung der ErlÄserkirche (rechts). Superintendent
Radtke (vorne links) und Pfarrer Dr. Schulz. Bischof Dr. Dibelius (hinten link s) und Pfarrer Helbig.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Erste Innenseite der Gottesdienstordnung zur Wiedereinweihung der ErlÄserkirche (links).
Zweite Innenseite (rechts). RÅckseite (unten).
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Wie sah die neue Kirche von innen aus?
FÅr  den  Wiederaufbau  zeichnete  der  bekannte  Architekt  Walter  KrÅger  verantwortlich.
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KrÅger  hatte  nach  seinem  Studium  in  Berlin  und  MÅnchen    als  Regierungsbaumeister  gewirkt, erÄffnete dann zusammen mit seinem Bruder ein ArchitekturbÅro in Berlin, beide
Als  auffÉlligster  Unterschied  zum  alten  Innenraum  ist  wohl  die  Gestaltung  des  Altarraumes
zu  nennen.  Anstelle  des  riesigen  Bleiglasfensters  mit der  Weihnachtsgeschichte schaut  man
seit 1957 auf ein hochkant gestelltes rechteckiges Fenster, in sechs Abschnitte unterteilt, von
Hans  Joachim  Burgert  (1928-2009)  mit  biblischen  Szenen  – Geburt, Taufe,  Gethsemane,
Weltgericht, Himmelfahrt, Auferstehung – in moderner Formensprache und krÉftigen Farben
gestaltet.
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54
Walter KrÅger,  1888  – 1971,  mit seinem  Bruder  Studium  der  Architektur in  Berlin  und  MÅnchen, 1919-1929
Regierungsbaumeister.  ArchitekturbÅro  in  Berlin,  Mitglied  im  Bund  deutscher  Architekten.  Mehrere  seiner
gebauten WohnhÉuser stehen heute unter Denkmalschutz. Auàer ‚ErlÄser’  war er auch fÅr  den Umbau der ev.
Kirche in Berlin-Waidmannslust verantwortlich.  
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Einen  Flyer  mit  den  Ansichten  der  Fenster    von  Hans  Jochim  Burgert  gestalteten  Dietrich  Tritschler  und
JÅrgen Wendt, hrsg. vom Kirchgemeinderat  der ErlÄserkirche.
Das Altarfenster der
wiederaufgebauten ErlÄserkirche
Zu sehen sind:
Geburt – Weltgericht
Taufe – Himmelfahrt
Gethsemane – Auferstehung
Gestaltet wurde das Altarbild von HansJoachim Burgert 1957.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Ein  langgezogenes  rechteckiges  Fenster  mit  blauen  Glasquadraten  in  verschiedenen  Helligkeitsstufen  schlieàt  den  rechteckigen  Chorraum  nach  oben  ab.  Der  Schaugiebel  zur  Straàe
hin  wurde  nicht  wieder  aufgebaut.  Das  ehemalige  simulierte  TonnengewÄlbe  wurde  durch
eine holzgetÉfelte Decke ersetzt. Die Empore im  Seitenschiff erhielt zartfarbene Mosaikfenster,  so dass  bei  Sonnenlicht  schÄne  Farbspiele  zu  bewundern  sind.
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Allerdings  gab  es  jetzt
nur  noch  600  SitzplÉtze.  Die  Symbole  der  vier  Evangelisten  an  der  Kanzel  und  die  Symbole
der  Abendmahls-Elemente  in  Kupfertreibarbeit  sowie  das  Altarkruzifix und  die  beiden Altarleuchter aus Kupferblech gestaltete der Bildhauer Fritz Thiel.
Die Festpredigt hielt Bischof Dibelius. Sie begann mit den Worten:
Jesaja  49,26:  Ich  bin  der  Herr, dein  Heiland und  dein  ErlÑser.  Nun steht  sie  wieder da.  Frisch
wie  am  ersten  Tag,  diese  Kirche,  die  so  weiterhin  sichtbar  Éber  die  Ufer  der  Spree  und  weit
hinein  in  unsere  groÇe  Stadt  Berlin  hinein  sieht  und  all  die  tausend  Menschen  jeden  Tag
grÉÇt, die Éber die Gotzkowsky-BrÉcke strÑmen. Und predigt nun wieder in ihrer alten Frische
und  Festigkeit  den  Namen,  den  sie  trÅgt,  hinein  in  die  Welt.  Nun  nicht  irgendeinen  Namen
aus der heiligen Geschichte, nicht den Namen eines der JÉnger,  der groÇen Zeugen des Evangeliums, sondern den Namen, der im Mittelpunkt steht, den Namen, der alles besagt, was wir
unserem  Herren  Jesus  Christus  verdanken.  Sie  redet  von  dem  ErlÑser  der  Menschheit.  Und
was kÑnnen wir an dem Tag, an dem wir diese Kirche nun wieder aus den HÅnden der ewigen
Gnade  entgegen  nehmen,  anderes  tun,  als  uns  in  dieser  Stunde  von  neuem  zu  bekennen  zu
dem, der da spricht: Ich bin der Herr, dein Heiland und dein ErlÑser.
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Die runden Innenfenster gestaltete Burgert 2004.
57
Gesamtwortlaut s. Anhang. Auf die Nennung umfangreicher Literatur zu Dibelius wird hier verzichtet.
„Ich weiÑ, dass mein ErlÄser lebt.“
Innenfenster von Burgert 2004.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Aus der Zeittafel
Das  50-jÉhrige  JubilÉum kann  die  ErlÄserkirche  am  14.  Mai 1961  feiern  Die  Festpredigt  hÉlt
Generalsuperintendent  D.  Immanuel  Pack. FÅr  den  13.  August  1961,  den  Tag  des  Mauerbaus,  verzeichnet  die  Chronik  lediglich,  dass  die  Leiterin  des  Kindergartens,  FrÉulein Irgang,
nicht mehr an ihre Arbeitsstelle kommen kann.
Am 1.  Dezember 1961  erscheint  erstmals  eine  Zeitschrift  der  Jugend:  „Die  Lupe“.  Nach dem
Tod  von  Kantor  Kurth,  der  seit  1924 an  ErlÄser  tÉtig  gewesen  war,  wird  am  1.  Januar  1962
Johannes  Carl  als  A-Kirchenmusiker  angestellt.  Die  erste  Goldene  Konfirmation  wird  am  22.
September 1963 gehalten. Am 20. Oktober 1963 wird die neue Orgel eingeweiht.
58
58
Vergleiche Bericht von Edda Straakholder
Konfirmationsschein von Sigrun
Wilhelm vom 23.03.1958.
Nach der Wiedereinweihung der
ErlÄserkirche, erscheint auch die
Gestaltung der
Konfirmationsscheine versachlichtBilder des Kalten Krieges im
geteilten Berlin.
Bestimmt durch den Mauerbau
und das Wirtschaftswunder.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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01.07.1965: Die  Gemeinde  wird  um  den  Ostteil  der  Gustav-Adolf-Gemeinde  erweitert.
Eine 3. Pfarrstelle, wird eingerichtet, aber  nicht besetzt. Die Gemeinde zÉhlt
12.000 Mitglieder.
01.11.1965: Pastor Schloth wird komm. Verwalter der 3. Pfarrstelle
05.12.1965: Pfarrer Alfred SchÄtz verstorben.
01.05.1967: Pastor Hans Hartmut HÅfner wird zunÉchst als Hilfsprediger beschÉftigt, und
ab 14. 01.1968 Inhaber der 3. Pfarrstelle.
29.03.1968: Pfarrer Dr. Schulz geht in den Ruhestand.
01.09.1968: Pastor Pacholik Åbernimmt die komm. Verwaltung der 2. Pfarrstelle.
11.07.1969: Umwandlung der 1. Pfarrstelle in eine Pastorinnen-Stelle. Pastorin Eberstein
beginnt ihren Dienst.
23.01.1970: Die Taufkapelle wird neu eingerichtet.
19.02.1971: Pastor  Pacholik  und  Pastorin  Eberstein  verabschieden  sich  von  der  Gemeinde wegen Heirat.
01. 07. 1971: Pfarrer Georg Malchin beginnt seinen Dienst.
01. 11.1971: Mit  der  1.und  2.  Pfarrstelle  werden  Pastor  Ingo  Feldt  und Pastor  Friedrich
GÅlzow betraut.
17. 10.1972: ErÄffnung  des  griechischen  Kindergartens  in  der  Helmholtzstraàe  29.  Er
wurde  fÅr  die  griechischen  Arbeitnehmerkinder  erÄffnet,  entwickelte  sich
dann aber schnell zu einer Integrationseinrichtung  fÅr  deutsche, griechische
und andere auslÉndische Kinder.
03.03.1974: Einweihung des Jugendhauses ‚Die Zinse’
27.04.1976: Streichung der 3. Pfarrstelle durch das Konsistorium.
01.10. 1976: Pfarrer Feldt wird vom Berliner Missionswerk nach Japan entsandt.
01.12.1976: Pastor Fisch beginnt als Hilfsprediger
28.02.1977: Pfarrer GÅlzow Åbernimmt eine Gemeinde in Steglitz
01.11.1977: Pfarrer HÅfner geht nach Chile.
28.12.1977: Pastorin Reichwaldt-Siewert wird mit der 2. Pfarrstelle betraut.
19.09.1980: Erstmals findet die ‚Kinderkirche’ statt, die den Kindergottesdienst ersetzt.
Mai 1982: Pastor Helmut Michel und Pastorin Ulrike Rogatzki kommen als Hilfsprediger
an die Gemeinde.
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06.03.1983: JubilÉumsfeier zum 25. Jahrestag des Wiederaufbaus der ErlÄserkirche
30.06.1983: Pfarrer Fisch Åbernimmt eine Gemeinde in Alt-Mariendorf.
Januar 1985: Fotowettbewerb der ‚Zinse’ zum Thema: „Jugendliche in Tiergarten“
05.10.1985: Jugendliche fahren zu einer Begegnung mit Jugendlichen nach Ostberlin.
Mai 1986: Pfarrer Kleiner erstellt eine kleine Chronik zum 75. Geburtstag der Kirche. Es
gibt ein Festkonzert unter der Leitung von Edda Straakholder, einen Festgottesdienst  mit dem  ehemaligen  Pfarrer  HÅfner  und  unter  Leitung  von  Pastorin Rogatzki wird eine Ausstellung erarbeitet.
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Mutterschaftsurlaub von Pfarrerin Reichwald-Siewert
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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3. Kirche heute – Kirche im Wandel
Vergleicht  man  die  quantitativ  Verringerung  der  Gemeinde  seit  ihren  AnfÉngen,  so  kÄnnte
man ein wenig mutlos werden. FÅr 2001 berichtet Pfarrer Massalsky anlÉsslich des 90jÉhrige
JubilÉums:  Die Zahl  der  Gemeindemitglieder  ist  seit  der  GrÅndung  um  etwa  zwei  Drittel von
12.000  auf  3.700 geschrumpft. Nach  der  letzten  Mitteilung  des  KVA  Stadtmitte  vom
01.01.2011  zÉhlt  die  Gemeinde  2.546  Mitglieder. Dennoch  belegen  die  Berichte  unserer
Pastoren und die Aussagen der Gemeindemitglieder
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ein sehr aktives Gemeindeleben.
Unsere Pastoren
Die Pfarrer der ErlÄsergemeinde
Carl Schmidt
Paul Tillich (Hilfsprediger)
1912-1930
1912-1913
Martin Manger 1913-1931
Ernst Kornrumpf (Mit Unterbrechung) 1931-1945
Walter Streckenbach 1931-1952
Alfred SchÄtz 1946-1955
Fritz Helbig 1952-1960
Dr. Karl Schulz 1956-1968
Dietrich Altmann (Hilfspfarrer) 1960
Schloth (Komm. Verwalter) 1965
Hans-Hartmut HÅfner 1967-1977
Herr Pacholik 1968-1971
Pastorin Eberstein 1968-1971
Georg Malchin 1971
Ingo Feld 1971-1976
Friedrich GÅlzow 1971-1977
Reinhard Fisch 1976-1982
Annette Reichwald-Siewert Seit 1977 im Amt
Ulrike Rogatzki (Hilfspredigerin) 1982
Helmut Michel (Hilfsprediger) 1982
Karl-Ernst Kleiner 1983-1988
Kerstin Appel (Hilfspredigerin) 1988
Dirk Bartsch 1989-1997
Wolfgang Massalsky 1997-November 2011
In  einem  kleinen  Faltblatt  Åber  die  Geschichte  der  ErlÄsergemeinde  Berlin-Moabit  werden
im Zusammenhang mit Dr. Karl Schulz noch Walter Witzig und Lic. Arpad Broser genannt.
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Vgl. Kapitel: Stimmen aus der Gemeinde, Fragebogen
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Paul Tillich als Hilfsprediger in der ErlÄserkirche 1912/ 13
Von Wolfgang Massalsky
Neben  seiner  TÉtigkeit  als  Pastor  in  der  ErlÄserkirchengemeinde seit  01.08.1912 war  Tillich
(Jahrgang  1886) auch  weiterhin  wissenschaftlich  tÉtig.  Sein  Ziel  war  eine  Professur  in  Theologie  oder  Religionsphilosophie. Dennoch  muss  es  ihm  in  „ErlÄser“  nicht  schlecht  gefallen
haben,  denn  er  bewarb  sich  um  eine  Pfarrstelle,  zog  seine  Bewerbung  aber  dann  wieder
zurÅck, vermutlich, weil er sich  nicht an eine Gemeinde binden wollte. In
seiner  Amtszeit  hielt  er  hier  regelmÉàig  Gottesdienste  und  Andachten.
Erstaunlich  ist  dabei  die  groàe  Anzahl  von  Taufen  und  Beerdigungen.
1913  verlieà  er  die  ErlÄsergemeinde  wieder.  Wann  er  faktisch  ausgeschieden ist,  lÉsst  sich nicht genau feststellen, da  nur eine fÅr  die  Zeit bis
Ende  1912  ausgestellte  Pfarrvakanzrechnung  vorliegt,  aber  die  Wahl des
ersten  Pfarrers  der  Gemeinde  Januar  1913  fand  unter  seiner  Leitung
statt,  und  noch  bis  Mai  1913  hat  Tillich  in  der  ErlÄserkirche  Predigten
gehalten.
Zu seinem weiteren Werdegang ist  zu sagen, dass er wÉhrend des 1. Weltkrieges Feldgeistlicher in Frankreich war. 1919 wurde er Privatdozent in Berlin, spÉter bekam er eine Professur
in  Dresden und war zuletzt in  Frankfurt am Main als Professor fÅr  Religionsphilosophie tÉtig,
ehe  er im  Jahr  der  Machtergreifung  Hitlers  seine  Professur  verlor  und  nach  Amerika  emigrierte,  wo  er  seitdem  in  verschiedenen  Funktionen  als  Theologe  lehrte.  1965  starb  er  auch
dort.
In  Deutschland  hatte  er  viele  AnhÉnger,  vor  allem  nach  dem  2.  Weltkrieg,  als  man seine  – inzwischen  verwandelte  – Theologie  in  grÄàerer
Freiheit  neu  studieren  konnte,  wuchs  seine  AnhÉngerschaft.  Er  wurde
nun  als  eine  Art  Antipode  zur  „orthodoxen“  Schrifttheologie  Karl
Barths  gesehen,  zumindest  als  Gegenpol,  der  dessen  Ausschlieàlichkeitsanspruch  in  Frage  stellte. Insbesondere  in  der  Zeit  des  Kirchenkampfes  beriefen  sich  ja  viele  junge  Theologen  in  Deutschland  auf
Barths  Thesen.  Die  von  ihm  maàgeblich  mitbestimmten  Thesen  der
Barmer Theologischen ErklÉrung bildeten sozusagen die Bekenntnisgrundlage fÅr  den Kampf
gegen  den  NS-Staat  und  dessen  Instrumentalisierung  der  Kirche.  Barth,  der  einst  politisch
ganz  Éhnlich  dachte  wie  Tillich,  hatte  sich  inzwischen  allerdings  immer  mehr  von  seinen
sozialistischen und „dialektischen“ AnfÉngen entfernt.
Auch Tillich verÉnderte sich im Laufe der Zeit, sein Denken nahm immer mehr die ZÅge eines
Seinsdenkens  an,  das  die  Seinsfrage  mit  der  Gottesfrage  verschmolz.  Er  begnÅgte  sich  jedenfalls nicht mit der positiven Reproduktion  des biblischen Denkens, sondern suchte es mit
philosophischen  Mitteln  so  zu  interpretieren,  dass  der  moderne  Mensch  mit  seinen  Fragen
und  Problemen  aus  der  Bibel  Antworten  erhielt,  die  sein  LebensgefÅhl  auf  eine  neue  geistliche  Ebene  bringen  helfen  sollte.  Das schien  Tillich  gemÉà  seinen  Zeitanalysen  auch  die  primÉre Aufgabe  der  Theologie  zu  sein,  damit  sie wieder  ein  willkommener  und  ernst  zu  nehmender  Partner  fÅr  den  modernen  Menschen  wird.  Der  Mensch  in  der  Masse,  der  „Massenmensch“ mit seinen ângsten und SehnsÅchten ist dabei ein wesentlicher Ansatzpunkt fÅr
seine theologische Arbeit geworden.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Dabei  drehte  sich  bei  ihm  alles  um  eine  neue  Anthropologie,  ob  er  Åber  Psychoanalyse,
SexualitÉt, Politik oder Architektur schrieb, seine  AufsÉtze und BÅcher zeigen eine groàe Offenheit  und Neugier fÅr  das, was damals in  den Intellektuellenzirkeln  Deutschlands Åber den
Menschen  und  Åber  die  MÄglichkeit  eines  Existenzialismus  ohne  Metaphysik diskutiert
wurde.  BÅcher,  die  er  schrieb,  wie  z.  B.  „Der  Mut zum  Sein“  oder  „Die  neue  Wirklichkeit“,
„Die verlorene  Dimension“, waren zu meiner Schulzeit sogar SchullektÅre  im  Religionsunterricht, jedenfalls ausgewÉhlte Passagen daraus.
Die Bandbreite  seines  Wirkens lÉsst  sich  durch  zwei  Eckpunkte  umschreiben:  „ReligiÄser  Sozialismus“  und  „Das  Berneuchener  Buch“.  Beide  reflektieren  Tendenzen  der  geistigen  Situation in der Kirche der 20er Jahre gegenÅber den Herausforderungen durch die Ideologien der
Massenkultur: „ReligiÄser Sozialismus“ bedeutete,   eine neue Verbindung zur Arbeiterschaft
und  ihrer  sozialen  Lage  zu  schaffen,  ohne  ihre  atheistischen  Positionen  zu  akzeptieren,  da
diese den Menschen in die Selbstisolation treiben. Das „Berneuchener Buch“ bereitete einen
neuen  liturgischen  Stil  der  Gottesdienste  vor.  Symbol  und  KÄrperlichkeit  sollen  gegenÅber
der  Wortbetontheit  des  protestantischen  Gottesdienstes,  die  Barth  durch  seine  Dogmatik
noch verschÉrft hat, wieder zu ihrem Recht kommen.
Tillichs  „FrÅhe  Predigten“ (siehe  dazu  das  unter  diesem  Titel  von  Prof. Erdmann  Sturm  herausgegebene Werk), die er in der ErlÄserkirche gehalten hat, lassen in verschiedener Akzentuierung  vieles  davon  bereits  im  Ansatz  erkennen.  Sie  machen schon  im  Kern  deutlich,  dass
er die Aussagekraft des christlichen Glaubens nicht allein aus den Formeln der positiv-kirchlichen  Dogmatik  erhebt,  sondern  daneben  die  Lebenswelt  der  Menschen,  ihre  Gegenwartsinteressen daraufhin  befragt  und  untersucht,  ob  darin  ein  Bezogensein  dieser  Menschen  in
ihrem  Fragen  und  Leben  auf  eine  in  der  Tiefe sie  angehende  geistige  Macht zum  Ausdruck
kommt, in der sich der biblische Gott verbergen kann, den die christliche Theologie nicht nur
als den SchÑpfer,  sondern zugleich auch als den  ErlÑser des Menschen aus seiner SÅnde verkÅndigt. Dabei kann Tillich SÅnde und soziale MissstÉnde einerseits sowie das damit verbundene  Lebensganze  (GefÅhle,  Empfindungen,  Verhaltens- und  Handlungsweisen)  der  Menschen auf der zwischenmenschlichen Ebene in engen Zusammenhang bringen.
Als konventionelle Gemeindepredigten kann man seine Predigten  bestimmt  nicht  beurteilen,  dazu  sind  sie  im  Einzelnen  viel
zu sehr Themenbezogen und anthropologisch orientiert. Reine
Text-Predigten  sind  sie  jedenfalls  nicht. Ihnen  liegt  ein  Menschenbild  zugrunde,  das  der  philosophischen  Tradition  des
Deutschen  Idealismus  nahe  steht,  aber  auch  die  Grundaussagen  der  evangelischen  Theologie,  fÅr  die  ihm  Martin  KÉhlers
Rechtfertigungstheologie reprÉsentativ war, enthielt. Rechtfertigung  des  SÅnders  Åbersetzte  Tillich  in  nicht-dogmatischer
Sprache  als  Sinnfindung,  d.h.  „Rechtfertigung  des  SÅnders“
geschieht  dort,  wo  und  wenn  ich  fÅr  mein  persÄnliches  und
gesellschaftliches Leben einen Sinn im Leben gefunden habe, der mich mit dem Ewigen, dem
Unbedingten  verbindet.  Diese  Sprache  liegt  in  seinen  frÅhen  Predigten in  „ErlÄser“  noch
nicht explizit vor. Aber er ist auf mancherlei Wegen dahin unterwegs.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Sprachlich und formal ist sein damaliger Predigtstil:
- Manchmal ausgesprochen hymnisch oder sogar mystisch,
- oft seelsorgerlich-meditativ, trotzdem meist sehr lehrhaft;
- nicht  ungern  werden  gegensÉtzlich  klingende  Bibelworte  nach  ihrem  tieferen  Sinn
befragt.
- Die Perikopenordnung wird von Tillich  nur selten  streng befolgt! (Daher  ist  auch eine
chronologische  Einordnung  nicht  immer  einfach,  immerhin  gibt  es  nicht  selten  Hinweise  auf  den  Predigtzweck,  auf  die  homiletische  Situation,  auf  den  Kirchenjahressonntag.)
- HÉufig wird nur Åber einen einzelnen Bibelvers gepredigt.
- Die gedankliche Gliederung variiert nicht selten den Dreischritt These, Antithese, Synthese;
- der Zusammenhang mit dem biblischen Text ist manchmal recht lose;
- obwohl er von der Sprache der Bibel und des Gesangbuchs gern Gebrauch macht.
Bei  aller  Lehrhaftigkeit  seines  Predigtstils ist  die  dogmatische  Argumentation aber  angenehmerweise fast  immer mit den  allgemeinmenschlichen  oder  speziell  religiÑsen  Problemen  der
HÑrer verbunden.  Der  Ausgangspunkt  behandelt  zumeist  das  VerhÉltnis  von  Gott  und
Mensch  oder  unsere  Schwierigkeiten  mit  Gott  aufgrund  des  in  der  Geschichte  bzw.  Gesellschaft Erlebten oder Erlebbaren, um sich mit Fragen der Moral, der Ehe, der Liebe oder nach
dem  Sinn  des  Lebens  auseinanderzusetzen.  Interessant  ist,  dass  die  Stoffe  meist schon  von
sich aus einen Bezug zur religiÄsen SphÉre des Menschen haben.
In spiritueller Absicht werden die verschiedensten Aspekte des christlichen Lebens behandelt
wie  z.B.  FrÄmmigkeit,  Gebet,  persÄnliche  Erbauung,  Schwachheit  und  Kraft  des  Gotteswortes, Leben und Tod, Leiden und Gottverlassenheit, die Zweifel des Frommen, die FrÅchte des
Glaubens,  aber  auch  Furcht  vor  ungewissem  Lebensschicksal  und  Einsamkeit.  Seinen  gebildeten  HÄrern  macht  er  deutlich,  dass  der  Zweifel  an  Gott  nicht  immer  Zeichen  von  GlaubensschwÉche sein muss, sondern zur Ehrlichkeit des Menschen gehÄren kann.
Wo  Tillich  von  der  Situation  des  Menschen ausgeht,  da  erhÉlt  sie  ihre  eigentliche  Seinstiefe
erst  dort,  wo  sie  durch  das  Brennglas  der  christlichen  Botschaft  ihr  Licht  empfÉngt.  Dieses
Licht scheidet das Vorletzte vom Letzten, das VergÉngliche vom Ewigen. Dabei betrachtet er
den  Menschen als  ein  GeschÄpf Gottes, das  in  irgendeiner  Weise durch  seine  Natur auf  seinen letzten Seinsgrund in Gott bezogen ist, wie sehr es auch jetzt von ihm entfernt sein mag.
Kein  noch  so  tiefsitzender  Zweifel  an  der  Existenz  Gottes  kann  ihm  dieses  Bezogensein  auf
seinen letzten Seinsgrund rauben.
Es  werden  fast  ausschlieàlich  individuelle  und  typische  menschliche Situationen,  aber  kaum
politische Probleme aufgegriffen! Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse in jener Zeit
fehlen  (von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen)  fast  vollstÉndig. In  einer  einzigen  Predigt  behandelt  Tillich  die  Probleme  der  Industrialisierung  und  der  Fabrikarbeit,  ansonsten  Åberwiegt in Moabit das Allgemeinmenschliche, das Existenzielle.
Der Gesamtduktus seiner Predigten lÉsst nicht vermuten, dass er zu jener Zeit ein ausgeprÉgt
politisches Interesse  an der Verbesserung der sozialen Lage der arbeitenden BevÑlkerung gehabt hÅtte,  eher  schon  an  der  Hebung und  Festigung  des  religiÄsen  Bewusstseins  seiner  ZuhÄrer und sicher auch an der VerÉnderung ihrer  persÄnlichen  Einstellung zu den vom dama-
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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ligen  BÅrgertum  meist  etwas  verÉchtlich  behandelten  Menschen  in  den  HinterhÄfen  Moabits,  wobei  davon  auszugehen  ist,  dass  zu  Tillichs  PredigthÄrern  weniger  die  reichen  Fabrikbesitzer gehÄrten, die meist ganz woanders wohnten, als vielmehr die einfachen BÅrger und
die AngehÄrigen der arbeitenden BevÄlkerung, die sich durch ihre NÉhe zur Kirche einerseits
von  den  verelendeten  Massen positiv  abzuheben  suchten,  andererseits  ihre  soziale  Verantwortung durchaus sahen.
Ein  bestimmter  politischer  Standpunkt  etwa  links  von  der  konservativen  Mitte ist  in  Tillichs
Predigten jener Zeit fÅr mich an keiner Stelle deutlich erkennbar, so dass ich seinen spÉteren
"religiÄsen  Sozialismus"  eher  als  den  Versuch  verstehen  muss,  einen  neuen  theologischen
Rahmen  zu  schaffen  fÅr  die  Auseinandersetzung  mit  den  schwerwiegenden  existenziellen
Krisen der Menschen wÉhrend und nach dem 1. Weltkrieg.
Vielleicht  sollte  dieser  „Sozialismus“  eine  Vision  sein,  um  die  breiten
Schichten  des  BÅrgertums  fÅr  eine  staatliche  und  gesellschaftliche
Neuorientierung  zu  gewinnen  jenseits  des  heraufziehenden  rechtsradikalen  Extremismus.  Aber  vermittelnde  Denkweisen,  wie  die  Vernunft  selbst,  haben  es  in  Zeiten  der  Extremen  immer  schwer,  sich
GehÄr  zu  verschaffen.  Brot  und  Arbeit  waren  gefragt,  nicht  neue
Gesellschaftsmodelle. Die tragischen  sozialen  Verwerfungen,  die  mit
dem  Verlust  der  traditionellen  Wertvorstellungen  und  Hierarchien
fÅr  das  Nach-Kriegs-BÅrgertum  seit  der  Abschaffung  des  Kaiserreiches  einhergingen  und  groàe  Teile  der  notleidenden  BevÄlkerung
den  Extremen  in  die  Arme  trieben,  entwickelten  eine  Dynamik,  die
sich  durch  aufklÉrerische  Predigten  und  VortrÉge  kleinerer  Kreise
innerhalb der Kirche offenbar nicht mehr stoppen lieà.
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PersÄnliche EindrÅcke von Pfarrerin Annette Reichwald-Siewert
33 JAHRE IN DER ERLÉSERGEMEINDE
„Moabit ist  ein  steiniges,  hartes  Pflaster,  um GlaubenspflÅnzchen  zu  sÅen,  zu  pflegen und zu
ernten!“
Dieser  Satz  wurde  Åber  Jahre  hinweg  jedem  Theologen/  jeder  Theologin  mit  auf  den  Weg
gegeben, der/ die sich zwischen Hansaufer, Huttenstraàe und DovebrÅcke im Einzugsbereich
der ErlÄsergemeinde hoffnungsvoll an die Arbeit machte.
Als ich Ende 1977 in die Gemeinde kam, waren die drei bisherigen Pfarrer (Feldt, GÅlzow und
HÅfner)  gerade  zu  neuen  Ufern  aufgebrochen  und  eine  Pfarrstelle  war  sogleich  dem  Sparzwang  zum  Opfer  gefallen.  So  starteten  der  junge  Pfarrer Fisch  und  ich  – ebenfalls  BerufsanfÉngerin  – pfarramtlich  neu.  Wir waren  voller  Tatendrang  und  unternahmen  z. B.  mit fast
50  Konfirmanden  eine  Reise.  In  den  folgenden  Jahren  kÅmmerte  sich  Pfarrer Fisch  im  Jugendhaus  der  Gemeinde in  Alt-Moabit   vor  allen  Dingen um den  Fortgang  der  Jugendarbeit.
Dort  wurde  von  zwei  PÉdagogen eine  „halboffene  Arbeit  mit Jugendlichen“  angeboten  und
auch viele Partys gefeiert.
Ich  selbst  setzte  einen  Schwerpunkt  in  den  Angeboten  fÅr  die  „mittlere  Generation“,  die  zu
alt fÅr das Jugendhaus, aber dennoch zu jung fÅr  die Seniorenarbeit war. Es entstanden zwei
neue Kreise fÅr dieses Klientel: der „Hausfrauentreff“ und der „BerufstÉtigentreff“. Bis heute
gibt  es  – von  meinen  jeweiligen  Kollegen  verantwortet  – Angebote in  der  Erwachsenenbildung.  Zwischenzeitlich  hieà  dieses  Angebot  „GesprÉch  mit der  Bibel“  (Pfarrer Kleiner),  dann
wurde  es  Äkumenisch  ausgeweitet  (Pfarrer Bartsch)  und  zur  Zeit  bietet  Pfarrer Massalsky
den  „Arbeitskreis  fÅr  Theologie  und  Kirche“  neben  einem  Literaturkreis  und  dem  HebrÉischkurs an.
Aus den 80ziger Jahren  erinnere  ich mich besonders gern an die mit einigen Ehrenamtlichen
fantasievoll  gestalteten  Gemeindeveranstaltungen  zu  den  Friedenswochen,  sowie  die  AnfÉnge  der  aufwendigen  Straàenfeste  der  Gemeinde  unter  Mitarbeit  zahlreicher  Gemeindemitglieder und den Mitarbeitern aus Jugendhaus, Miniclub und den beiden Kitas.
In  den 90ziger Jahren  rief  ich  dann zusammen mit Pfarrer Teschke (St.  Johannis)  und Pfarrer
Willms  (Kaiser-Friedrich-GedÉchtnis)  die  Åbergemeindlichen  Themenreihen  zu  Fragen  von
Glauben  und  Gesellschaft  ins  Leben.  Ab  der  Jahrtausendwende  kamen  die  Kontakte  zum
Quartiersmanagement  Moabit  West  hinzu.  Es  gelang,  bei  einigen  Gemeindemitgliedern
durch Besuche in Moscheen in Moabit das Interesse am interreligiÄsen Dialog zu wecken.
Seit  der  VereinsgrÅndung des  „Zentrums  fÅr  interreligiÄsen  Dialog in  Moabit“ (2005),  versuche  ich  dort  mitzuarbeiten  und  den  Kontakt  nicht  abreiàen  zu  lassen.  Angesichts  der
demographischen  Entwicklung  in  unserem  Gemeindegebiet wird diese  Arbeit in  Zukunft  immer mehr Bedeutung  erlangen.  Es  gab  bereits  zahlreiche  gemeinsame  Veranstaltungen  mit
den Moabiter Moscheen Vereinen, um Kultur  und Religion besser kennen zu  lernen  und um
sich auf „gute Nachbarschaft“ zu begegnen.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Die  Zusammenarbeit  mit  den  mittlerweile  fusionsbedingt  nur  noch  zwei  katholischen  Gemeinden (St.  Ansgar/ St  Laurentius  und  St.  Paulus)  drÅckt  sich  in  der  Gestaltung  des  Kreuzweges, des Weltgebetstages und des Buàganges aus.
Als einen meiner Schwerpunkte habe  ich  vor 30 Jahren  die Arbeit mit Kindern  neu gestaltet.
Der  Kindergottesdienst  war  mit  Weggang  meines  VorgÉngers  und  wegen  der  beruflichen
VerÉnderung  der  Ehrenamtlichen  zum  Erliegen  gekommen.  Nach  einigen  fehlgeschlagenen
Versuchen  parallel  zum  Gottesdienst Kinder  zu  sammeln,  begann  ich  mit der  „Kinderkirche“
im  Kindergarten,  sowie  in  der  griechischen  Kinderstation  in  der  Helmholtzstrasse  und    dem
Miniclub,  der  im  Jugendhaus  Alt-Moabit  untergebracht  war.  Die  beiden  letzteren  Einrichtungen    mussten  wir  aus  finanziellen GrÅnden  leider  Anfang  der  90ziger  Jahre  aufgeben,
wÉhrend  die  Kita  am  Wikingerufer  sich  mit  Integrationsarbeit  fÅr  Behinderte  weiterentwickeln konnte und bis heute ein wichtiger Bestandteil der Gemeinde geblieben ist.
SpÉter  kamen  die  Nachmittagsangebote  der  Kinderkirche  fÅr  SchÅler  hinzu,  die in  zeitlicher
Kombination  mit  den  zahlreichen  KinderchÄren,  eine  gute  Gelegenheit  bieten,  Kinder  mit
dem  christlichen Glauben und Werten spielerisch bekannt zu machen.
Seit  mehr als  25  Jahren  treffe  ich  auf  diese  Weise in  5-6  Gruppen  Kinder  im  Alter  von  4-12
Jahren  zum  Spielen,  Basteln  und  Lernen.  Dazu gehÄrten  lange  Zeit  auch  AusflÅge und  Besuche von Ausstellungen und Museen. Seit ich  im Jahre 2007 in der Nachbargemeinde „Moabit
West“  (fusionierte  Heilands- und  Reformationsgemeinde)  mit  der  HÉlfte  meiner  Dienstzeit
arbeite,  sind  diese  Extras  aus  zeitlichen  GrÅnden  leider  nicht  mehr mÄglich. Aber  die  samstÉglichen  Kinderkirchtage  (einmal  jÉhrlich)  bestehen  immer  noch;  seit  10  Jahren  sind  die
Kinderbibelwoche in  den Winterferien (gemeinsam  mit der Heilige  Geist Gemeinde) und seit
sechs Jahren  die  åbernachtung  im  Kirchraum  (gemeinsam  mit der  Gemeinde  Moabit West)
hinzugekommen.
NatÅrlich  wÉre  auch  aus  den  anderen  Arbeitsfeldern  eine  Menge  zu  berichten.  Schlieàlich
habe  ich  ca.  800 (ohne  die  zahlreichen  Passions- und  Orgelandachten)  Gottesdienste  in  der
ErlÄserkirche  mitgestaltet,  darunter  viele  schÄne  Familiengottesdienste  (unter  Beteiligung
der  Kinderkirche  und  der  zahlreichen  KinderchÄre)  erlebt.  Auch  Jugendgottesdienste  und
Tauferinnerungen, sowie  KonfirmationsjubilÉen zeugten immer  wieder von einer lebendigen
Gemeinde.  Bei  mehr  als  1.000  Beerdigungen  kann  ich  mich nicht  mehr  an  jeden  einzelnen
Grabgang erinnern, aber  manche  Menschen und  Schicksale  stehen  mir noch  lebhaft  vor  Augen.
Auch  in  der  Seniorenarbeit  erlebte  ich  so  manch  besondere,  thematische  Stunde  sowie
Feiern  zu  den  Festtagen  des  Kirchenjahres. In  diesem  Bereich  gab  es  auch  einige  personelle
Wechsel  nicht  nur  durch  die  Senioren  selbst,  sondern  auch  von  denen,  die  die  Seniorenarbeit  gestalteten.  Nach Pensionierung  der  letzen  hauptamtlichen  Mitarbeiterin  in  diesem  Bereich  (Frau  Streicher)  ist  es  immer  mehr  Aufgabe  der  Pfarrer  (unterstÅtzt  von  Ehrenamtlichen) geworden, den Seniorenclub zu begleiten.
åber die Jahre haben alle meine „festen Kollegen“ von Pfarrer Fisch Åber Pfarrer Kleiner und
Pfarrer  Bartsch  bis  hin  zu  Pfarrer Massalsky  dort  viele  Kontakte  knÅpfen  und  segensreiche
Arbeit  leisten  kÄnnen.  Auàerdem  waren  in  den  drei  Jahrzehnten  meines  Dienstes  in  der
Gemeinde  ein  Reihe von  Pfarrer/innen  aushilfsweise  in  der  ErlÄsergemeinde  tÉtig:  Pastorin
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Knapke,  Pfarrer  Michel,  Pfarrerin Rogatzki,  Pfarrerin Appel,  Pfarrerin  Kruse  und  Pfarrer
KÅhnle vertraten mich monatsweise in den Jahren meiner FamiliengrÅndung.
Ein  jeder  hat  sein Bestes  gegeben,  die  Gemeinde  interessant  und  engagiert  sein  zu  lassen.
Doch  leider  musste  trotzdem  die  Zahl  von  ehemals  27  hauptamtlichen  Mitarbeitern  (einschlieàlich  Kitas  und  Jugendhaus)  nach  und  nach  auf  12  (ohne  die  2  Pfarrer)  reduziert  werden.
Jetzt stehen auàer den 10 Mitarbeitern/innen in  der Kita lediglich  noch die Kirchenmusikerin
(Frau  Straakholder)  und  der  Hauswart (Herr  Wendt) fÅr  die  vielseitige  Arbeit zur  VerfÅgung.
Wenn  wir  uns  auch  als  kleine  Mitarbeiterschaft  bemÅhen,  den  zahlreichen  Anforderungen
gerecht  zu  werden,  so  ist  es  doch  offensichtlich,  dass  eine  Konzentration  der  KrÉfte  notwendig  wird.  Im  letzten  Jahr  haben  wir  einen  neuen  Gemeindekirchenrat  gewÉhlt,  der tatkrÉftig die vor uns liegenden Aufgaben angehen mÄchte.
Deshalb  bin  ich  Åberzeugt davon, dass die Mitglieder der  ErlÄsergemeinde auch im  Sprengel
Tiergarten,  den  wir  mit den  vier  Nachbargemeinden  seit  dem  1.1.2011  bilden,  einen  festen
Platz  innehaben  werden.  Zumal  die  Gemeinde  mit  der  Kirchenmusik  und  der  sozialdiakonischen  Arbeit  Åber  die  Gemeindegrenzen  hinaus  bekannt  ist  und  auch  mit  ihrem  Bildungsprogramm fÅr Erwachsene und Kinder einen wichtigen Auftrag fÅr Tiergarten wahrnimmt.
Pfarrerin Annette Reichwald-Siewert, Januar 2011
AuÑen- und Innenansicht der ErlÄserkirche als GemÖlde auf einer Urkunde zur Goldenen
Konfirmation von 1967.
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Wolfgang Massalsky: Mein Dienst in der ErlÄsergemeinde
(Mai 1997- November 2011)
Seit  1.  Mai  1997  an  der  ErlÄserkirche  – an  Himmelfahrt
hielt  ich  dort  „meinen“  ersten  Gottesdienst,  seit 1.  7.  1997
als  Inhaber  der  sog.  ersten  Pfarrstelle  tÉtig,  ermÄglicht
durch  den  Tausch  mit  meinem Vorgänger  Pfarrer  Bartsch,
der seinerseits  an  meine  frÅhere  Kirche  wechselte.  Die
offizielle  AmtseinfÅhrung fand  durch  die  damalige  Superintendentin  von  Tiergarten-Friedrichswerder  Pfarrerin  Martina Gern am 31. August in der ErlÄserkirche statt.
Die  Schwerpunkte  meiner  Arbeit  bildeten  im  Rahmen  der
Arbeitsteilung  zwischen  Pfarrerin  Reichwald-Siewert  und
mir die Jugend- und Konfirmanden- sowie die Erwachsenenarbeit. Zum damaligen Zeitpunkt
gab  es  für  die  Jugendarbeit  noch  unser  Jugendhaus  „Die  Zinse“,  Alt-Moabit 71,  das  wir aber
1998  wegen  mangelnder  Auslastung  und  wegen  der  zu  erwartenden  hohen  Sanierungskosten an die Landeskirche zurückgaben.
Die  Konfirmandenarbeit  musste  von  da  an  im  Gemeindehaus  untergebracht werden,  seit
MÉrz  2002  besaàen  wir  fÅr  die  Jugendlichen  (Konfirmanden)  eine  eigene  Jugendetage  im
Gemeindehaus. Jahr  für  Jahr  fanden  am  Pfingstsonntag  unsere  Konfirmationen  statt.  Hier
wie auch  sonst  war für  mich die  enge  Zusammenarbeit  mit unserer  Kantorin  eine  sehr  positive  Erfahrung. Vor zwei  Jahren  vereinbarte  ich  mit Pfarrerin  Sigrid  Neubert im  Rahmen  der
Zusammenarbeit  in  der  Konfirmandenarbeit  mit Moabit West ein  neues  System  mit Jahr  für
Jahr  abwechselnden  Konfirmationen  sei  es  in  „Heiland“  (wie  dieses  Jahr)  oder  in  „ErlÄser“
(wie  nÉchstes  Jahr).  Ab  2012  muss der  Regionalrat  eine  neue  LÄsung  finden,  wenn  alle  Gemeinden der Region gemeinsam am Konfirmandenunterricht beteiligt sein sollen.
Schon  im  Winter  1997/98  begannen  wir  – auf  Initiative  von  Edda  Straakholder  – mit  der
SpÉtcafáarbeit  fÅr  Obdachlose,  die  bereits  an  mehreren Standorten  in  Tiergarten  betrieben
wurde, nur  bei  uns  noch  nicht.  Mein Motto war:  Ohne für  die  Ärmsten der  Armen etwas  zu
unternehmen,  sind  unsere  Gottesdienste  oft  nur  hohle  Rhetorik,  besonders  wenn  es  um
soziale  Fragen  geht,  auch  wenn  es  anstrengend  ist,  jede  freie  Minute für  die  Gemeinde  unterwegs  zu  sein,  um  Essen  abzuholen und  es  keineswegs  nur  immer  erfreuliche  Erlebnisse
und dankbare Menschen gibt.
Andere  Arbeitsfelder  kamen  dazu.  Der  Seniorenkreis,  der  anfangs  im  Wechsel  mit  Frau
Reichwald-Siewert  von  mir  mit  betreut  wurde,  wurde  nach  dem  Ausscheiden  von  dessen
Leiterin,  Frau  Streicher,  neben  dem  Bibelcafé,  das  ich  inzwischen  gegründet  hatte,  mein
zweites  Standbein  im Bereich  der  Seniorenarbeit,  deren  inhaltliche  Arbeit  sich  im  Laufe  der
Zeit  sehr  erweitert  hat.  Die  Mitarbeit von  Frau  Urban  und  seit  ihrem  Ausscheiden  von  Frau
Weber und Frau Babbel möchte ich besonders hervorheben.
1998  organisierten  wir  mit  einigen  unserer  Konfirmanden/-innen  sowie  Frau  Straakholder
und  Jürgen  Wendt eine  Fahrt  nach  Burgund  mit Zwischenstopp  in  Freiburg.  Der Besuch  von
Taizé  bzw. der  dort  ansässigen  Communauté  de  Taizé  und  ihrer  Jugendarbeit  bildete  den
Höhepunkt.  Beeindruckend  für  mich  war  eine  kurze  Begegnung  mit  dem  damaligen  Leiter
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dieser  Bruderschaft,  Frère  Roger  Schutz.    Es  waren für  uns  alle  unvergessliche  Stunden.  Das
Zelten  auf  einem  Campingplatz  in  Cluny  in  der  Nähe  von  Taizé  hatte  dabei  seinen  besonderen Reiz...
Die  Rückfahrt  über  Memmingen,  meiner  Geburtsstadt,  war  einerseits  sehr  abwechslungsreich,  andererseits eine große Strapaze. Wir waren alle froh,  nach einer ereignisreichen  Woche  gut  und  heil  wieder  in  Berlin  zurückgekehrt  zu  sein. Seitdem  beteiligten  sich  die  Konfirmanden  mit  ihrem  eigenen  Programm  an    den  Kinderchor-Freizeiten  der  Gemeinde  in
Dahme sowie an den Wochenendrüstzeiten in Halbe oder in Ruhlsdorf.
Im  nächsten  Jahr  1999  starteten  wir  unsere  Gemeindefahrten,  die  sich  nun  an  alle  Gemeindeglieder  richteten. Wir begannen mit einer Reise nach Auschwitz, wobei wir in  Breslau  und
hauptsächlich  in  Krakau  Station  machten.  Daran  nahmen  junge  und  ältere  Leute  aus  der
Gemeinde teil.  Es war in jeder  Hinsicht ein beeindruckender, unvergesslicher Besuch, besonders den  Rundgang  auf  dem  GelÉnde  von  Auschwitz,  auf  dem  so  viele  Menschen  auf  so
schreckliche  Weise  von  Deutschen  und  ihren  Helfern  ermordet  wurden,  wird  niemand  von
uns je vergessen kÄnnen.
Mit diesen  Gemeindefahrten  haben  wir inzwischen u.  a.  Paris,  Flandern  mit Brüssel,  Brügge
und  Gent  kennengelernt; zweimal  waren  wir  in  Italien:  Rom,  Venedig,  Padua,  Vicenza.  Außerdem waren wir in  Budapest. Darüber hinaus haben wir in  Thüringen  und Sachsen die Lutherstätten  besucht  und  kennengelernt.  Dieses  Jahr  geht  es nach  England,  unter  anderem
stehen  London  und  Canterbury  auf  dem  Programm.  Für  viele  Ehrenamtliche  und  andere
Gemeindeglieder sind diese von uns geplanten Fahrten in Gemeinschaft mit uns die einzigen
Großereignisse,  die  sie  sich  leisten  können  und  eine  schöne  Abwechslung  im  manchmal
recht  beschwerlichen  Alltag.  Auch  so  entsteht  und  festigt  sich  Gemeinde-Bewusstsein  und
das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit.
An  Fahrten  und  Ausflügen  standen  regelmäàig  auf  dem  Terminkalender  der  Gemeinde:
Wanderungen am 1. Mai und am 3. Oktober,   Ausflüge am Pfingstmontag nach Gottesdienst
und  gemeinsamem  Mittagessen.  Andere  Fahrten  kamen  dazu,  besonders  seitdem  unsere
Gemeinde mit Moabit West zusammenarbeitet, die gemeinsame Gemeindefahrt im  Bus u.a.
nach  Tangermünde oder  zur  Geburtsstadt von  Paul  Gerhardt, Gräfenhainichen und  in  das  in
der Nähe gelegene Schloss Oranienbaum und demnÉchst nach Neuzelle.
Der  Äkumenische  „Arbeitskreis  für  Bibel  und  Theologie“,  zeitweise  auch  „für  Theologie  und
Kirche“  genannt, sollte  den  theologisch  und  biblisch  interessierten  Erwachsenen  in  und  außerhalb  unserer  Gemeinde  die  Möglichkeit  bieten,  sich  in  besondere  theologische
Fragestellungen  einzuarbeiten.  Höhepunkte  dieser  Arbeit  waren  die  Beschäftigung  mit
Schleiermachers  Reden  Über  die  Religion  und  Pannenbergs  Schrift  „Was  ist  der  Mensch?“
Darin  eingearbeitet  hatten  sich  aus  Freude  an  diesem  Stoff  zwei  Chormitglieder.  Es  waren
eindrucksvolle  Abende.  Aber  auch  die  Beschäftigung  mit  der  archäologischen  Seite  der
Entstehung der  Bibel  anhand  von  Tondokumenten  war  ein  gelungenes  Beispiel  dafür,  was
für Potentiale es in unseren Gemeinden zu entdecken gibt.
Den Hebräisch-Kurs, zu dem anfangs auch Mitglieder des Arbeitskreises gehörten, besuchten
zuletzt  eine  Ärztin  und  ein  angehender  Jurist,  auch  das  eine  interessante  Erfahrung.  Dieser
Kurs ist aber in diesem Jahr beendet worden. Bei Bedarf kann er jedoch fortgesetzt werden.  
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Ferner  ist  hier  auch  der  Literaturkreis  zu  nennen,  den  es  seit  vielen  Jahren  gibt,  vereinzelt
auch mit  Theaterbesuchen  verbunden.  Mit  seiner  Auseinandersetzung  mit  zeitgenÄssischer
und  wichtiger  klassischer  Literatur  der  Moderne,  aber  auch  mit  beliebten  Krimis,  gab  und
gibt er den Teilnehmern   Anregungen, wie mit Literatur umzugehen ist.  Gemeinsames Lesen
ausgewÉhlter  Passagen  hilft  in  das  Thema  einzudringen  und  es  selbstÉndig  zu  bearbeiten.
Mit  Andrea  von  Wittken  haben  wir  nun  eine  kompetente  Literaturwissenschaftlerin  in  unserem Kreis.
Was  die  éffentlichkeitsarbeit  angeht,  so  haben  Edda  Straakholder  und  ich  nach  dem  Ausscheiden  unseres  frÅheren  KÅsters  Harald  MÄàner uns  sehr  bemÅht,  den  Gemeindebrief  in
einer  guten,  auch  inhaltlich  prÉsentablen  Form  alle  zwei  bis  drei  Monate, insgesamt  5  Ausgaben  pro  Jahr  mit  einer  StÅckzahl  von  jeweils  4500  Exemplaren  fertigzustellen,  d. h.  zu
schreiben  und  zu  drucken.  Dann  muss er  noch  gefaltet  und  in  die  Haushalte  der  meisten
Straàen unserer Gemeinde verteilt werden. Das ist eine Arbeit, fÅr die wir vielen Helferinnen
und Helfern dankbar sind.
Eine  wie  mir  scheint  sehr  erfolgreiche  Sache  sind  im  Laufe  der  Jahre  die  „stadthistorischen
Rundgänge“  geworden,  die  meine  Frau, Renate  Benning-Massalsky, angeboten  hat  und  die
viel  Zuspruch  auch  Åber  unsere  Gemeindegrenzen  hinweg  erfahren  haben.  Viele  AusflÅge,
SpaziergÉnge in und um Berlin, haben uns unter ihrer  fachkundigen Führung das Neuland im
Osten nach der Wende und manch Unbekanntes auch im West-Berliner Stadtbereich und im
Umland von ganz Berlin bis nach Oranienburg und Sachsenhausen erschlossen.
Außerhalb  der Gemeindearbeit  im  engeren  Sinne,  war  ich  Åber  Jahre  in  der  Gemeindeverbundratsarbeit  engagiert  (zusammen  mit Frau  Geschermann), und  seitdem  wir vor  gut  zwei
Jahren  in  unserer  Region  darangehen,  die  Zusammenarbeit  aller  Gemeinden  in  der  Region
Tiergarten zu verbessern, auch in  der Steuerungsgruppe sowie  im  Regionalrat des Tiergartener  Pfarrsprengels.  Auàerdem bin  ich  fast  von  Anfang an  im  Haushaltsausschuss des  neugebildeten  Kirchenkreises  Berlin  Stadtmitte  dabei,  zuletzt  als  einer  der  beiden  Stellvertreter des Ausschuß-Vorsitzenden
gemeinsam  mit Pfarrerin Monika Matthias. Daneben  half  ich  im  Kreis  der  Wirtschaftsprüfer
des Kirchenkreises unter Leitung von Pfarrer (jetzt i. R.) Oprotkowitz mit.
In den letzten drei Jahren hielten uns die Entwicklungen in unserer gemeindeeigenen Kindertagesstätte  in  Atem.  Der  Weggang  von  Frau  Cramer  war  nur  schwer  zu  verkraften,  die  nur
schwer  nachzuvollziehenden  Schwierigkeiten  der  alten  Stammmannschaft  mit  ihr  und  mit
der  neuen  Leitung,  Frau  Meyer,  schufen  viele  Probleme,  auch  rechtlicher  Art. Zur  Vermeidung von Dauerquerelen sahen wir uns, nachdem wir im  letzten  Jahr  noch aus eigenen Kräften  den  Hof  des  Gemeindehauses, den  die  Kita  mit nutzt,  sanieren  und  neu  gestalten  konnten,  gezwungen,  unsere  Kita,  die  es  mit Unterbrechungen  und  in  unterschiedlichen  Formen
fast  100 Jahre  bei uns gegeben hat, an den Kirchenkreis als neuen Träger abzugeben. Es war
die  für  mich persönlich  schmerzlichste  Entscheidung,  die  ich  in  diesen  Jahren  meines Dienstes in „Erlöser“ mit vorzubereiten und mit zu verantworten hatte.
Abschließend  danke  ich  all  denen,  die  in  unserem  GKR  treu  und  zuverlässig  mitgearbeitet
haben, besonders  dankbar bin  ich  für  den seit dem letzten  Jahr  tätigen  Gemeindekirchenrat
aus  vielen  kompetenten  Gemeindegliedern,  der  die  Geschicke  der  Gemeinde  weiterhin  gut
leiten wird. Und besonders danke ich  denen, die über viele Jahre hinweg so zahlreich unsere
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Gottesdienste  und  Orgelandachten  besucht  haben  und,  wie  immer  wieder  auch  versichert
wurde,  für  sich  persÄnlich  aus  Gottes  Wort  und  der lebendigen  Verkündigung  viel  mitnehmen konnten.
Pfarrer Wolfgang Massalsky
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Wir engagieren uns: Moabiter Erklärung
Seit  2002  begannen  sich    Vertreter  /innen  und  Gemeindeglieder  aus  vorwiegend    christlichen,  freikirchlichen  und  muslimischen  Gemeinden  zum  Austausch und  zu  gegenseitigen
Besuchen zu treffen. Die Koordinierung Åbernahm hierbei das Quartiersmanagement Moabit
West.
Nach  einer  Reihe  von  gegenseitigen  Gemeindebesuchen,  Veranstaltungen  zu  bestimmten
Themen  sowie  gemeinsamen  Besuchen  von  muslimischen  und  christlichen  Vertretern
/Vertreterinnen    in  Oberschulen Moabits, kamen  weitere  Vertreter/innen aus  anderen  Religionsgemeinschaften  zum  Treffen  der  Religionsgemeinschaften    hinzu  (jÅdisch,  buddhistisch
und Rastafari).
Nach  fÅnfjÉhrigem  Bestehen  des  interreligiÄsen  Dialogs  in  Moabit  und  der  Initiierung  zahlreicher  Projekte  wurde  2007  das“  Zentrum  fÅr  interreligiÄsen  Dialog  Moabit“  gegrÅndet
(ZID). In seinem VerstÉndnis vom friedlichen Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen
in  Moabit bezieht  sich  das  ZID  auf  die  Moabiter  ErklÉrung  „FÅr  ein  friedliches  Zusammenleben  in  Moabit“,  die  Pfingsten  2005  von  elf  verschiedenen  Religionsgemeinschaften  anerkannt  wurde  und  nachstehend  abgedruckt ist. (Sie  ist  auf  Wunsch  der  Muslime  sprachlich
bewusst  einfach  gehalten,  damit  sie  unÅbersetzt  von  Migranten/innen    problemlos  aufgenommen werden kann.)
Pfarrerin Annette Reichwald-Siewert
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Aus der Gemeindearbeit
Jugendarbeit
Am  14.  April  1973 konnte  eine  Griechische  Kinderstation  eingeweiht  werden,  die  20  Jahre
lang  einen  wichtigen  Beitrag  zur  Integration  auslÉndischer  Kinder  leistete.  1993  musste  sie
aufgegeben werden, da der Hausbesitzer kÅndigte.
Am 22. Januar 1974 wurde ein Jugendhaus  in dem Éltesten, unter Denkmalschutz stehenden
Haus  Moabits  in  der  Straàe  Alt-Moabit  70/71  an  der  Ecke  Zinzendorfstraàe    bezugsfertig,
wobei  Junge  Gemeinde  und  Gemeindemitglie der  intensiv  bei  der  Restaurierung  geholfen
hatten. Deutsche, arabische  und tÅrkische  Jugendliche  fanden  hier  25 Jahre  lang  Betreuung.
Zinse: „Das bedeutet…offene Jugendarbeit, offen besonders fÅr die benachteiligten Jugendlichen“, hieà es aus Anlass des 75 jÉhrigen JubilÉums von ‚ErlÄser’  1986 in den Mitteilungen.
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Nach  Auslaufen  des  ersten Nutzungsvertrages  bis  1998  musste  die  Einrichtung  geschlossen
werden  aus  Mangel  an  Betreuern  und  wenig  Interesse  deutscher  Jugendlicher. Generell
schÉtzt  die  Gemeinde  ein,  dass  es  heute  weit  weniger  Jugendprojekte  als  noch  vor  Jahren
gibt, die meisten mussten wegen Geldmangel eingestellt werden.
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75 Jahre ErlÄserkirche. Mitteilungen fÅr Juni/ August 1986, S. 7.
Programmheft der „Zinse“, dem Jugendhaus der ErlÄsergemeinde.
Es bestand von 1974 bis 1998.
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Erinnerungen an die Junge Gemeinde
von Rolf Jaenke
Es  ist  nunmehr  60  Jahre  her,  dass  ich  in  der  ErlÄserkirche  von  Herrn  Pfarrer  Streckenbach
getauft  worden bin.  Im  Alter von  fÅnf Jahren  wurde ich  den  Kindergarten  der  Gemeinde geschickt und durfte dort einige Zeit bis zu meinem Wechsel in die Gotzkowsky-Schule verbringen.  An  Ostern  1964  fand  die  Konfirmation  durch  Pfarrer  Dr. Schulz  statt. Bereits  seit 1962
war  ich  Mitglied  der  Jungen  Gemeinde.  FÅr  die  Jugendarbeit  waren  FrÉulein  Ingeborg  Graf
und Pfarrer Dietrich Altmann zustÉndig, fÅr die Kirchenmusik Kantor Johannes Carl.
Freizeiten  wurden  unter  anderem  im  ehemaligen  Jugendhaus  sowie  im Zeltlager  im  Johannesstift  in  Spandau  verbracht.  Eine  Dampferfahrt  der Gemeinde  wurde  jÉhrlich  durchgefÅhrt. Seit  Beginn  der  sechziger  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  gab  es  die  Zeitschrift  der
Jungen Gemeinde "DIE LUPE", zunÉchst mit einer monatlichen Auflage von 80 Exemplaren in
hektografierter  Form  – nur  fÅr  die  Jugendlichen  der  Kreise.  Am  Ende  der  sechziger  Jahre
betrug  die  AuflagenhÄhe 200,  ja  sogar  bis  zu  500  StÅck.  Die Zeitschrift  wurde gedruckt,  zum
Teil durch Anzeigen finanziert und an Inserenten und Abonnenten verteilt oder versandt.
Zu Zeiten von Dietrich Altmann wurden von den Jugendlichen  TheaterstÅcke aufgefÅhrt, mit
"Wasser fÅr Catanias" (ein StÅck, das aus der Aktion SÅhnezeichen hervorging) waren wir mit
einem VW-Bus auf Tournee in Niedersachsen. Mit Herrn Altmann fÅhrte  uns eine Reise nach
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Coventry und London. In  Coventry wohnten wir in  Gastfamilien, kurze Zeit spÉter hatten wir
die Jugendlichen von dort in unsrer Gemeinde zu Gast. Nachdem Dietrich Altmann 1968 eine
Pfarrstelle  in  London  Åbernommen  hatte  (ich  habe  ihn  dort  einmal  besucht),  fÅhrte  Pfarrer
Harmut HÅfner seine Arbeit fort.
Unter seiner  Regie  wurde das  StÅck  "Der  Besuch  der  alten  Dame" von  Friedrich  DÅrrenmatt
im  Jugendhaus  in  Alt-Moabit  zur  AuffÅhrung  gebracht. Mit  Hartmut  HÅfner  gingen  die  Jugendreisen  nach  Schleswig-Holstein  und  zweimal  nach  SÅdfrankreich.  Als  Herr  HÅfner  nach
Chile  ging, erklÉrte  sich Burghard  Kullick  bereit,  die  Leitung  der  Theatergruppe  zu  Åbernehmen. Unter  seiner  Regie  wurden  pro  Jahr  zwei StÅcke  zur  AuffÅhrung  gebracht. Auch  bei
Straàenfesten war die Theatergruppe mit KasperlestÅcken prÉsent.
Ein Jugendprojekt
Von Larissa Weber und Jugendprojektgruppe
Menschen in Moabit. Woher kamen und kommen sie?
Menschen in Moabit, das sind wir!
Das Projekt
Seit  MÉrz 2008  hat  sich  die  Projektgruppe  mit dem  Thema  Einwanderung  in  unserem  Bezirk
beschÉftigt.  Unser Ergebnis  prÉsentieren  wir hier  in  unserer  Ausstellung.  Migration war und
ist  fÅr  Moabit  immer  ein  wichtiges  Thema  und  dem  sollten  sich  die  Jugendlichen  bewusst
werden.  Daher  haben  wir  uns  damit  beschÉftigt  und  BÅcher  gewÉlzt,  im  Internet  recherchiert und Exkursionen in unserer Nachbarschaft gemacht.
So waren wir bei direkten Nachbarn unserer Gemeinde und haben sie befragt, was sie so von
Moabit  halten  und  wie  sie  hierher  gekommen  sind.  Wir  waren  aber  auch  bei  Karame  e.V.,
einer  deutsch-arabischen Jugendeinrichtung  in  der Wilhelmshavener Straàe. Dort haben wir
zwei  nette  Nachmittage mit arabischen  und  tÅrkischen  MÉdchen verbracht  und  hatten  eine
Menge  Spaà. Bei  der  Erarbeitung  der  Ausstellung  haben  wir  viele  neue  Erfahrungen  sammeln kÄnnen und neues Wissen angehÉuft. Wir wÅnschen viel Spaà beim lesen!
EindrÅcke aus der Projektgruppe
Uns  hat  die  Idee  und  das  interessante  Thema  an  sich  gefallen  und  das  wir  mit  T-Shirts  und
Kugelschreiber  ausgestattet  wurden.  SchÄn  war  auch  das  GemeinschaftsgefÅhl,  z.B.  beim
auch  beim  Eis essen.  Besonders  toll  war  es,  das  wir  mehr  Åber  Migration  erfahren  haben.
Mitnehmen  tun  wir  viele  neue  Erfahrungen  und  Erlebnisse,  Wissen  Åber  andere  Kulturen,
eine  andere  Sicht  auf  Migranten  und  dass  Wissen,  wie  man  eine  Ausstellung  organisiert.
Schade  fanden  wir, dass  es  manchmal stressig  war sich  am  Projekt,  neben  Schule  und  Hausaufgaben zu  beteiligen, dass es manchmal schwer war Informationen  zum Thema zu finden,
dass  wir  die  Idee  mit den  Straàeninterviews  nicht  weiter  verfolgt  haben  und  dass  unser  Arbeitsplatz nicht immer aufgerÉumt war.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Projektgruppe:
Charlotte MÅnstermann;  Juliane  MÅnstermann;  Lena  Gryglewski;  Kristina  Backhaus,  Claire
Villiers, Roman Schulze (Grafische UnterstÅtzung), Larissa Weber (Projektleitung).
Die  Ausstellung  wurde  im  Rahmen  des  Jugendprogrammes  ZeitensprÅnge  erarbeitet,  und
gefÄrdert  durch  die  Stiftung  Demokratische  Jugend,  der  Senatsverwaltung  fÅr  Bildung,  Wissenschaft und Forschung und respectABel. Begleitet durch den Landesjugendring Berlin.
Menschen in Moabit kommen aus Frankreich
Menschen in Moabit sind Christen
Das Thema Migration
Im  19.  Jahrhundert  und  in  der  ersten  HÉlfte  des  20.  Jahrhunderts  war  Deutschland  vor  allem ein  Auswanderungsland,  doch  seit  Mitte  der  1950er  Jahre  ist  es  eines  der  wichtigsten
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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europÉischen  ZiellÉnder  von  Migranten.  Dabei lassen  sich  verschiedene  Formen  der  Zuwanderung  unterscheiden,  wie  etwa  die  Anwerbung  von  Gastarbeitern,  der  Zuzug  von  Aussiedlern sowie die Aufnahme von Asylbewerbern.
Seit Beginn der 1990er Jahre ist Einwanderung und Integration ein wichtiges bzw. kontrovers
diskutiertes  innenpolitisches  Thema.  Immer  mehr Menschen auf  der  ganzen  Welt verlassen
ihre Heimat, um ihren Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort zu verlegen.
Mehr  als  150  Millionen  Menschen  weltweit  leben  als  Migranten  in  einem Staat,  der  nicht
ihre  ursprÅngliche  Heimat  ist.  Dies  entspricht  etwa  der  doppelten  BevÄlkerungszahl  der
Bundesrepublik.  Internationale  Migration geht  aus  von  Menschen, die  ihre  Familien  zusammenbringen  mÄchten,  von  hoch  ebenso  wie  niedrig  qualifizierten Arbeitsmigranten  sowie
von Asylbewerbern und anderen FlÅchtlingen.
Einige  wollen  nur  fÅr  kurze  Zeit  an  einem  fremden  Ort  bleiben,  andere  fÅr  mehrere  Jahre
oder  gar  den  Rest  ihres  Lebens.  Staaten  haben  immer  wieder  versucht,  Migration  durch
Gesetze zu steuern (Bundeszentrale fÅr politische Bildung).
Die ersten Bewohner Moabits
Erst  im  Jahre  1716  entstand  die  erste  Kolonie.  Zwischen  der  heutigen  Strom- und  Werftstraàe  wurden  24  Parzellen  an  Hugenotten,  franzÄsische,  religiÄs  verfolgte  FlÅchtlinge,  vergeben, um WohnhÉuser und Maulbeerbaumplantagen zur Seidenraupenzucht zu errichten.
Der Name èMoabiter Landê entstand hÄchstwahrscheinlich mit dieser ersten Ansiedlung der
Hugenotten und wird 1738 erstmals erwÉhnt. Er geht zurÅck auf das Land der Moabiter,  das
im  Alten  Testament  Asylland  fÅr  die  flÅchtenden  Israeliten  war.  So  wie  die  Israeliten  das
gelobte  Land  Kanaan  Åber  den  Jordan  sehen  konnten,  waren  die  Franzosen  von  der  florierenden und anziehenden Stadt Berlin durch die Spree getrennt.
Die  franzÄsischen  Einwanderer  scheiterten  mit  ihren  Unternehmungen  sehr  bald  und  verkauften  ihre  GrundstÅcke  an  wohlhabende  Berliner,  die  sich  dann  LandhÉuser  errichteten.
Mehrere  GasthÉuser  und  SchÉnken  entstanden,  unter  anderen  das  des  Franzosen  Martin.
Das  Gebiet  nordwestlich  der  franzÄsischen  Kolonie  verdankt  ihm  den  Namen  „Martinickenfelde“. Moabit blieb also lange Ausflugs- und Erholungsort, vor allem fÅr die èkleinen Leuteê
aus Berlin (www.moabitwest.de).
Menschen in Moabit. Waren nicht immer willkommen
Menschen in Moabit sind Berliner
Heimat der Industrie und der Arbeiter
Die  erste Phase  der Industrialisierung  fand  am  Ufer der  Spree,  im  Gebiet Alt-Moabit, Stromstraàe,  Kirchstraàe  statt.  Verschiedene  Industriezweige  siedelten  sich  dort  an. Schon  1835
verlegte  F.  A.  Schumann  seine  Porzellanmanufaktur  von  Sachsen  nach  Moabit.  In  der  NÉhe
grÅndete  Schomburg  1853  seine  Porzellanfabrik,  so  dass  das  Gebiet  Standort  der  Moabiter
Porzellanindustrie  wurde. 1879  nahm  die  Carl  Bolle  Molkerei  die  Arbeit  auf,  expandierte
1886  auf  dem  GelÉnde  der  Schumann  Porzellan-Manufaktur  und  entwickelt  sich  zum  modernsten Betrieb der Branche in Europa.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Der Ästliche  Teil  Moabits wurde auàerdem  von  MilitÉr und  Justizeinrichtungen  geprÉgt.  Seit
der  Eingemeindung  1861  gehÄrt  Moabit  verwaltungsmÉàig  zu  Berlin  und  wurde  bei  den
neuen  groàen  stÉdtischen  BebauungsplÉnen  berÅcksichtigt.  Die  Infrastruktur  wurde  ausgebaut:  neue  Straàen  angelegt,  neue  Wohnungen,  BrÅcken  und KanÉle  gebaut.  Die  daraus
resultierende  BevÄlkerungszunahme  ist  auch  Ursache  fÅr  die  Errichtung  von  Schulen,  Kirchen, KrankenhÉusern und Markthallen.
Die  zweite  Phase  der  Industrialisierung  fand  im  heutigen  Moabit-West statt.  Auf den  Martinickenfeldern  grÅndete  L.  LÄwe  1888  die  Waffen- und  Munitionsfabrik.  Zusammen  mit AEG
nahm er lange eine dominierende Stellung im sozialen und politischen Leben des Viertels ein
(www.moabit-west.de).
In der Zeit des Nationalsozialismus
èJeder Deutsche ist  uns herzlich willkommen! ê Einen Satz wie diesen konnte man im  Nationalsozialismus  (1933-1945)  an  vielen  Äffentlichen  PlÉtzen  (BahnhÄfe,  Schulen,  Amtsstuben
usw.)  finden.  Der  oben  genannte  Spruch  beinhaltet  wesentliche  GrundsÉtze  der  nationalsozialistischen  Ideologie.  Von  Immigranten  verlangten  sie  einen  so  genannten  Arier-Nachweis.
Diese  wurde  mit  Hilfe  von  StammbÉumen  erstellt.  Sollte  auch  nur  ein  Groàelternteil  Jude
sein,  galt  man  als  nicht  èrassenreinê.  Einwandern  war  also  recht  schwierig,  aber  auch  das
Auswandern  war  keinesfalls  problemloser.  Auf  der  Konferenz  von  Evian  im  Juli  1938.  Dort
beschlossen  fast  alle  europÉischen Staaten,  dass  sie  keine  jÅdischen  FlÅchtlinge  mehr  aufnehmen  werden. Die Art und  Weise, wie dort  Åber  die  Auswanderungsquote der  Juden  verhandelt  wurde,  lÄst  bei  uns  Befremden  aus.  Wie mÅssen sich  die  Menschen damals  gefÅhlt
haben, die keiner mehr wollte?
Nachkriegszeit (1945-1972)
Im  Jahr  1945  wurde  Tiergarten,  also  auch  Moabit,  Teil  des  britischen  Sektors.  Der  Wiederaufbau  musste geleistet  werden, da  so  viele  GebÉude zerstÄrt  oder  stark  beschÉdigt  waren.
Zwischen  1958  und  1961  wurde  auch  Moabit  an  das  U-Bahnnetz  angeschlossen.  FÅr  viele,
wenn  auch  nicht  fÅr  alle,  war  die  Nachkriegszeit  eine  echte  Befreiung:  fÅr  die  Konzentrationslagerinsassen,  fÅr  die  in  der  Zeit  des  Nationalsozialismus  politisch  Verfolgten,  fÅr  auslÉndische  Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. FÅr die meisten anderen hatte bedeutete es
kaum groàe VerÉnderungen.
Nach der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee und die Kapitulation im Mai 1945 wurde
Berlin wie das gesamte Deutschland in vier Sektoren aufgeteilt. Die Sektoren der Westalliierten  (USA,  Groàbritannien  und  Frankreich)  bildeten  den  westlichen  Teil der  Stadt,  wÉhrend
der Sektor der Sowjetunion den Ostteil bildete.
Die zunehmenden politischen Differenzen zwischen den  Westalliierten und der Sowjetunion
fÅhrten  1948/49  zu  einer  wirtschaftlichen  Blockade  West-Berlins,  die  die  Westalliierten mit
der  so  genannten  LuftbrÅcke Åberwanden.  Nach  der  GrÅndung der  demokratischen  BRD im
Westen Deutschlands und der DDR im  Osten Deutschlands im  Jahr  1949 verschÉrfte sich der
Kalte Krieg auch  in  Berlin. WÉhrend die Bundesrepublik ihre  Hauptstadt nach Bonn verlegte,
was  zunÉchst  als  Provisorium  gedacht  war,  ernannte  die  DDR  Ost-Berlin  zur  Hauptstadt  der
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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DDR. Der Ost-West-Konflikt gipfelte im Bau der Berliner Mauer durch die DDR am 13. August
1961.
Menschen in Moabit. Kommen aus der TÉrkei
Menschen in Moabit sind FlÉchtlinge
So genannte Gastarbeiter
In  den  60er  und  70er  Jahren  wurden viele  auslÉndische  Gastarbeiter  nach  Berlin  geholt.  Sie
zogen auch nach Moabit. Heute macht ihr  Anteil um die 30% der Moabiter BevÄlkerung aus,
inzwischen  in  der  dritten  Generation. è Die  Zahl  der  westdeutschen  ErwerbstÉtigen  ging
1960-1972  aufgrund  der  Altersstruktur  um  2,3  Millionen  zurÅck.  Aber  es  wurden  ArbeitskrÉfte  gebraucht- und  die  holte  sich  die  deutsche  Industrie  aus  den  Érmeren  LÉndern  Europas. Ab 1960 kamen die so genannten „Gastarbeiter“ in  grÄàeren Zahlen zunÉchst vor allem
aus  Italien,  Griechenland  und  Spanien,  spÉter  auch  aus  Jugoslawien  und  schlieàlich  aus  der
TÅrkei.  […]  Die sich  „freiwillig“  entschieden  hatten,  weil die  wirtschaftlichen  Bedingungen  in
ihrem  Heimatland ihnen  keine oder  nur schlechte MÄglichkeiten  boten, gerieten  in  der  Bundesrepublik nicht selten in VerhÉltnisse, die sie sich […] nicht hÉtten trÉumen lassen.
In  der ersten Phase der AuslÉnderbeschÉftigung bis ca. 1961 wurden im  bayerischen Dachau
italienische,  spanische  und  griechische  Arbeiter  mit  ihren  Familien  in  den  halbverfaulten
Baracken  des  ehemaligen  Konzentrationslagers  Dachau  einquartiert.  Die  deutsche  BevÄlkerung  erleichterte  den  auslÉndischen  Kollegen  die  EingewÄhnung  nicht  sonderlich.  „Sie  sind
feige,  dreckig  und  geil.  Sie  pÄbeln  blonde  MÉdchen  an  und  machen  Jagd  auf  unsere  Ehefrauen.  Wer sich  mit ihnen  anlegt,  bekommt  ein  Messer zwischen  die  Rippen.  Sie  haben  nur
Weiber, Vino  und  Spaghetti  im  Kopf“  beschrieb  GÅnter  Wallraff 1969  die  gÉngigsten  Vorurteile  gegenÅber  AuslÉnder.  ê  Aus:  Berliner  Geschichtswerkstatt  (Hrsg.):  „da sind  wir  keine
AuslÉnder mehr“, Berlin 1993.
Moabit in den 90er Jahren
In  den  90er  Jahren  fand  in  Moabit  die  grÄàte  VerÉnderung  im  Beussel-Kiez  statt.  In  diesen
Jahren  stieg  der  AuslÉnderanteil  im  Beussel-Kiez  vom  31,9  auf  36,9  %  an.  Obwohl  ab  1993
Menschen  die  Asyl  in  der  Bundesrepublik  Deutschland  suchen,  aber  Åber  fremde  LÉnder
einreisen,  in  denen  z.B.  kein  Krieg  oder  politische  Verfolgung  stattfindet, kein  Recht  mehr
haben  als  Asylberechtigte  anerkannt  zu  werden.  Diese  Regelung  (Artikel  16a  aus  dem
Grundgesetzt),  wurde  am  1.  Juli  1993 wegen  sehr  hoher  Asylbewerberzahlen,  40.000  pro
Jahr,  eingefÅhrt.  Von  nun  an  gilt  die  so  genannte  „Drittstaatenregelung“  die  besagt,  dass
Migranten die Åber ein sicheres „Drittland“ einreisen, dort Asyl beantragen mÅssen.
Die grÄàte  ethnische  Gruppe sind  in  den  90er  Jahren  im  Beussel-Kiez  neben  den  deutschen,
arabischen  und  tÅrkischen  Bewohnern  auch  Menschen aus  Ex-Jugoslawien,  die  wegen eines
BÅrgerkrieges  (1992-1995)  flÅchteten  und  sich  hauptsÉchlich in  West-Berlin  ansiedelten.  In
dieser Zeit gab es immer  wieder offene  Konflikte, die durch die sowieso schon vorhandenen
sozialen  Spannungen  zwischen  den  verschiedenen  Gruppen  hervor  gerufen  wurden.  Auch
das  Bildungs- und  Einkommensniveau  fÉllt,  in  den  90er  Jahren  im Beussel-Kiez  stark  ab  und
sozial besser gestellte Bewohner ziehen weg oder in andere Gebiete Moabits.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Menschen in Moabit kommen aus der ganzen Welt
Menschen in Moabit sind hier zu Hause
Situation heute
Arbeitsemigranten  kamen  immer  nach  Moabit. Am  Anfang  der  Industrialisierung  stammten
sie  aus  lÉndlichen  Gebieten wie Schlesien,  Preuàen,  Polen.  In  den  60er  und  70er  Jahren  des
20.  Jahrhunderts  wurden  viele  tÅrkische  Arbeiter  nach  Berlin  geholt,  die  jetzt  in  der  dritten
bis  vierten  Generation  hier  leben.  Die  arabische  Gemeinschaft  bereichert  das  gemeinsame
Leben  mit ihren  zahlreichen  GeschÉften. Deutsche und  Personen  aus  dem  frÅheren  Jugoslawien,  Afrika  oder  Asien  leben  hier  in  direkter  Nachbarschaft.  Der  Anteil  auslÉndischer
StaatsbÅrger an der Moabiter BevÄlkerung betrÉgt um die 36%.
NeukÄlln, Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte  sind die Bezirke in  Berlin mit dem grÄàten Anteil  nichtdeutscher  StaatsangehÄrigen:  In  Marzahn-Hellersdorf  und  Treptow-KÄpenick  sind
es  0-5%,  in  Lichtenberg,  Pankow  und  Reinickendorf  5-10%,  in Spandau  und  Steglitz-Zehlendorf  10-15%,  in  Charlottenburg-Wilmersdorf  und  Tempelhof-SchÄneberg  20-25%  und  in
NeukÄlln, Friedrichhain und Mitte sind es 25% und mehr.
Heute  befinden  sich  unter  den  Migranten  in  Berlin  zum  Groàteil  tÅrkisch  stÉmmige Menschen. Ein  Problem  ist  es,  wenn  zu  viele  Migranten  desselben  Landes  an  einem  Ort  leben,
was in Moabit der Fall ist. Denn somit brauchen sie sich nicht zu integrieren und kÄnnen weiterhin ihre Kultur in tÅrkischen MÉrkten, bei Friseuren, in BÉckereien etc. ausleben. Das birgt
jedoch Schwierigkeiten fÅr sie, da sie somit nicht die Landessprache lernen mÅssen, und sich
somit in anderen Teilen Berlins nicht richtig zu Recht finden kÄnnen.
Ab  dem  1.September  2008  soll  ein  EinbÅrgerungstest  fÅr  AuslÉnder  eingefÅhrt  werden, der
ihnen  die  Integration  erleichtern  soll.  Die  EinbÅrgerungsbewerber  mÅssen nachweisen  kÄnnen, dass sie Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung sowie der LebensverhÉltnisse
in Deutschland haben.
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Pfarrer Bartsch und die Konfirmierten 1994
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Fahrt nach Taizå 02.07.-10.07.2011
Von Christian Syperek
Die  ev.  Jugendarbeit  der  Region  Tiergarten,  deren  Schwerpunktstelle  seit
01.01.2011 in  der  St.  Johannis-Gemeinde angesiedelt  ist,  lÉdt  fÅr  den  Sommer
2011 alle Jugendlichen  der Region ab einem Alter von 14 Jahren  zu einer Fahrt
zum Jugendtreffen im franzÄsischen Taizá ein.
Taizá  ist  ein  kleines  Dorf  im  franzÄsischen  Burgund,  in  dem  seit  1945  eine  internationale
Äkumenisch-christliche  Gemeinschaft  von  BrÅdern  lebt,  die  das  Evangelium  als  Grundlage
ihres Lebens gewÉhlt haben.
Jede Woche kommen viele Hunderte, ja oft Tausende von Jugendlichen aus ganz Europa und
auch  aus  anderen  Teilen  der  Welt  zu  Besuch,  um  das  Leben  der  BrÅder  fÅr  eine  Woche  zu
teilen. Gemeinsame Gebete, schlichte GesÉnge und GesprÉche „Åber Gott und die Welt“ und
die  Erledigung  einfacher  Arbeiten,  die  im  Rahmen  der  Jugendtreffen  anfallen,  bilden  den
Tagesablauf in Taizá.
Als  Teilnehmer  an  den  Jugendtreffen  hat  man  die  Chance,  viele  Jugendliche  aus  anderen
LÉndern  kennen  zu  lernen,  zu  lernen,  wie sie  denken,  leben,  welche Lieder  bei  ihnen  gesungen werden und vieles mehr…
Das  Leben  in  Taizá  ist  sehr  einfach.  Ebenso  einfach  ist  es  in  Taizá,  offen  und  neugierig  auf
einander  zuzugehen  und  auch  mal  ein  wenig  Ruhe  zum  Nachdenken  zu  finden  – Åber  sein
Leben, Åber seinen Glauben und Åber alles, was einem wichtig ist.  Eine Woche in  Taizá kann
so zu einer besonderen und sehr prÉgenden Erfahrung werden.
Organisiert und  durchgefÅhrt wird die Fahrt gemeinsam von Jugenddiakon  Florian  Fechtner,
Pfarrerin  Rebiger  (Hl.-Geist-Gemeinde)  und  Christian  Syperek  aus  der  ErlÄsergemeinde.  Ein
wichtiges Ziel der gemeinsamen Fahrt ist es, die ev. Jugend der Region in einen engeren Kontakt  zueinander zu bringen – auch im  Hinblick auf die regionale  Vorbereitung des Internationalen  Taizá-Jugendtreffens  2011/2012,  das  vom  28.12.2011  bis  zum  01.01.2012  mit mehreren  zehntausend  Jugendlichen  aus  ganz  Europa  erstmalig  in  Berlin  stattfinden  wird. Weitere
Informationen unter: ev(dot)jugendtiergarten(at)web(dot)de
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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SpÖtcafå
Von Edda Straakholder
Im  Herbst 1997  beteiligte  sich  die  ErlÄserkirchengemeinde  erstmals  an  dem  regionalen  Äkumenischen  SpÉtcafá-Projekt,  das  ursprÅnglich  von  der  Heilands-Kirchengemeinde  initiiert
worden  war.  Die  Idee  ging  davon  aus,  dass  an  mÄglichst jedem  Wochentag eine  Kirchengemeinde in  der  Region  Tiergarten/ Moabit von  17-21  Uhr  eine  Art  WÉrmestube fÅr  Obdachlose  und  andere  BedÅrftige  anbieten  sollte.  FÅr  die  Verpflegung  gab  es  ZuschÅsse  vom  Bezirksamt im Rahmen der KÉltehilfe von November bis Ende MÉrz.
Die  Hilfe  an  allen  sieben  Tagen  konnte  in  den  13  Jahren  des  SpÉtcafábetriebs  nicht  immer
geleistet  werden.  Aber  nach  wie  vor  sind  fÅnf  Tage  in  der  Woche  durch  die  Moabiter  Gemeinden  – evangelische  und  katholische  – abgedeckt. Die  ErlÄsergemeinde  legte  sich  von
Anfang  an  auf  den  Sonnabend  fest.  Da  andere  Obdachloseneinrichtungen  gerade  samstags
geschlossen  sind, war  mit  einem  groàen  Bedarf  zu  rechnen.  Nach  der  Anlaufphase  kamen
denn  auch  mehr  als  50  Personen,  hauptsÉchlich  MÉnner.  In  diesem  Winter  waren  es  zwischen 70 und 100 pro éffnungstag.
Alle  erhalten  kostenlos  Kaffee  oder  Tee,  soviel  sie  wollen.  DarÅber hinaus  gibt  es  Suppen
(meist aus der „KiezkÅche“ in der Rathenower Straàe) und leckeres warmes Essen aus einem
Seniorenheim  an  der  Bundesallee,  zeitweilig  auch  Backwaren  aus  einer  BÉckerei  in  Alt Moabit.  Fisch,  Fleisch  und  gutes  GemÅse  stehen  dabei    hÉufig  auf  dem  Speiseplan,  oft  gibt  es
auch ein schÄnes StÅck Kuchen zum Nachtisch.
Nicht zu    vergessen  sei  Åbrigens,  dass  wir vor  der  Trennung  von  unserem  Jugendhaus  sogar
noch eine ganze Weile einen zweiten Ausgabe-Ort besaàen, den Frau Lehmann-RÄmling und
Ehepaar  Urban  mit einigen  Helfern  betreute  und  der  immer  freitags  belegte  Brote  u.  a.  anbot.
Das  Ganze  ist  natÅrlich  nur  mÄglich  durch  einen  Pool  von  Ehrenamtlichen,  die  bereit  sind,
samstagnachmittags  in  der  SpÉtcafákÅche  zu  arbeiten,  d.h.  die  Speisen  aufzuwÉrmen,  auszugeben und nachher auch wieder alles abzuwaschen. Manche der Ehrenamtlichen kommen
den  Winter  Åber  jede  Woche,  manche  machen  einmal  im  Monat  oder  alle  zwei  Monate
diesen  Dienst.  Jede  Woche  arbeiten  etwa  vier  bis  fÅnf  Helfer  mit.  Alle  sind  uns  herzlich
willkommen und wir danken jedem einzelnen fÅr diese wichtige Arbeit.
Nicht  unerwÉhnt  bleiben  darf  in  diesem  Zusammenhang  unsere  Kleiderkammer, die  wir auf
der  Seitenempore  unserer  Kirche  eingerichtet haben.  Gerade  fÅr  die  SpÉtcafá-Besucher  im
Winter  bietet  die  Kleiderkammer  eine  MÄglichkeit,  unkompliziert  und  schnell  an  warme
KleidungsstÅcke  zu  kommen.  Wir  danken  den  Gemeindegliedern  fÅr  ihre  Kleiderspenden
und Frau Babbel fÅr die gute Betreuung der Kleiderkammer.
Und last but not least: herzlichen Dank an Pfarrer Massalsky, der drei- bis viermal pro Woche
all die leckeren Speisen besorgt, die unser SpÉtcafá so attraktiv machen!
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Laib und Seele
Von Wolfgang Massalsky
Das Laib  und  Seele-Projekt  wurde 2006  von  der  „Berliner  Tafel“  in  Zusammenarbeit  mit den
Kirchengemeinden  und  dem  rbb  ins  Leben  gerufen.  Viele  erkannten,  dass  die  rapide  Verschlechterung  der  LebensverhÉltnisse  vieler  sozial  schwach  aufgestellter  Menschen  nach
zusÉtzlichen Hilfsangeboten verlangt,  insbesondere  die Hartz IV-Regelung lieà  die Schlangen
vor  den  SuppenkÅchen  immer  lÉnger  werden.  Dieses  Projekt  geht  dabei  davon  aus,  dass
sowohl die „Tafel“ als auch die beteiligten Gemeinden selber nicht verbrauchte Lebensmittel
aus  den  SupermÉrkten  abholen  und  an  Arbeitslose  und  bedÅrftige  Rentner  verteilen.
Inzwischen beteiligen sich etwa 40 Gemeinden berlinweit an diesem Projekt.
Im  Gegensatz  zum  SpÉtcafá  lÉuft  es  das  ganze  Jahr  Åber,  jeden  Donnerstag  mit  Ausnahme
von  Feiertagen.  Wir haben  einen  Stamm  von  mehr als  20  ehrenamtlichen  Helfern  fÅr  „Laib
und Seele“, von denen jeweils ca. 14-15 pro Woche da sind. Wichtig sind auch die Fahrer, die
mit privatem  PKW  oder  mit dem  Gemeindebus verschiedene  LÉden  anfahren  und  vor  allem
auch  Waren  aus  dem  Lager  der  „Berliner  Tafel“  selbst  abholen.  Die  Zusammenarbeit  funktioniert erstaunlich gut und reibungslos.
In  unsere  Ausgabestelle  kommen  jede  Woche  Menschen  aus  ca.  100  Haushalten,  d.h.  wir
versorgen  insgesamt  etwa  130  Erwachsene  und  30  Kinder  aus  ganz  Moabit.  Leider  kÄnnen
wir auch nur ausgeben, was wir haben, und das ist manchmal nicht soviel, wie wir gerne hÉtten.
Wir  danken  auch  den  Ehrenamtlichen  aus  „Laib  und  Seele“  fÅr  ihre  meist sehr  regelmÉàige
Mitarbeit beim  Vorbereiten  der  Waren und  bei  der  Warenausgabe. Die ErlÄsergemeinde  ist
die  einzige  „Laib  und  Seele-Gemeinde“  in  Moabit,  und  dieses  Projekt  hat  die  Gemeinde,
ebenso  wie das  SpÉtcafá,  sehr  geprÉgt. Herzlichen Dank besonders  auch  an  Edda  Straakholder,  ohne  deren  Entschlossenheit  und  regelmÉàige  Mitarbeit  die Gemeinde  diese  Arbeit
nicht aufgenommen und bewÉltigt hÉtte.
„Laib und Seele“: Kurz vor dem Beginn der Lebensmittelausgabe.
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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4. Laudate Dominum
100 Jahre Kirchenmusik in der ErlÄserkirche
von Kantorin KMD Edda Straakholder
Betrachtet  man die  Liste  der  Kirchenmusiker  und  Kirchenmusikerinnen  an  der  ErlÄserkirche
seit  1911,  so  ist  man  erstmal  erstaunt  Åber  die  geringe  Anzahl,  obgleich  durchgÉngig  seit
1913  Kirchenmusiker hier  beschÉftigt  waren. Und eine  von  ihnen,  Arlene Schneider,  gab  sogar  nur  ein  kurzes  Gastspiel  von  anderthalb  Jahren.  Da mÅssen es  die  anderen  ja  besonders
lange ausgehalten haben!
Da  war  zunÉchst  Paul  Nitsche,  der  den  kirchenmusikalischen  Dienst  in  ErlÄser  von  1913  bis
1924 ausÅbte, wie damals Åblich, natÅrlich im Nebenberuf. åber seine TÉtigkeitsfelder auàer
dem  gottesdienstlichen  Orgelspiel  ist  nichts  bekannt,  es  heiàt  aber,  er  sei  „Konzertorganist
und Chordirigent“ gewesen.
Die  erste  Orgel  der  ErlÄserkirche  wurde  1910/11  von  der  Firma  Alexander  Schuke  aus  Potsdam  gebaut  und  war  offenbar  zur  Einweihung  der  Kirche  fertig.  Sie  hatte 26  Register  und
kostete  damals  7250  Mark.  Der  OrgelbausachverstÉndige  warnte  vor  diesem  zu  niedrigen
Preis  und  der  mutmaàlich  schlechten  QualitÉt,  war  aber  mit  der  Orgel  bei  der  Abnahme
Ende  Mai 1911  erstaunlicherweise  doch  recht  zufrieden:  „Wie  derselbe  (gemeint  ist  der  Orgelbauer  Schuke)  dabei  bestehen  kann,  begreife  ich  nicht.  Jedenfalls  macht er  damit  der  ErlÄserkirche ein bedeutendes Geschenk“
Der zweite Kirchenmusiker der Gemeinde, Johannes Kurth, wirkte 36 Jahre an der ErlÄserkirche,  von  1924  bis  1960,  auch  er  als  Organist  und  Chorleiter  im  Nebenberuf,  allerdings  im
BeamtenverhÉltnis.  Neben seiner  Stelle  an  der  ErlÄsergemeinde  hatte  er  ein  groàes  Orchester,  mit  dem  er  viele  Konzerte  gab,  mehrere  ChÄre  und  eine  Reihe  OrgelschÅler.  Er  starb
1960 im Alter von 61 Jahren.
Hauptberuflich  wurde  die  Kirchenmusikstelle  als  A-Stelle
im  Jahr  1960  mit dem  Dienstantritt  von  Kantor  Johannes
Carl.  Herr  Carl  baute  gleich  zu  Anfang  mit  der  Orgelbaufirma  Karl  Schuke/Berlin  die  neue  Orgel,  die  1963  eingeweiht wurde. Diese Orgel, die  inzwischen  auch  schon  fast
50  Jahre  alt  ist,  kostete  damals  (mit  23  Registern)  87.400
DM,  heute  wÅrde  sie  nach  Auskunft  der  Firma  Schuke
440.000 € kosten!
Unsere Orgel gilt  in  Berlin  unter  Experten  als  eine  besonders  gelungene  Schuke-Orgel, sowohl  in  klanglicher  Hinsicht  als  auch  im  Hinblick  auf  die  Éuàerst  geschickte  Disposition  (=  Auswahl  der  Register),
angesichts  eines  auch  in  den  60er  Jahren  knappen  Gemeindehaushalts.  Herr  Carl  war  Åber
die  Gemeindegrenzen  hinaus  bekannt, durch  seine  groàe  Chorarbeit  mit  Bachkantaten,
Weihnachtsoratorium und vielen anderen Konzerten.
Kantor Johannes Carl
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Als  er  Mitte der  siebziger  Jahre  realisierte,  dass  die  Gemeinde  das  versprochene  dritte  Manual  der  Orgel  nicht  mehr  bauen  wÅrde  – die  Gemeinde  steckte  gerade  ihr  ganzes  Geld  in
den  Ausbau  des  neuen  „Jugendhauses  Zinse“  fÅr  offene  Jugendarbeit,  das  war  politisch  angesagt  – da  kehrte  er  der  ErlÄsergemeinde  den  RÅcken  und  nahm  1976  die  Kirchenmusikstelle in St. Nikolai/Spandau an.
Von 1976 bis 1977 kam dann die schon erwÉhnte Kirchenmusikerin Arlene Schneider, bis ich
am 1.Oktober 1977 mit 23 Jahren meinen Dienst in der ErlÄsergemeinde begann.
Inzwischen  war  die  Stelle  aufgrund  der  ersten  landeskirchlichen  Sparmaànahmen  nur  noch
eine  B-Stelle.  Vom  Glanz  der  âra  Carl  war  auch  nicht  mehr viel  zu  spÅren:  meine Arbeit  am
Anfang  erstreckte  sich  auf  14  Kantoreimitglieder,  fÅnf  FlÄtenkinder  und  einen  kleinen  Kinderchor.
Und  nur  ganz  langsam  und  Schritt  fÅr  Schritt  ging  es  aufwÉrts:  ab  etwa  1980  vergrÄàerten  sich die  Kantorei  und
auch  der  Kinderchor,  1984  wurde  ein  schnell  wachsender
Posaunenchor  gegrÅndet.  Seit  Mitte  der  achtziger  Jahre
gewann  die  Kinderchorarbeit  an  Ausstrahlung,  auch  Åber
die  Grenzen  der  Gemeinde  hinweg.  Durch  die  enge
Zusammenarbeit  mit  der  KindertagesstÉtte  gab  es  eigentlich durchgehend etwa 120 Kinder im Kinderchor.
Seit  1983, bis  heute, fahren  die  Grundschulkinder  jedes
Jahr  in  den  Herbstferien  auf  Kinderchorfahrt  und  Åben  ihr
Weihnachtsprogramm,  zuerst  in  den  Solling  und  ins  Weserbergland,  nach  der  Wende  dann
nach Halbe und nach Dahme/ Mark.
Jedes  Jahr  fÅhrt  der  Kinderchor  eine  Kinderoper  oder,  wie es  heute  heiàt,  ein  Kindermusical
auf, sowie  ein  mehr  oder  weniger  umfangreiches  Krippenspiel  zu  Weihnachten. Die  Élteren
Kinder  singen  oft  bei  den  AuffÅhrungen  der Kantorei  mit,  wie  z.B.  beim  Weihnachtsoratorium 2009.
Kantorin Edda Straakholder. Seit 1977 an
der ErlÄserkirche.
Weihnachtsoratorium 2009 mit Kantorei und Kinderchor.
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Auch  die  Kantorei  wurde  immer  grÄàer  und  leistungsstÉrker.  Seit  1989,  als  wir  auf  dem  Berliner  Kirchentag  mit  der  Dahlemer  Kantorei  zusammen  das  „Oratorium  nach  Bildern  der
Bibel“  von  Fanny  Mendelssohn-Hensel  auffÅhrten,  folgte  in  jedem  Jahr  ein  anspruchsvolles
Konzert  mit  Orchester:  verschiedene  AuffÅhrungen  des  „Weihnachtsoratoriums“  von  Bach,
das  Requiem  von  Mozart, die  MatthÉuspassion  von  Bach,  die  „SchÄpfung“  von  Haydn,    und
nun in  diesem Jahr der Einstieg in die h-Moll-Messe von Bach mit inzwischen etwa 60 stÉndigen  Kantoreimitgliedern. Ein  groàer  und  engagierter  Jugendchor  in  den  Jahren  1995-2005
trug sehr zur Steigerung der LeistungsfÉhigkeit der Kantorei in den vergangenen Jahren bei.
Als  neuen  Arbeitszweig  begann  ich  1996  mit einem  Seniorenchor  fÅr  die  Éltere  Generation,
der hÉufig im Gottesdienst singt und inzwischen auch fast zwanzig Mitglieder hat.
Die  andere  Seite  des  Alterspektrums  wurde  ausgeweitet  durch  die  erfolgreiche  EinfÅhrung
eines  Eltern-Kind-Singens  und  des  Singens  mit  der  Krippengruppe  der  Kita,  d.h.  das  Einstiegsalter  fÅr  die  Kinder  liegt  jetzt  nicht  mehr  bei  3-4  Jahren  wie frÅher,  sondern  bei  ca.  1
Jahr, was mir viel Freude macht.
Eine  Konstante  in  meiner Arbeit,  und  auch  einer  der  GrÅnde,  weshalb  ich  mich nie  in  einer
anderen  Gemeinde beworben  habe,  ist  die  wunderbare  Orgel. Seit  1985  habe  ich  jedes  Jahr
ein  groàes  Orgelkonzert  gespielt,  bisweilen  gab  es  auch  eine  Orgelreihe  mit  auswÉrtigen
Organisten.
Aber  erst  1995  war  mein  eigenes  Repertoire  groà  genug,  dass  ich  es  gewagt  habe,  die  wÄchentlichen  Sommermusiken  jeden  Dienstagabend  ins  Leben  zu  rufen.
Es  sind  jeweils  etwa  15  Konzerte  in  vierzig  Minuten
LÉnge. Diese  Konzerte  werden  vom  Publikum  gut
angenommen und sind Åber die Grenzen von Moabit hinaus  bekannt.  Besonders  in  den  Sommerferien  steigt
die Zahl der Besucher/innen auf fÅnfzig und mehr.
1997  kamen  dann  als  Pendant  die  winterlichen  OrgelAndachten  von  November  bis  Ostern  dazu,  mit  einem
nicht  so  groàen  Orgelanteil  wie  in  den  Konzerte,  aber
mehr  Raum  fÅr  Musik  als  in  einem  normalen  Sonntagsgottesdienst.  Auch  diese  sind  mit  ca.  15  Personen,  zur
Passionszeit bis 25 Personen meistens erstaunlich gut besucht.
Seniorenchor 2011.
Die Karl-Schuke-Orgel von 1963.
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Bleibt die kirchenmusikalische Arbeit in  den Gottesdiensten, die mir trotz  aller konzertanten
Aufgaben immer  sehr am Herzen lag.  Aufgrund der vielen, auch selbstÉndig singenden Chorgruppen feiern wir die meisten Gottesdienste, auàerhalb der Ferien, mit einem Chor im Gottesdienst. Manchmal wirkt auch ein Vokal- oder Instrumentalsolist mit.
Im  Hinblick  auf  die  gottesdienstliche  Gestaltung  ist  besonders  unsere  letzte  NeugrÅndung
sehr aktiv: der Posaunenchor wurde  nach  lÉngerer  Ruhephase vor drei Jahren  wiederbelebt.
Er  probt  jetzt  mit  etwa  zwÄlf fortgeschrittenen  und  zahlreichen  NachwuchsblÉsern  unter
professioneller  Leitung  von  Christian  Syperek  und  spielt  fast  jeden  Monat einmal  im  Gottesdienst.
Mein ResÅmee nach inzwischen mehr als 33 Jahren ErlÄser:
1. die  36  Jahre  von  Johannes  Kurth  habe  ich  noch  nicht  erreicht,  das  kommt  aber  hoffentlich noch.
2. Ich  habe  es  immer  sehr  genossen,  mit so  vielen  Menschen in  allen  Altersgruppen  zu
arbeiten,  von  1  bis  85.  Vielen  Dank  an  alle,  die  mitgemacht  haben!  åbrigens:  Auch
wenn  es  manchmal  irgendwo  hakt  oder  wenn  es  mal  Durststrecken  gibt:  langweilig
ist es mir bisher noch nie geworden.
3. Ich hab auch noch genug Ideen fÅr die nÉchsten Jahre!
Ernennung von Edda Straakholder zur Kirchenmusikdirektorin 2002. Es gratulierten LandesKirchenmusikdirektor Christian Schlicke und OberkirchenrÖtin Friederike Schwarz.
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Trauschein der Eheleute
KÖthe Klamm und Karl
Fehringer von 1931. Eltern
von Waltraud Berndt, geb.
Fehringer. (Auszug aus
dem Familienbuch).
Erinnerungsfotos zur Einsegung von Waltraud Fehringer vom 11.04.1954.
5. Stimmen aus der Gemeinde
Familie Berndt – Ein Leben mit der ErlÄserkirche
In  unserer  Gegenwart,  die  bestimmt ist  von  MobilitÉt  und  ungeraden  Berufswegen  ist  es
nicht mehr selbstverstÉndlich, dass eine Familie die kirchlichen Amtshandlungen ausschlieàlich  in  ihrer  von  Kindheit  an  gewohnte  Gemeinde  erlebt,  wie  es  etwa  bei  der  Familie  von
Waltraud Berndt der Fall ist.
Ihre  Mutter KÉthe  Klamm wurde  noch  in  der  unzerstÄrten  Kirche 1920  von  Pfarrer  Manger
konfirmiert,  sie  heiratete  1931  dort  mit dem  Segen  durch  Pfarrer  Streckenbach  ihren  Mann
Karl  Fehringer,  die  Tochter  Waltraud Fehringer  konfirmierte  Pfarrer  SchÄtz zu  Ostern 1954  -durch die Kriegsfolgen noch im Gemeindesaal.
Getraut wurde Waltraud mit Klaus Berndt 1960 im  neu gestalteten Kirchenraum  und jÅngst,
am  5. Dezember 2010  durfte  das  Ehepaar  Berndt  in  der  ErlÄserkirche  seinen  Goldene Hochzeit  feiern  – diesmal  eingesegnet  durch  die  Pfarrerin  Reichwald-Siewert.  MÄgen viele  Familien in Moabit diese langjÉhrige Verbundenheit mit ihrer Gemeinde erfahren!
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Konfirmationsscheine der Eheleute Berndt.
Klaus Berndt 23.03.1952 (links). Waltraud Berndt, geb. Fehringer 11.04.1954 (rechts).
Das frisch vermÖhlte Brautpaar Berndt vor der ErlÄserkirche und der Trauschein aus dem
Familienbuch (05.12.1960).
50 Jahre spÖter feiert das Ehepaar Berndt seine Goldene Hochzeit in der ErlÄserkirche.
Wiedereingesegnet durch Pfarrerin Reichwald-Siewert.
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Ein GeburtstagsstrauÑ mit vielen guten WÅnschen
Anhand eines Fragebogens von Pfarrerin Reichwald-Siewert (Gesammelte Antworten).
1. Wie lange sind Sie in der Gemeinde und was gefÖllt Ihnen dort?
Waltraud Berndt: Ich gehÄre der Gemeinde seit meiner Geburt 1940 bis zu meiner Hochzeit
im  Dezember 1965  an  und  nun  wieder seit  Juli  2009  durch  Zuzug.  Mir gefallen  die  anregenden Gottesdienste und die Orgelandachten.
Thiede: Ich bin 1949 in der Gemeinde konfirmiert worden.
Marlies und Rolf Jaenke: Wir gehÄren der ErlÄsergemeinde seit 1973 bzw. 1962 an.
Margarete Grieger:  Seit 1961 bin ich  in  der Gemeinde. Mir gefallen besonders die SeniorenNachmittage.
Matthias Urban: Seit 1974, dort konfirmiert, geheiratet und seit 33 Jahren im Chor!
Mir gefallen besonders die gesamte musikalische Arbeit sowie der ehrenamtliche Einsatz fÅr
BedÅrftige.
Rosemarie  Gehrke:  1978  wurde meine Tochter  durch  Frau  Reichwald- Siewert eingesegnet.
Es  war  nach  meinem Umzug  aus  Spandau  der  erste  Kontakt  mit der  ErlÄsergemeinde.  1978
ging ich  in  Rente und  habe auàer gelegentlichen  Gottesdiensten gern die anderen Angebote
der Gemeinde angenommen.
Ute Adam:  Ich  bin seit 25 Jahren  in  der  ErlÄsergemeinde. Mir gefallen die Chorgemeinschaft
und der Halt, den ich dort bekommen habe.
Katharina  Kira  Prey:  Seit  ca.  1989,  durch  den  Kindergarten  bin  ich  in  die  Gemeinde  gekommen. Mir  gefallen  besonders:  Chorarbeiten  Kinderchor,  Jugendchor  und  die  Kantorei,  aber
auch  die  ‚neuen’  ChÄre  wie  Eltern-Kind-Singen  oder  ‚Minichor’  sowie  das  breit  gefÉcherte
Angebot. Ob biblisch oder musikalisch: es ist fÅr jeden etwas dabei!
Olaf RÄnitz: Das wird jetzt gut 20 Jahre her sein, dass ich von der Reformationsgemeinde zur
ErlÄsergemeinde gewechselt bin. AuslÄser war, dass die Reformationskantorei AuflÄsungserscheinungen zeigte… Damals habe ich  mich mit meinem Bruder nach einer neuen Gemeinde
in  Moabit  umgeschaut  – und  das  Angebot  der  ErlÄserkirche  entsprach  meinen  Vorstellungen.  Auàerdem  hat  ein  ehemaliger  Klassenkamerad  im  Posaunenchor  mitgespielt und  mich
dann  sozusagen  fÅr  die  ErlÄsergemeinde  geworben.  Auch  jetzt,  da  ich  schon lange  nicht
mehr in  ‚Tiergarten’ wohne, ist die ErlÄsergemeinde fÅr mich ein wichtiges Standbein – auch
und  gerade  als  eine  Wurzel  in  meiner  Heimat  Moabit.  Hier  habe  ich  Freund- und  Bekanntschaften geschlossen, singe in der Kantorei mit und nehme gerne als Lektor regelmÉàig
an Gottesdiensten teil. Mir gefÉllt vor allem die musikalische PrÉgung der Gemeinde.
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Isis  Plucinski:  Ich  bin  seit  1994/95  Mitglied der  Gemeinde  und  bin  ihr  trotz  meines Umzugs
1999 treu  geblieben.  Mir  gefÉllt  besonders,  dass  so  viel  fÅr  die  Kinder  getan  wird,  z.B.  Kinderchor, Kinderkirche, BlockflÄtenunterricht, Kantorei.
Inge Strauch: Ich bin etwa fÅnf Jahre Mitglied der Gemeinde.
Katja  Babbel:  Ich  bin  seit  Åber  sieben  Jahren  ehrenamtlich  in  der  Gemeinde  tÉtig  und  war
von  Anfang  an  begeistert,  welch  umfangreiches  Aufgabengebiet  zum  Helfen  besteht.  Mir
gefallen  die  schÄnen  Andachten,  die  Orgelkonzerte,  die  Auftritte  der  Kantorei  und  die  Veranstaltungen  der  Jugend  in  der  Kirche,  die  von  unseren  Pfarrern  und  der  Kantorin  gestaltet
werden.
Christine Seliger:  Seit  2006 bin ich  Mitglied der Gemeinde. Mir gefÉllt die  rege Gemeindearbeit, die fantastische Kirchenmusik und die sozialen Projekte.
Eva  Maria  Riebesell:  Vor  einigen  Jahren,  2007  war  es  wohl,  da  bin  ich  in  de  Seniorenchor
gekommen.  Die  Chormitglieder  waren  alles  nette  Menschen  und  das  Singen  hat  mir  viel
Freude bereitet. Seit Åber 40 Jahren  war ich  kein  Mitglied der Kirche mehr. Doch auf einmal
hatte  ich  auch  Interesse  an  den  Bibelstunden,  die  Herr  Massalsky  abhielt.  Mir  gefallen das
gemeinsame  Lesen  von  Bibeltexten  und  das  Diskutieren.  2009  hatte  ich  mich  dann
entschlossen,  der  evangelischen  Kirche  beizutreten.  Seitdem  bin  ich  Mitglied  der  ErlÄserGemeinde und fÅhle mich sehr wohl damit.
Astrid Jacobs:  In  der  Gemeinde bin  ich  seit  vier  Jahren.  Mir gefallen  der  Kindergottesdienst,
die Orgelandachten, die meisten Predigten sowie das „Gemeindeleben“.
Michael  Karig:  Ich  bin  seit  Februar  2008  Mitglied  der  Gemeinde.  Mir  gefÉllt  vor  allem  der
Chor.
Nadine und Jan-Moritz Baudach:  Wir leben  seit knapp drei Jahren  in  Moabit und uns gefÉllt
das aktive Gemeindeleben.
2. Ein besonderes Ereignis/eine besondere Veranstaltung war fÅr mich:
Thiede:  FeuerlÄschÅbungen  in  der  Ruine,  etwa  1947)  und  die  Goldenen  Konfirmation.  Die
Wiedereinweihung der Kirche mit Bischof Dibelius (9. MÉrz 1958).
Waltraud  Berndt:  Meine  Konfirmation  am  11.4.1954  durch  Herrn  Pfarrer  SchÄtz,  noch  im
Gemeindesaal im  1. Stock. Meine erste Reise mit dem JungmÉdchenkreis nach Eschwege im
Sommer 1954 unter Leitung von Christel Weber. Hochzeit am 2.12.1960 durch Herrn Pfarrer
Dr.  Schulz  in  der  Kirche.  Goldene  Hochzeit  wÉhrend  des  2.  Adventgottesdienstes  am
5.12.2010 durch Frau Reichwald-Siewert.
Marlies und Rolf Jaenke:  Wir erinnern  uns gern an die Faschings- und Sommerfeste und die
Jugendreisen nach England und Frankreich.
Matthias Urban:  AuffÅhrungen der Kantorei wie der ‚SchÄpfung’  von Joseph  Haydn und des
Deutschen Requiems von Johannes Brahms. Und natÅrlich meine Hochzeit im Jahr 2000.
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Rosemarie  Gehrke:  der  Festgottesdienst  zu  einem  50.  JubilÉum  und  vor  allem  die  Konzerte
von und mit Frau Straakholder. Das Singen im Seniorenchor.
Ute Adam:  Die Konfirmation meines Sohnes Sven Adam. Ich  durfte fÅr  ihn  singen. Er ist  dort
auch  in  den  Kindergarten  gegangen.  Es  hat  ihn  geprÉgt.  Er  ist  Erzieher  geworden  und  hat
jetzt auch bald die Ausbildung als Integrationserzieher fertig.
Katharina Kira Prey: Die MÄglichkeit, Gottesdienste musikalisch-kÅnstlerisch mitzugestalten:
Orgel spielen, solistisch oder im Chor singen. Ebenso die MÄglichkeit,  bei der Austeilung des
Abendmahls zu helfen oder Texte zu lesen.
Olaf RÄnitz: Am 7. Juli 2007 sind wir, mein Mann Tim und ich, in der Charlottenburger Kirche
am Lietzensee in  einem Gottesdienst am Tag der  Eintragung unserer Partnerschaft gesegnet
worden.  Solche  Segnungsgottesdienste  fÅr  schwule  und  lesbische  Paare  sind  in  einigen
evangelischen Landeskirchen mÄglich. Ziemlich genau ein Jahr spÉter, am 6. Juli 2008, waren
meine Schwiegereltern  zu  Besuch  in  Berlin,  sie  feierten  an  diesem  Wochenende  ihre  Goldenen  Hochzeit,  fÅr  uns  war  am  Montag  die  „Papierne  Hochzeit“  nach  einem  Jahr  dran.  Tim
sprach  heimlich  Herrn  Pfarrer  Massalsky  an,  ob  er  nicht  fÅr  seine  Eltern  und  fÅr  uns  einen
Segen  sprechen  kÄnnte  – und  Herr  Pfarrer  Massalsky  sagte  zu!  Es  war  deutlich  zu  spÅren,
dass diese Segenshandlung an uns als Partner in  einer schwulen Beziehung fÅr  Herrn Pfarrer
Massalsky durchaus  eine  theologische  Herausforderung  darstellte.  Dass  er  diese  Herausforderung  ohne  Wenn  und  Aber  angenommen  hat,  habe  ich  ihm  damals  sehr  hoch  angerechnet.
Isis Plucinski: Meine Hochzeit 1999 und die Gemeindefahrten und AusflÅge.
Inge Strauch: Das Wort Gottes ist die Hauptsache! Die musikalischen Darbietungen sind hervorragend!
Katja  Babbel:  Mit  eines  meiner  schÄnsten  Erlebnisse  ist  die  ‚Offene  Kirche’,  wo  ich  um  12
Uhr  nach  dem  Orgelspiel  aus  der  Bibel  vorlese.  Auch  ist  das  ‚SpÉtcafá’  eine  wunderschÄne
Aufgabe, die  ich  mir auf  den  Leib  geschrieben  habe.  Ein  schÄnes  Erlebnis  ist  noch  der  Kirchdienst fÅr mich, wenn ich zunÉchst im Gemeindesaal die Kaffeetafel vorbereite und dann die
Kollekte einsammele und sie zum Altar bringen darf.
Michael Karig: Die Jugendfeten 1968-1969 mit meiner ersten Liebe.
Christine  Seliger:  Als  ich  das  erste  Mal  zum  Gottesdienst  kam,  begrÅàte  mich  Frau  Reichwald-Siewert persÄnlich und hieà mich willkommen. Wunderbar war das Brahms-Requiem.
Astrid Jacobs: Der 16 Uhr Gottesdienst am Heiligen Abend.
Eva  Maria Riebesell:  HÄhepunkte  waren  fÅr  mich die  Bibelstunden,  die  Chorproben  und  de
sonntÉgliche  Gottesdienst.  Ich  freue  mich  natÅrlich  besonders,  wenn  der  Seniorenchor  im
Gottesdienst singen darf, aber es gibt auch diverse andere ChÄre und auch Instrumentalmusik, die oft einen Gottesdienst zum Fest machen.
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Nadine  und  Jan-Moritz  Baudach:  Ohne Frage  unsere  Hochzeit  in  der  ErlÄserkirche  im  Juni
2010.
3. Ich wÅnsche der ErlÄsergemeinde fÅr die Zukunft
Thiede: Alles Gute fÅr die Zukunft und ein Weiterbestehen der Gemeinde.
Margarete Grieger: Alles Gute fÅr die Gemeinde
Waltraud  Berndt:  Eine  gute  Entwicklung  der  Gemeinde,  genÅgend  helfende  HÉnde  zur  BewÉltigung  der  Aufgaben  und  auch  ein  gutes  Einvernehmen  der  LeitungskrÉfte  auch  untereinander.
Marlies und Rolf Jaenke:  Wir wÅnschen uns mehr Ehrenamtliche, die sich  fÅr  die Gemeinde
einsetzen.
Matthias  Urban:  Dass  trotz  des  notwendigen  Zusammengehens’  im  Rahmen    des  Kirchensprengels  ab/seit  dem  1.1.  dieses  Jahres  die  bewÉhrte  gute  Arbeit  wie  die  Kirchenmusik  erhalten  bleibt  und  wieder  Menschen/Gemeindemitglieder  zwischen  20  und  50  Jahren  gewonnen werden kÄnnen.
Rosemarie  Gehrke:  Weiter  eine  erfolgreiche  Gemeindearbeit,  vor  allem  auch  fÅr  ’Laib  und
Seele’.
Ute Adam: Weiter viel Musik und so einen guten Kindergarten.
Katharina Kira Prey: Dass sie bestehen bleibt, dass sie junge, neue Mitglieder dazu gewinnen
kann. Dass sie wÉchst! So sollten auch Familien mit ihren  Kindern in  die Kirche kommen und
nicht wegbleiben.
Olaf  RÄnitz:  Ich  wÅnsche  der  ErlÄsergemeinde  fÅr  die  Zukunft,  dass  bei  allen  Spar- und  RationalisierungszwÉngen  immer  genug Freiheit fÅr  ein vielseitiges und zugewandtes   Angebot
bleibt. An der ErlÄsergemeinde laufen so viele Projekte und Angebote fÅr ganz unterschiedliche Zielgruppen und AnsprÅche – dieses Profil zu wahren ist wichtig.
Isis  Plucinski:  Viele engagierte  Mitglieder,  dass z.B.  das  ‚SpÉtcafá’  weiter  aufrechterhalten
werden kann.
Inge Strauch: Dass die ErlÄserkirche auch in Zukunft gute VerkÅndiger hat!
Katja  Babbel:  Ich  wÅnsche  mir  fÅr  meine  ErlÄserkirche,  dass  alles  so  bleibt  wie  es  ist  und
vielleicht noch ein paar mehr Jugendliche an den Gemeindearbeiten teilnehmen wÅrden.
Michael Karig: Alles Gute, Offenheit, FrÄhlichkeit, der liebe Gott sei mit ihr.
Christine Seliger: Dass sie mit diesem Profil eine eigenstÉndige Gemeinde bleibt.
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Astrid Jacobs:  Dass sie  mehr Zulauf  bekommt,  besonders  sich  mehr junge  Menschen fÅr  die
Kirche interessieren, das Ehrenamt anerkannt wird, mehr Geld fÅr Angebote und Stellen.
Eva Maria Riebesell: Viele aktive Mitglieder
Nadine und Jan-Moritz Baudach:  ein weiterhin engagiertes Gemeindeleben und verstÉrktes
Engagement der mittleren Generation.
Schlusswort
Von Heike MÅns
Wir  erleben  einen  breiten  Erinnerungsbogen.  Die  Éltesten  ErwÉhnungen  reichen  Åber  80
Jahre  zurÅck,  die  jÅngsten  beschrÉnken  sich  auf  zwei Jahre. In  dieser  Festschrift  konnten
nicht alle Aspekte berÅcksichtigt werden, sie mÅssen weiterer Forschung vorbehalten sein.
Vielen gemeinsam ist die Erinnerung an die HÄhepunkte des Familienlebens Taufe, Hochzeit,
Konfirmation  in  der  ErlÄserkirche,  wobei immer  wieder auch  die  Freude  Åber  die  besonders
eindrucksvolle Kirchenmusik thematisiert wird.
Schaut man sich die Alterszusammensetzung des aktuellen Gemeinderates an, gewÉhlt 2010,
so dÅrfte  der  Wunsch eines verstÉrkten Engagements der mittleren Generation hier FrÅchte
tragen.
Aber  auch  Sorgen  Åber  die  Folgen  der  aktuellen  VerÉnderungen,  das  ZusammenfÅgen  von
fÅnf  Gemeinden  zu  einem  ‚Sprengel’,  sind  zu  spÅren.  Diese  Aufgaben  mÅssen von  allen  gemeistert  werden.  Gerade  auf  den  Gemeindekirchenrat  kommen  hier  verantwortungsvolle
Aufgaben zu.
Zum aktuellen Gemeindekirchenrat gehÄren:
Jan Moritz Baudach
Dr. Katharina KrÉutlein
Annette Reichwald-Siewert, Pfarrerin
Christian Syperek
Christiane Vogel
Hans Windmeier
Astrid Jacobs
Wolfgang  Massalsky,  geschÉftsfÅhrender
Pfarrer
Edda Straakholder, Vorsitzende
Christian Tosch
Christel Weber
ErsatzÉlteste: Heike MÅns
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6. Dokumentation
Auf diese Berichte und Dokumente wird in den vorher gehenden Kapiteln verwiesen:
Wortlaut der Urkunde, die am 18. November 1909 in den Grundstein eingelegt wurde
62
Im Namen Gottes und Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Nachdem  wir  durch  Gottes  Gnade  am  28.  September  1905  den  Grund  zu  einer  zweiten  Kirche,  der  Reformationskirche  legen  durften,  welche  am  17.  Februar  1907  unter  Beisein  Ihrer
MajestÅten, unseres allergnÅdigsten Kaisers und Herrn, Wilhelm II.  und seiner Gemahlin, Auguste  Victoria,  unserer  lieben  Kaiserin,  geweiht  werden konnte,  legen  wir heute,  am  18.  November 1909 wiederum den Grundstein zu einer neuen Kirche und Gemeinde.
Die  Heilandsgemeinde  ist  innerhalb  drei  Jahren  auf  57.000 Seelen  gestiegen.  Dazu  verlangt
auch  die  Luisengemeinde (sic) in  Charlottenburg,  unsere  Nachbargemeinde,  die  jetzt  7000
Seelen zÅhlt, nach der Abzweigung eines Teiles an unseren Grenzen.
Schon  im  Jahre  1904  hatte  deshalb  die  Stadtsynode  ein GrundstÉck  an  der  Ecke  LevetzowstraÇe  und  des  Wikinger  Ufers  unmittelbar  an  die  Luisengemeinde  angrenzend  gekauft  von
11a  88  qm,  83,75    R.  Der Kaufpreis  betrÅgt  144.636  M. Die bewÅhrten  Kirchenbauarchitekten Dinglage
63
& Paulus machten es bei vÑlliger Ausnutzung des Bauplatzes mÑglich, dass mit
der Kirche  zugleich auch ein Pfarr- und Gemeindehaus erbaut werden konnte. Die Baukosten
fÉr  die  Kirche sind  veranschlagt  mit 230.000  M, und  fÉr  das  Gemeindehaus  auf  100.000  M.
Die  Kirche  soll  1000  SitzplÅtze  haben.  Mit  Genehmigung  Sr.  MajestÅt  des  Kaisers  trÅgt  dieselbe den Namen „ErlÑserkirche“.
Nach ErlÑsung  verlangt  und  seufzt die  Welt. Wir wissen und bezeugen,  es  ist  nur  ein  ErlÑser,
Jesus  Christus, Gottes eingeborener Sohn, hoch gelobt in  Ewigkeit, der  starke Held, der allein
die Bande unserer Schuld lÑsen  und die Ketten unseres Todes brechen kann, von dem wir mit
unserem Luther nach dem 2. Artikel bekennen,, „sei mein Herr ,  der mich verlorenen und verdammten  Menschen erlÑset  hat,  erworben  und  gewonnen  von  allen  SÉnden,  vom  Tode  und
von  der  Gewalt  des  Teufels  ,  nicht  mit Gold  oder  Silber,  sondern  mit seinem  heiligen,  teuren
Blut und seinem unschuldigen Leiden und Sterben von den ,  auf dass ich  sein eigne sei und in
seinem Reiche unter ihm  lebe  und ihm  diene in  ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit,
gleichwie er ist auferstanden von den Toten, lebt und regieret in Ewigkeit.
Dieses  Evangelium  mÑge  in  er  ErlÑserkirche  durch  alle  Zeiten  verkÉndigt  werden,  und  dann
wird es  auch  seine  erlÑsende  ,  befreiende  und  seligmachende  Kraft  beweisen  und  bewÅhren,
dann  wird  die  ErlÑserkirche  ein  Licht  auf  dem  berge  sein,  dass  seine  hellen,  lÑsenden  Schein
hinwirft in die dunklen RÅtselfragen unseres Lebens, dann wird sie eine sichere Zufluchts- und
HeimstÅtte sein fÉr mÉhselige und schuldbeladene Menschenherzen, dann wird sie ein unversiegbarer  Gesund- und  Heilbronnen sein  fÉr  die  tiefen  SchÅden  und  NÑte unserer  Tage,  dann
wird  sie  eine unÉberwindliche  Burg  wahrer  Freiheit  und  wahren  GlÉckes  sein  fÉr  Zeit  und
Ewigkeit. Das walte Gott!
Berlin, den 18. November 1909
Die KÑrperschaften der Heilandskirchengemeinde
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Handschriftliche Abschrift in der Acta der ErlÄsergemeinde Tit. VIII, No.1. ErlÄserkirche (Bau)
63
Hier anstelle Dinklage als Dinglage geschrieben.
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Bericht zur Kreissynode aus der ErlÄsergemeinde 1931
In den allgemeinen VerhÉltnissen unserer ErlÄsergemeinde sind gegen das Vorjahr keine den
Éuàeren  Bestand  betreffenden  VerÉnderungen  eingetreten.  Aber  die  ErlÄsergemeinde  in
allen ihren StÉnden ist aufs tiefste bewegt worden durch den am 3. Dez. 1930 eingetretenen
so  plÄtzlichen  Heimgang  des  seit  der  GrÅndung  der  Gemeinde  in  ihr  stehenden  und  in  reichem  Segen  wirkenden  Pfarrers  Schmidt.  Wir haben  ihn  auf  dem  Stahnsdorfer  Friedhof  unter  groàer  Beteiligung,  nicht  bloà  der  Glieder  unserer  ErlÄsergemeinde,  sondern  auch  der
anderen  Moabiter  Gemeinden  (Pfarrer  Schmidt  war  ein  Moabiter  Kind  und  frÅher  an  der
Heilandskirche)zu  Grabe  getragen.  Die  ganze  Liebe  und  Dankbarkeit  der  Gemeinde  gegen
ihren  heimgegangenen  Seelsorger  kam  zum  Ausdruck  bei  dem  GedÉchtnisgottesdienst,  den
Pfarrer  Manger  am  2.  Advent  dem  lieben  heimgegangenen  Amtsbruder  hielt.  Sein  GedÉchtnis  wird in  der  ErlÄserkirche  im  Segen  bleiben,  und  die  Saat,  die  er  ausgestreut,  wird wachsen unter Gottes Schutz.
In  der  ErlÄsergemeinde  hat  sich  das  kirchliche  Leben  in  ruhiger  Fortentwicklung,  ohne  besonderen  Anstoà  von  Seiten  innerer  oder  Éuàerer  Feinde  gestaltet.  Die  Kinder  wurden  zur
Taufe  gebracht,  wenn  auch  in  geringerer  Zahl  als  in  frÅheren  Jahren.  Die  Konfirmationen
fanden  statt,  wenn  auch  erheblich  weniger  Kinder  zum  Konfirmationsaltar  kamen.  Beides
liegt  nicht  etwa  in  der  Verachtung  des  Sakraments  oder  der  Konfirmation,  sondern  es  liegt
daran,  dass  viele  MÅtter  sogleich  im  Krankenhaus  taufen  lassen,  und  dass  infolge  des  sich
nun  auswirkenden  GeburtenrÅckganges  wÉhrend  der  Kriegszeit  weniger  Kinder  vorhanden
sind. Wir haben in ErlÄser 61 Kinder getauft und 138 Kinder konfirmiert.
Die  kirchlichen  Trauungen  sind  auch  weniger  geworden.  Man begegnet  Åberall  bei  Hausbesuchen  und  Erkundigungen  dem  Vorurteil,  dass  die  Trauung  zu  teuer  sei  und  deshalb  unterbleiben  mÅsse,  und  man  ist  aufs  hÄchste  erstaunt,  wenn  geantwortet  wird,  dass  eine
Trauung nichts zu kosten braucht. Gewiss wÉre es heilsam, wenn Mittel und Wege gefunden
wÅrden, diese Tatsache noch weiter zur allgemeinen Äffentlichen Kenntnis zu bringen.
Bestattungen  haben  in  ErlÄser  107  stattgefunden,  EinÉscherungen  19.  Das VerhÉltnis  dieser
kirchlichen  Bestattungen  zu  den  Beisetzungen  ohne  Gottes  Wort  und  Gottes  Segen  dÅrfte
dasselbe geblieben sein, wie in den frÅheren Jahren.
Irgendwelche  Propaganda  von  Seiten  der  Sekten  oder  der  katholischen  Kirche  gegen  uns  ist
in ErlÄser nicht hervorgetreten. Austritte aus der Kirche waren leider 187.
Die sittlichen VerhÖltnisse
åber  die  sittlichen  VerhÉltnisse  einer  Groàstadtgemeinde  ein  Urteil  zu  fÉllen,  erscheint  fast
unmÄglich, bei  der groàen Verschiedenheit der  BevÄlkerung und bei der UnmÄglichkeit, alle
Mitglieder  der  Gemeinde  kennen  zu  lernen.  Von  besonders  schweren  FÉllen,  von  Verbrechen  ist  nichts  bekannt  geworden.  Die  seelsorgerischen  Besuche  der  beiden  Pfarrer  haben
manche sittliche  Not und  manche schmerzliche  Verkommenheit und  auch  vielen  bewussten
Abfall von Gott und bewusste Abweisung religiÄsen Zuspruchs ergeben; haben aber auch auf
der  anderen  Seite  immer  wieder  Menschen  gefunden  und  Familien  angetroffen,  die  trotz
Éuàeren schwieriger VerhÉltnisse sich treu  zum Glauben halten und sich ihres  Bekenntnisses
zu ihrem Heiland nicht schÉmen.
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Vom  Bezirkswohlfahrtsamt  sind  uns  wÉhrend  des  ganzen  Jahres  eine  ziemliche  Anzahl  von
„FÉllen“  Åberwiesen  worden,  und  wir  haben  sie  aufgeklÉrt,  u.a.  zum  Beispiel  Besuche  bei
FÅrsorgezÄglingen, entlassenen Gefangenen und GefÉhrdeten. Ob seelsorgerischer Zuspruch
segenvoll  gewirkt  hat,  ist  in  den  meisten  FÉllen  schwer  zu  beurteilen,  das  weià  allein  der
HerzenskÅndiger. An BemÅhungen  um  Menschenseelen innerhalb  unserer  Gemeinde hat  es
nicht gefehlt.
Die sozialen VerhÖltnisse
Die  traurigen  wirtschaftlichen  VerhÉltnisse  in  der  Gegenwart,  die  entsetzliche  Arbeitslosigkeit, die damit verbundene fruchtbare Versuchung zum MÅàiggang und zur EntwÄhnung von
jeder  geregelten Arbeit haben sich wie Åberall so auch bei uns verheerend ausgewirkt. Noch
nie  so  viel  wie  in  diesem  Winter  kommen  tÉglich  MÉnner,  Frauen  und  Kinder,  klagen  Åber
Mangel an Lebensmitteln, Hunger und KÉlte und  bitten um Hilfe. So weit es in  unseren KrÉften  steht,  die  leider  nicht  sehr  groà  sind,  haben  wir  immer  geholfen  und  weisen  keinen  zurÅck,  der bittend an unsere TÅr klopft. Tag fÅr  Tag haben die Schwestern bei ihren  Besuchen
auch leibliche  Erquickung gebracht, und jetzt  sind wir mit der Verteilung der  Winterhilfekarten  in  groàer  Arbeit. Sind  besonders  schmerzliche  FÉlle  vorliegend,  so  tritt  auch  unser  Frauenverein  mit seinen  Mitteln ein  und  hat  schon  viel  Hilfe  gebracht.  Schon  jetzt  ist  die  Arbeit
der  Vorbereitung  von  Verschickungen  schwÉchlicher  und  Åberarbeiteter  Groàstadtfrauen
und Kindern im vollsten Gange.
Gottesdienste
1. Besucherzahlen der Gottesdienste der Erwachsenen:
Wir  haben  genau  an  jedem  Sonntag,  sowohl  vormittags  wie  nachmittags  die  Besucher  und  Besucherinnen  gezÉhlt. In  unseren  sonntÉglichen  Gottesdiensten waren  21
644 Besucher und Besucherinnen. In 26 Bibelstunden und Missionsstunden 1920. In 5
Passionsgottesdiensten 501.
2. Kindergottesdienst:
Er  findet  all  sonntÉglich  statt,  von  halb  12  bis halb  13  Uhr. Wir  haben  das  Gruppensystem. Durchschnittlich haben wir 180-200 Kinder.
3. FrÅhandachten  und  Wochenschlussgottesdienste  haben  wir  in  ErlÄser  nicht  feiern
kÄnnen.  Die  beiden  Pfarrer waren  infolge  ihrer  Åbrigen  Dienstleistungen  nicht  mehr
im Stande, diese beiden, sonst sehr wÅnschenswerten Gottesdienste einzurichten.
4. Offenhalten der Kirche:
So  gerne  wie  wir  es  mÄchten,  ist  es  uns  nicht  mÄglich  gewesen,  auf  die  Dauer  eine
passende Aufsicht fÅr  das offenstehende Gotteshaus zu gewinnen, auch haben wir in
frÅheren  Jahren,  in  denen  wir  es  versucht  haben,  leider  sehr  wenige  Besucher  gehabt,  so  dass  wir  zu  der  åberzeugung  gekommen  sind,  dass  in  ErlÄser  fÅr  Offenhaltung des Gotteshauses kein allgemeiner Wunsch vorliegt.
5. Gemeindegesang:
Der  Gesang  der  Gemeinde,  der  von  einem  auàerordentlich  tÅchtigen  Organisten  geleitet  wird,  ist  ein  lebendiger  und  freudiger.  Es  wird  in  ErlÄser  krÉftig  mitgesungen.
(Die  Anzahl der Melodien, die wir in  ErlÄser  singen kÄnnen, erfolgt auf einem besonderen Blatt.)
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EinÅbung neuer Melodien:
Besondere  EinÅbungsabende  haben  wir  nicht;  wir  haben,  wenn  eine  neue  Melodie
gespielt  werden  sollte,  die  Gemeinde  vor  dem  Gottesdienst  darauf  aufmerksam  gemacht, dass eine neue Melodie gesungen werden wÅrde. Die Gemeinde hat eine solche  neue  Melodie  sehr  schnell  gelernt  und  sich  Åber  die  Bereicherung  ihres  Melodienschatzes gefreut.
6. Bibelstunde:
Die Bibelstunden in ErlÄser sind in den fast 18 Jahren ebenso wie die Missionsstunde,
die alle Monate einmal anstatt der Bibelstunden stattfanden, in einer Hand gewesen.
Es ist  in  ihnen  immer  Gottes Wort gelesen und ausgelegt worden, mit Ausnahme der
beiden Evangelien des MatthÉus und des Lukas und der Offenbarung Johannes ist das
ganze  neue  Testament  in  diesen  langen  Jahren  behandelt  worden.  Viele  Gemeindeglieder  sind  die  ganzen  Jahre  hindurch  treue  Bibelstundenteilnehmer  gewesen.  An
jedem  Donnerstag  8  Uhr  abends  findet  unsere  Bibelstunde  in  unseren  schÄnen  GemeindesÉlen statt. Die Zahl der Besucher und der Besucherinnen hat von Jahr zu Jahr
zugenommen.  Von  60-80  Teilnehmern  ist  augenblicklich  zu  berichten.  HauptsÉchlich
sind Frauen die Besucherinnen der Bibelstunde, aber nicht nur ‚alte  Frauen’, sondern
auch  solche,  die  im  besten  Lebensalter  stehen.  Auch  haben  wir  eine,  wenn  auch  geringe,  so  doch regelmÉàig  kommende Schar von  MÉnnern. Wir haben seinerzeit eine
Reihe  schÄner  neuer  Testamente  anschaffen  kÄnnen  und  geben  jedem  Teilnehmer
der  Bibelstunde,  der  nicht  ein  eigenes  neues  Testament  mitbringt, ein  solches  in  die
Hand  zum  Mitlesen.  Wir  haben  die  Beobachtung  gemacht,  dass  dies  Mitlesen  viel
Freude macht und den Segen der Bibelauslegung erhÄht.
7. Das Vereinsleben: In ErlÄser besteht ein lebendiger Frauenverein, der sich den Dienst
in  der  Gemeinde  an  den  Armen,  Vereinsamten  und  ErholungsbedÅrftigen  angelegen
sein lÉsst. Groàe Bescherungen finden zu Weihnachten statt, und auch zum Osterfest
werden  Ostergaben  verteilt.  Auch  trÉgt  der  Frauenverein  finanziell  die  Schwesternstation  und  den  Kindergarten.  Die  Mitglieder  des  Frauenvereins  gehen  selber  in  die
HÉuser und tragen den Armen und Kranken Gaben und Nahrungsmittel zu.
Unser JungmÉdchenverein ist in bester Ordnung. Wir haben die Freude, eine sehr geschickte  und  sachverstÉndige Leiterin  in  der  PersÄnlichkeit  der  Frau  Sommer-Stelter.
Schon  die  ganzen  Jahre  hindurch  seit  Bestehen  der  Gemeinde  zu  haben.  Die  jungen
MÉdchen  werden  in  unserem  Verein  trefflich  angeleitet  und  seelsorgerisch  behandelt.  Immer  wieder  weià  die  Leiterin  neue  Wege und  Mittel zu  finden,  um  die  MÉdchen innerlich zu fÄrdern.
Leider  machen wir aber  jetzt  auch  die  Beobachtung,  dass  nicht  mehr so  viele  Konfirmandinnen wie vor Jahren  zu uns kommen. Trotz dringendster Einladungen kommen
nur  verhÉltnismÉàig  wenig  zu  uns,  aber  wir  haben  doch  auch  die  Freude,  dass  sich
diese  wenigen  gut  und  treu  bewÉhren;  denn  sie  kommen  aus  Familien,  in  denen
christlicher Sinn waltet.
An  jedem  Sonntagabend kommen  die  MÉdchen zusammen,  und  immer  ist  Vorsorge
getroffen,  dass  ein  wÅrdiger  Gegenstand  behandelt  wird.  Auàerdem  werden  sie  in
einem Abendheim in Fortbildungskursen, Bibel- und Gesangstunden und gemÅtlichen
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Handarbeitsstunden  gesammelt.  Auch  eine  Jungschar  wird  besonders  betreut.  Sie
versammelt sich allwÄchentlich einmal in unserem Gemeindesaal.
Unsere  jungen  MÉnner  werden  mit  den  jungen  MÉnnern  der  Heilandgemeinde  gesammelt  in  dem  C.V.J.M.  Dort  ist  ein  besonderer  Jugendwart  angestellt,  der  unter
Leitung eines Pfarrers arbeitet. In ErlÄser wird eine Jugendgruppe jeden Freitagabend
gepflegt,  durch  Spiel,  Gesang,  Schlussandacht  wird  jener  Abend  ausgefÅllt.  Die  Zahl
ist im Wachsen.
8. Ein nachbarlicher Dienst ist in der ErlÄsergemeinde nicht organisiert.
9. Die ehelichen VerhÉltnisse: åber die stÉdtischen und kirchlichen Eheberatungsstellen
liegt  in  ErlÄser  eine  Erfahrung  nicht  vor.  Man kÄnnte  ein  dunkles  Bild  zeichnen  Åber
Unfrieden,  Zank  und  Streit  zwischen  Eltern  und  Kindern  und  man kÄnnte  ebenso  gut
ein  freundliches  Bild  zeichnen  Åber  viele  liebe  und  glÅckliche  FamilienverhÉltnisse.
Beides ist wie in jeder anderen Gemeinde auch in ErlÄser vorhanden.
10. Gemeindeversammlungen:
In  ErlÄser  sind  alljÉhrlich  die  Gemeindeversammlungen  abgehalten  worden.  Sie  haben sich gut bewÉhrt, und die Besucherzahl ist  von Jahr  zu Jahr  gestiegen. Wir haben
bei  diesen  Versammlungen  neben  einem  eingehenden  Vortrag  Åber  die  kirchliche
Arbeit  auf  den  verschiedensten  Gebieten  innerhalb  unserer  Gemeinde  jedes  Mal einen Amtsbruder eingeladen, der Åber seine Arbeit der Inneren Mission oder der gleichen  berichtet.  So  ist  schon  der  Pfarrer  Siegert  bei  uns  gewesen  und  hat  Åber  den
Bau  evangelischer  KrankenhÉuser  referiert,  und  im  vorigen  Jahr  Pfarrer  von  Wicht
Åber  Erziehungs- und  Schulfragen.  Anfragen  oder  Debatten  haben  sich  nicht  daran
angeschlossen.
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Berichte der Pfarrer zur kirchlichen Statistik an der ErlÄser-Kirchengemeinde
1932 und 1933
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Wirksame Erwerbslosenhilfe In der ErlÄser- Kirchengemeinde
Aus dem Lokalanzeiger vom 10.02.1933
Die  ErlÄserkirche  in  Moabit,  die,  wie  kÅrzlich  an  dieser  Stelle  ausgefÅhrt  wurde,  auf  historischem Boden steht und in  ihrer Architektonik einen Schmuck des Stadtbildes bedeutet, zeigt
auch ein besonders reiches Gemeindeleben.
Die Not der Zeit hat die Kirche in  den Dienst der ErwerbslosenfÅrsorge gestellt. Von den beiden  PfarrÉmtern  der  ErlÄsergemeinde  und  dem  Gemeindehelfern werden Åber  1200  Personen betreut.
Solche groàe Arbeit lÉsst sich natÅrlich nur durch eine straffe Organisation leiten. Die Pfarrer
der Gemeinde und der Gemeindepfleger arbeiten zusammen mit einem Ausschuss, der aus 6
bis 8 Arbeitslosen besteht. Jedes Mitglied hat einen bestimmten Bezirk zu betreuen.
ZunÉchst  bezieht  sich  die  Arbeit  auf  materielle  Hilfe.  Aus  Kollektivmitteln,  den  freien  Spenden und durch die Pfundhilfe kommt so viel zusammen, dass immer die dringendste Not Einzelner gelindert werden kann.
Vor  Weihnachten  war  es  durch  persÄnliche  Beziehungen  eines  Pfarrers  zu  einer  Landgemeinde mÄglich, 110  Zentner  Kartoffeln  zu  verteilen.  Mittags um  1  Uhr kam  der  Anruf, dass
der Waggon auf der Bahn eingetroffen sei, und abends um 6 Uhr hatten nahezu 10 Familien,
die bedacht worden waren, ihre Kartoffeln im Hause.
Ein  schÄnes  Beispiel  fÅr  eine  gute  Organisation.  Zu  Weihnachten  selbst  konnte  mit  UnterstÅtzung  der  Frauenhilfe  und  der  Jugendvereine  gerade  den  kinderreichen  Familien  eine
wirklich wertvolle Hilfe  durch  Lebensmittel,  Kohlen  und  Kleidung  gebracht  werden. Die Kosten der Spenden betrugen viele hundert Mark.
In  den Sprechstunden  fÅr  Erwerbslose – an zwei Tagen der Woche – kommen mindestens je
40  mit der  Bitte  um  Beratung  und  Hilfe.  Es  wird  auch  versucht,  Erwerbslosen  Arbeit  zu  verschaffen, was schon in vielen FÉllen gelang.
Aufgabe der Kirche ist  aber nicht nur  die  leibliche  FÅrsorge, darum bemÅht sich  der  Erwerbslosendienst  auch  um  die  geistige    und    seelische  Betreuung.  Es  werden  jeden  Donnerstag
Lichtbilder  oder  Filme  gezeigt,  bei  denen  oft  wertvolle und  bildende  VortrÉge gehalten  werden.  An  einem  Vormittag  der  Woche findet  eine  gut  besuchte  Aussprache  statt,  in  der  Fragen der Zeit zur Behandlung stehen.
Es  ist  eine  BÅcherei  eingerichtet,  zu  der  auch  der  Scherl-Verlag  durch  Stiftung  beigetragen
hat  und  die  eifrig  benutzt  wird.  Einmal  im  Jahr  findet  auch  ein  besonderer  Gottesdienst  fÅr
Erwerbslose mit anschlieàender Feier des heiligen Abendmahls auf Wunsch statt.
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Berichte der Pfarrer zur kirchlichen Statistik an der ErlÄser-Kirchengemeinde
1935
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Kostenvoranschlag fÅr GlockenlÖutemaschine 1935
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Schreiben an die Metallsammelstelle von 1940
Gemeindekirchenrat ErlÄserkirche                         Berlin NW 87, den 9.Juli 1940
Tgb.-Nr. 270
Zu dortiger Aufforderung v. 16.6.40                      Wikingerufer 9.
Betr. GebÉudeteile aus Kupfer
Dem
Herrn BezirksbÅrgermeister
der Verwaltungsbezirkes Tiergarten
Metallsammelstelle
Berlin NW 21
Turmstraàe 35
Berichten wir auf  obige Aufforderung, die an unsere KÅsterei gerichtet war, dass die Kupferrinnen,  Verkleidungen  und  Verzierungen  aus  Kupfer,  die  an  de  TÅrmen  und  auf  dem  Dach
unserer  ErlÄserkirche  und  unseres  Gemeindehauses  angebracht  sind,  nach  der  SchÉtzung
eines  Fachmannes  einen  ungefÉhren  Wert  von  RM  450.—570.—haben.  Nach  der  Auskunft
einer  RÅstungsfirma  wÅrde die  erforderliche  RÅstung  um  die  TÅrme  etwa  4.600.-RM  Kosten
verursachen,  die  GesamtrÅstung zur  Entfernung  aller  Teile  etwa  8000.- bis  9.000.- RM.  Dem
Unterzeichneten erscheinen  letztere  Angaben reichlich  hoch  bemessen.  Die Kupferteile  sind
beim  Bau  der  Kirche  und  des  Gemeindehauses  in  den  Jahren  1911  und  1912  angebracht
worden und schon reichlich patiniert.
i.A. Streckenbach
GeschÉftsfÅhrender Pfarrer
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Das Sammellager in der LevetzowstraÑe und der Abtransport in die
Konzentrationslager 1941
Die  Entscheidungen  und  PlÉne  fÅr  die  Deportation  der  Juden  wurde  in  der  Prinz-AlbrechtStraàe 8, der KurfÅrstenstraàe 116 und der Straàe am Groàen Wannsee 56-58 ausgearbeitet
und gefÉllt.
Wie  diese  PlÉne,  die  von  Technokraten  des  Todes  erdacht  worden  waren,  praktisch  durchgefÅhrt  wurden,  beschreibt  die  Frau  des  letzten  Vorsitzenden  der  JÅdischen  Gemeinde  in
Berlin,  Hildegard  Henschel.  åber  den  Beginn  der  Deportationen  der  Berliner  Juden  schreibt
sie aus der Sicht der Betroffenen:
„Am  19.  September  1941  musste  der  Stern  zum  ersten  Mal getragen  werden  und  wenige
Tage spÉter war VersÄhnungstag, an dem wir unseren Gottesdienst hielten. Es war mitten in
der  Vormittagspredigt,  als  der  Vorsitzende  der  Gemeinde  (Moritz  Henschel)  zum  Telefon
gerufen wurde. Ein Anruf der Gestapo beorderte ihn  nach der Burgstraàe (Sitz  der Gestapo -Leitstelle  Berlin),  wo  er  mit  dem  stellvertretenden  Vorsitzenden  Philipp  Kozower  und  der
Leiterin der Wohnungsabteilung der jÅdischen Gemeinde, Dr. Martha Mosse, zusammentraf.
Der  fÅr  die  Angelegenheiten  der  jÅdischen  Gemeinde  Berlin  zustÉndige  Gestapo  – Beamte,
PrÅfer, eine umstrittene PersÄnlichkeit, der das GlÅck hatte, bei einem Luftangriff getÄtet zu
werden,  erÄffnete  den  3  Vertretern  der  Gemeinde,  dass  die  Teilevakuierung  von  Berlin  zu
beginnen habe.
Die  Gestapo  wollte  die  Evakuierung  mit  einer  groàen  Wohnungsaktion  zur  Schaffung  von
Wohnungen  fÅr  Nazifamilien verbinden.  Es  wurde angesagt,  in  welchen HÉusern christlicher
Besitzer  den  Juden  die  Wohnungen  zu  kÅndigen  seien,  sie  wollen  diese  aufgeben.  Die  Gemeinde wurde beauftragt, neuen Wohnraum fÅr die Betroffenen zustellen.“
Neuere Forschungen  haben  die  Vermutung bestÉtigt,  wonach  die  Nazis die  Deportation der
Juden gleichzeitig dazu ausnÅtzten, Wohnraum fÅr Familien zu schaffen, deren Behausungen
durch  Bomben  zerstÄrt  worden  waren.  Gestapo-Berichte  deuten  darauf  hin,  dass  diese  Aktion bei vielen christlichen MitbÅrgern Zustimmung fand!
Ferner  wurde  angeordnet,  dass  der  Tempel  Levetzowstraàe  zu  einem  Sammellager  fÅr  ca.
1000  Personen  herzurichten  sei.  Die  Synagoge  in  der  Levetzowstraàe.  7/8  war  gegen  Ende
des 19. Jahrhunderts mit ca. 2000 SitzplÉtzen gebaut worden und wÉhrend der Pogromnacht
von 1938 nicht vÄllig zerstÄrt worden. Heute befindet sich hier ein Kinderspielplatz.
Wie  aus  dem  Bericht  von  Frau  Henschel  weiter  hervorgeht,  werden  die  Mitglieder  und  Angestellten  der  jÅdischen  Gemeinde gezwungen,  fÅr  die  Unterbringung und  Verpflegung derjenigen Juden zu sorgen, die bei Anbruch der Dunkelheit von Beamten der Gestapo aus ihren
Wohnungen geholt und in das Sammellager gebracht wurden.
Frau  Henschel  schreibt,  dass  die  Gestapo  befahl  „geeignetes  Hilfspersonal  zum  Nacht- und
Tagesdienst  (in  die  Synagoge)  zu  schicken,  wie auch  fÅr  gute  und  ausreichende  Verpflegung
aller dieser Menschen zu sorgen.
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Eine  vorzÅglich  organisierte  fieberhafte  TÉtigkeit  begann.  Lebensmittel,  Medikamente, sanitÉre  Hilfsmittel,  WÉsche,  Kleider,  Schuhe  aus  der  Kleiderkammer,  alles  wurde  nach  der  Levetzowstraàe  geschafft  und  in  wenigen Stunden  arbeiteten  getrennte  KÅchen  fÅr  Erwachsene  und  fÅr  Kinder,  arbeitete  eine  Abteilung  des  jÅdischen  Krankenhauses  mit  ârzten  und
Schwestern  als  Unfallstation  und  der  ersten  Hilfe,  es  gab  ein  abgesondertes  Kinderzimmer
fÅr Kleinkinder unter der Leitung von Kinderschwestern und KindergÉrtnerinnen.
Man  richtete  ein  Matratzenlager  fÅr  Éltere  und  schwÉchliche  Personen  ein;  junge  und  gesunde  Menschen  mussten die  Zeit  auf  der  Tempelbestuhlung,  der  Empore  verbringen;  man
organisierte  einen  GepÉcktrÉgerdienst  aus  den  Beamten  und  Angestellten  der  Gemeinde
und der Reichsvereinigung und in  einer in  der NÉhe gelegenen KÅche der Gemeinde wurden
Proviantpakete fÅr jede einzelne Person gepackt.“
Nach  1945  haben  Berufene  und  Unberufene  der  Leitung  der  jÅdischen  Gemeinde  den  Vorwurf  gemacht, sich  den  Anordnungen  der  Gestapo  allzu  sehr  gefÅgt  zu  haben.  Diese  Anklagen  sind  unberechtigt,  weil  sie  der  besonderen  Situation  nicht  gerecht  werden,  in  der  sich
die jÅdische Gemeinde befand.
Eine  Verweigerung  hÉtte  nÉmlich  am  Schicksal  der  von  der  Deportation  betroffenen  Juden
nichts geÉndert und die sofortige Ermordung der  Mitglieder und Angestellten der Reichsvereinigung der Juden und der jÅdischen Gemeinde in  Berlin nach sich gezogen.
Dies  beruht  nicht  auf  Vermutungen,  sondern  war  grausame  RealitÉt.  – Am  20.  November
1942  erschossen  die  Gestapo 8  Geiseln der  jÅdischen  Gemeinde, 12  andere  Geiseln aus  der
Gemeinde wurden nach Osten abgeschoben.
Aus: Steinerne Zeugen, StÉtten der Judenverfolgung in Berlin, Seite 59- 61
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Bericht Åber den Brand in der Kirche am 01. MÖrz 1943
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Am 1.  MÉrz  1943  – dem  Tag  der  Luftwaffe  – wurde um  21  Uhr  40  Minuten Fliegeralarm  gegeben. Die Hausgemeinschaft versammelte sich wie immer bei Fliegeralarm in  unserem Luftschutzkeller,  der seit  einigen  Wochen  in  tadellosem  Zustande  eingerichtet  ist,  die  vorgeschriebenen Luft- bzw. Gasschleusen enthÉlt und auch einen Abort hat.
Kurz nachdem die ersten im Keller waren, begann die Flak zu schieàen. Als schlieàlich in Pausen  die  gesamte  Gefolgschaft  nach  unten  gekommen  war,  wurden  sehr  starke  EinschlÉge
spÅrbar.  Das  Haus  wurde  bis  in  die  Tiefen  erschÅttert. Der  Abort  erwies  sich  fÅr  den
80jÉhrigen Gerhard Krause als sehr notwendig, da ein Hinausgehen nicht mÄglich war.
Von den zuletzt eingetroffenen Diakonissen wurde berichtet, dass der Hof taghell  erleuchtet
gewesen sei und auch viel Glas heruntergefallen  wÉre. Als der schwere Groàangriff beendet
zu  seien  schien,  verlieàen  wir  fast  alle  den  Keller,  da  Brandgeruch  zu  spÅren  war.  Die  Entwarnung war noch nicht erfolgt.
Es  zeigte  sich,  dass  auf  dem  Kirchendach  ein  Brandherd  war.  Wir  eilten  fast  alle  nach  dem
Kirchendach. Eine ganze Anzahl von MÉnnern aus der Nachbarschaft, aus dem Hause Wikingerufer 8, aus dem Bildamt der Stadt Berlin und aus der Hansaschule, auch aus den anderen
HÉusern,  auch  aus  der  Helmholtzstrasse kamen  mit  FeuerlÄschapparaten  und  Wassereimern.  Aber  es  stellte  sich  sofort  heraus,  dass  ein  Eindringen  in  den  Bodenraum  trotz  verwandter  Gasmasken  nicht  mehr  mÄglich  war.  Es brannte  in  dem  hinteren  Teil  des  Bodens,
der nach dem Wikingerufer hin ausliegt und dicht am Wohnhaus ist.
Nun wurde versucht,  das  Feuer,  das  auch  bereits  von  der  Straàe  aus  deutlich  wahrnehmbar
war,  vom  Haus  aus  durch  die  Wohnung des  3.Stockwerks  zu  bekÉmpfen.  Wasser wurde  geschleppt,  mit  den  kleinen  Feuerspritzen  wurde  gearbeitet,  aber  alles  half  nichts.  Man  erreicht  das  Feuer  nicht,  das  sich  immer  mehr  infolge  des  starken  Windes  immer  weiter  verbreitete. Bald stand das ganze Sparrenwerk des Eckgeschosses in Flammen.
GlÅcklicherweise  wehte  der  Wind  in  der  Richtung  nach  dem  Hof  und  nicht  nach  der  Kirche
hin,  sodass  eine  weitere  Ausdehnung  auf  das  Kirchendach  verhÅtet  wurde.  Die  Gefahr  war
groà,  dass  das  Feuer  durch  den  Funkenflug  auf  das  Pfarrhaus  Åbertragen  wurde. Die Polizei
war benachrichtigt;  die  Feuerwehr  kam  aber  nicht,  da  sie  an  vielen  anderen  Stellen  grÄàere
BrÉnde  zu  bekÉmpfen  hatte.  Lichterloh  brannten  die  HÉuser  und  Fabriken  in  der  nÉchsten
Umgebung.
Am  Wikingerufer  brannten Dachstuhl  und  obere  Stockwerke  in  Nummer  2.  In  der  Zinzendorfstraàe,  in  der  Levetzowstraàe.,  in  der  Jagowstraàe, in  der  Solinger  Straàe,  in  der  Straàe
Alt-Moabit, die  Fabrik  von  LÄwe  und  andere  groàe Werke. In weiterer  Entfernung  sah  man
helle  Feuerscheine.  Alle  BemÅhungen,  von  den  Wohnungen  und  auch  vom  Boden  aus  das
Feuer zu bekÉmpfen, waren vergeblich.
Mit einer kleinen Spritze erreichte man wohl das  Feuer, aber die Spritze reichte  nicht zu. Da
holte  einer  den  groàen  Schlauch  aus  der  Hansaschule.  Erst  versuchte  man,  ihn  von  einer
64
Bericht vermutlich des damaligen KÅsters.
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Wohnung aus  ans  Feuer  heranzubringen.  Dieser  Versuch  misslang, da  der  Schlauch  dazu  zu
kurz  war.  Aber  der  gemeinsamen  Anstrengung  aller  gelang  es  schlieàlich,  den  Schlauch  von
auàen  aus  aufs  Dach zu  bringen.  Das Dach des  Hauses wurde an  einer  Stelle  durchschlagen,
und von hier aus wurde man schlieàlich dem Feuer nach sehr groàen Anstrengungen Herr. –
Die  Wassermassen  haben  natÅrlich  einigen  Schaden  in  der  Kirche  gemacht,  der  aber  nicht
bedeutend  ist.  Die  Brandstelle  weist  die  verkohlten Dachsparren  auf;  die  Ziegel  sind  zum
grÄàten  Teil  heruntergefallen.  Die  Wohnungen  sind  wieder  im  alten  Zustande.  Wir  kÄnnen
nur  Gott  danken,  dass grÄàeres  Unheil  verhÅtet  wurde.  Dank  gebÅhrt  aber  vor  allem  allen
treuen  Helfern aus der Gemeinde. Aber wie groàes  Leid ist  Åber sehr viele Gemeindeglieder
gekommen!!  200  Obdachlose befinden  sich  in  der  Schule  in  der  Levetzowstr.25!!  Gott helfe
ihnen und trÄste sie, die zum groàen Teil fast alle Ihre Habe verloren haben!
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Die Not der ErlÄsergemeinde im Nachkriegs-Berlin
Streckenbach  Berlin NW 87, den 12. November 1948
Pfarrer der ErlÄserkirche  Wikingerufer 9
Sehr verehrter Herr Amtsbruder!
Die  Not  der  Berliner  Westsektoren  wird  Ihnen  aus  Zeitungen,  Rundfunknachrichten  und
Briefen  hinreichend  bekannt  sein.  Ich  brauche  darÅber  Ihnen  gegenÅber  wohl  kaum  ein
Wort  zu  sagen.  Aber  erwÉhnen  muss  ich  doch,  dass  alle  Berichte  letzten  Endes  nicht  imstande sind, persÄnliches Erleben so wiederzugeben, wie es empfunden wird.
Meine  Gemeinde  liegt  in  dem  bekannten  Berliner  Stadtteil  Moabit,  hat  360  GrundstÅcke,
von  denen  die  HÉlfte  zum  grÄàten  Teil  durch  die  Kriegsereignisse  zerstÄrt  ist.  Die  anderen
sind ebenfalls sehr in Mitleidenschaft gezogen worden.
Unsere Kirche ist  ein TrÅmmerfeld; die Auàenmauer steht zum Teil noch; das Innere  aber ist
gÉnzlich ausgebrannt und vernichtet. Das vierstÄckige Pfarr- und Gemeindehaus ist  zum Teil
wieder  bewohnbar  gemacht  worden;  es  hat  ein  Pappnotdach  erhalten,  aber  noch  keine
Dachrinnen und  Abfallrohre; im  Erdgeschoss  befindet  sich  ein  einfenstriges  Zimmer,  das  die
KÅsterei beherbergt und gleichzeitig Wohn- und Schlafraum unseres KÅsters und Rendanten
(RechnungsfÅhrer  der  Kirchengemeinde)  ist,  dessen  Wohnung  im  dritten  Stock  noch  nicht
wieder  bezugsfertig  ist;  seine  Frau  wohnt  in  der  Provinz  in  einem  Dorf  und  kommt  hin  und
wieder einmal her, um ihren  Mann zu sehen und  ihm,  soweit es ihr  mÄglich ist,  auch mit einigen Lebensmitteln zu helfen.
Auàerdem befindet  sich  im  Erdgeschoss  unsere  Diakonissenstation mit zwei  Oberlinschwestern,  und  der  Kindergarten,  der  am  1.  Juli  diesen  Jahres  wieder  erÄffnet  werden  konnte,
nachdem die RÉume, die sehr schwer gelitten hatten, wieder hergestellt worden waren.
Im  1.  Stockwerk  ist  der  Gemeindesaal  mit etwa  180  SitzplÉtzen,  der  gleichzeitig  Konfirmandensaal  und  Versammlungsraum  fÅr  alle  mÄglichen Veranstaltungen  seien  muss, da  uns  andere RÉume nicht zur VerfÅgung stehen. Auàerdem wohnt  der Kirchendiener im 1. Stock. Im
2.  Stock  wohne  ich  mit  meiner  Frau  in  meiner  alten,  aber  sehr  verkleinerten  Wohnung,  da
der grÄàte Teil unbenutzbar geworden war. Das 4. Stockwerk ist Bodenraum geworden.
Unsere  Gemeinde  hat  zwei  Pfarrer  und  etwa  6  000  Seelen  (frÅher  12  000),  unter  denen  sogenannte vermÄgende Kreise nicht mehr vorhanden sind. Die Not ist  Åberall sehr  groà. Kohlen  und  Brennmaterial  sind  nicht  vorhanden.  Die  LuftbrÅcke  versorgt  und  mit  dem  NÄtigsten; aber sehr vieles fehlt.
Um 18 Uhr fÉhrt keine Straàenbahn mehr; einmal in der Nacht und einmal am Tag gibt es fÅr
2  Stunden  Strom.  Der  Vorrat  an  Kerzen  ist  sehr  gering  und  durchweg  nicht  ausreichend.
Kochgas erhalten wir fÅr 2 Personen monatlich nur 6,7cbm. Ein Zentner Briketts kostet heute
auf  dem  schwarzen  Markt  12-15  Westmark.  Holz  ist  gar  nicht  angeboten.  Die  Menschen
hungern und frieren. Meine Konfirmanden kÄnnen zum Teil den Unterricht nicht mehr besuchen, weil sie keine Schuhe haben und der Gemeindesaal auch nicht geheizt werden kann.
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So komme ich  aus all der Not, in  der meine Gemeinde lebt,  mit der Bitte zu Ihnen:  geben sie
mir,  bitte,  etwas  in die  HÉnde,  das  ich  in  der  Gemeinde  an  die  BedÅrftigsten  weitergeben
kann.  Ich  verspreche  Ihnen,  dass  weder  von  mir  noch  von  einem  der  Helfer  auch  nur  ein
Gramm  fÅr  persÄnliche  Zwecke  verbraucht  werden  wird,  sonder,  dass  alle  Gaben  den  bedÅrftigen  Gemeindeglieder  weitergegeben werden. Ich  mÄchte auch  nicht  verfehlen,  darauf
hinzuweisen, dass wir nichts von Ihnen  erbitten, sondern durch Sie von Ihrer  Gemeinde und
deren  Gliedern.  Bitte,  machen  Sie  die  Herzen  Ihrer  Gemeindeglieder  warm  fÅr  uns  und  Sie
sie an das Wort:
Galater 6,2 „Einer trage des andern Last, so werdet Ihr das Gesetz Christi erfÅllen“.
Im Voraus danke ich Ihnen von Herzen und grÅàe Sie brÅderlich als
Ihr ergebenster.
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Wiedereinweihung der ErlÄserkirche: Zeitdokumente zur Einlage in die Turmkugel von 1956
Liebe nachkommende Gemeindeglieder,
in  diesen  Tagen  setzen  wir  die  Turmkugel  und  Kreuz  auf  die  TÅrme.  Nach  altem  Brauch  geben  wir  Dokumente  der  Zeit  und  einen  kurzen  Abriss  der  Geschichte  der  ErlÄserkirchengemeinde in die Kugeln.
Die ErlÄserkirchengemeinde ist am 19. August 1909 als Filiale der Heilands-Kirchengemeinde
eingerichtet  worden.  Die  Grundsteinlegung  der  ErlÄserkirche  ist  am  18.  November  1909  erfolgt,  die Einweihung derselben am 14. Mai 1911. Am 1. August 1912 ist  die Abzweigung  der
ErlÄsergemeinde  von  der  Heilands-Kirchengemeinde durchgefÅhrt  worden.  Von  diesem
Zeitpunkt ab waren Pfarrer an der Gemeinde:
1912 – 1930    Pfarrer Carl Schmidt
1913 – 1931    Pfarrer Martin Manger
1931 – 1952    Pfarrer Walter Streckenbach
1931 – 1945    Pfarrer Ernst Kornrumpf
1946 – 1955    Pfarrer Alfred SchÄtz
von 1952 ab    Pfarrer Fritz Helbig
von 1956 ab    Pfarrer Dr. theol. Karl Schultz
Am  22.  November  1943  abends  ist  die  Kirche  durch  Abwurf  von  Fliegerbrandbomben  in
Brand gesetzt und mit allem Inventar bis auf die Umfassungsmauern zerstÄrt worden.
Schon am 1. MÉrz 1943 war das Dach des im  Jahre  1912 gebauten Pfarr- und Gemeindehauses infolge eines Bombenabwurfes in Brand geraten, konnte aber
von den Einwohnern gelÄscht werden.
Durch den Brand der Kirche im  November 1943 sind die oberen Stockwerke (4., 3. Etage und
die  der  Kirche  zu  gelegene  HÉlfte  der  2.  Etage)  des  Gemeindehauses  vernichtet  worden.  Im
Jahre  1954 wurde das Gemeindehaus unter Leitung des Architekten Prof.  Walter KrÅger aus
Berlin-Frohnau wiederaufgebaut.
Derselbe  Architekt  leitet  jetzt  den  Wiederaufbau  der  ErlÄserkirche,  der  in  mehreren Bauabschnitten  durchgefÅhrt  werden  soll.  Der  1.  Bauabschnitt  umfasst  die  Wiederherstellung der
TÅrme,  die  in  fast  ursprÅnglicher  Bauweise  durchgefÅhrt  wird. Die  Kosten  des  Baues  der
TÅrme  werden  vom  Berliner  Stadtsynodalverband  mit  ca.  30.000,-- DM  und  von  der  Gemeinde mit ca. 8.000,--DM getragen.
Die  ursprÅnglichen  14.000  Seelen  zÉhlende  Gemeinde  umfasst  infolge  der  durch  Bombenkrieg  und  Granateinschlag  erfolgten  ZerstÄrung  von  WohnhÉusern  heute  etwa  9.500  Gemeindeglieder.  Von  diesen  setzen  sich  etwa  500  Mitglieder  des  Kirchenbauvereins  mit  regelmÉàigen BeitrÉgen fÅr die Wiederherstellung der Kirche ein.
Gott, der Herr, schenkte recht  bald  unsere Gemeinde, die  ihre  Gottesdienste und Veranstaltungen gegenwÉrtig im Saal des Gemeindehauses und im unter der Empore der Kirchenruine
1954 ausgebauten Jugendsaal halten muss, die Kirche als GottesdienststÉtte.
Berlin NW 87, den 25. Juli 1956 geschÉftsfÅhrender Pfarrer Helbig
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GegenwÉrtig gehÄren dem Gemeindekirchenrat an:
1. Charlotte Alexander Alt-Moabit 73 KaufmÉnnische  Angestellte
2. Arnold Bachmann Jagowstraàe 12              Elektromeister
3. Elisabeth Gottschalkson Tile-Wardenberg-Straàe 23/24 Dolmetscherin
4. Willy Gregor                  Alt-Moabit 37            Spediteur
5. Wilhelm Held                 Jagowstraàe 25              Tischlermeister
6. Erich-Max Hillenberg      Gotzkowskystraàe 19      Musikdirektor i. R.
7. Margarte Miehe              Gotzkowskystraàe 19      Pastorenwitwe
8. Dr. Johanne Sismin        Waldstraàe 49                 Apothekerin
9. Karl Stahn                     Wikingerufer 9           Bankangestellter
10. Erich Kahle                    Levetzowstraàe. 20          Studienrat i. R.
Berlin, 1954
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Festpredigt anlÖsslich der Wiedereinweihung der ErlÄserkirche
am 09. MÖrz 1958
gehalten von Herrn Bischof D. Dr. Dibelius
Jesaja  49,26: Ich  bin der  Herr, dein Heiland und dein ErlÄser. Nun steht sie wieder da. Frisch
wie am  ersten  Tag,  diese  Kirche,  die  so  weiterhin sichtbar  Åber  die  Ufer der  Spree  und  weit
hinein  in  unsere  groàe  Stadt  Berlin  hinein  sieht  und  all  die  tausend  Menschen  jeden  Tag
grÅàt, die Åber die GotzkowskybrÅcke strÄmen. Und predigt nur wieder in  ihrer alten Frische
und  Festigkeit  den  Namen,  den  sie  trÉgt,  hinein  in  die  Welt.  Nun  nicht  irgendeinen  Namen
aus  der  heiligen  Geschichte,  nicht  den  Namen  eines  der  JÅnger,  der  groàen  Zeugen  des
Evangeliums,  sondern  den  Namen,  der  im  Mittelpunkt  steht,  den  Namen,  der  alles  besagt,
was  wir  unserem  Herren  Jesus  Christus  verdanken.  Sie  redet  von  dem  ErlÄser  der  Menschheit. Und was kÄnnen wir an dem  Tag, an dem wir diese Kirche  nun wieder aus den HÉnden
der  ewigen  Gnade  entgegen  nehmen,  anderes  tun,  als  uns  in  dieser  Stunde  von  neuem  zu
bekennen zu dem, der da spricht: Ich bin der Herr, dein Heiland und dein ErlÄser. Jawohl, wir
haben einen ErlÄser und damit ist alles wieder gut.
Und ich  sage ganz kurz 3 Dinge: Er hat uns erlÄst von uns selber; er  hat uns freigemacht  von
der  Angst dieser  Welt; und  als  seine  erlÄsten  JÅnger  und  JÅngerinnen  sind  wir frei  zur  dankbaren Tat.
Also, er hat uns freigemacht  von uns selber. Ich  kann ja  denen, die meinen, sie seien  in  Ordnung nicht  viel  sagen  von  dem,  was  ein  ErlÄser  ist.  Wer das  nun  einmal  meint, daà  bei  ihm
alles in Ordnung sei, daà er sich keine VorwÅrfe zu machen habe, wer durch sein Leben geht
und  natÅrlich  zugibt,  daà  er  auch  einmal  etwas  nicht  richtig  gemacht  hat,  aber  darÅber  einfach  die  Achseln zuckt  und  sagt:  na  wenn schon,  der  hat  irgendwo  seine  Seele  verloren  und
wird  sich  nun  wohl  damit  begnÅgen  mÅssen,  daà  er  eine  Existenz  fÅhrt  wie  alle  irdische
Kreatur  auch,  und  daà  auf  seinem  Leichenstein  einmal  geschrieben  steht:  Er  hat  gegessen
und  getrunken,  er  hat  sich  an  manchen  Tagen  amÅsiert  und  an  manchen  Tagen  hat  er  gestÄhnt, Gott sei Dank, daà er endlich tot ist.
Aber  wer  anders  denkt,  wer  sich  nicht  zufrieden  geben  kann  mit einem  solchen  Leben,  der
weià, daà er einen ErlÄser braucht.
Liebe Freunde! Unser guter Freund, Dr. Heinemann hat vor einigen Wochen bei einer Sitzung
des Bundestages in  Bonn ein viel zitierten Wort gesprochen. Er hat gesagt: unser Herr Christus  sei  nicht  gegen  Karl  Marx,  sondern  er  sei  fÅr  uns  alle  gestorben.  Dieser  zweite  Satz  ist
natÅrlich  richtig,  und  niemand  wird  ihm  widersprechen. Aber der  erste  Satz  kÄnnte  doch  zu
MissverstÉndnissen fÅhren,  denn  es  steht  auch  geschrieben  im  1.  Brief  des  Johannes,  daà
Jesus  Christus  gekommen  sei,  daà  er  die  Werke  des  Teufels  zerstÄre.  Und  wenn  er  etwas
zerstÄren  will,  dann  muà er  ja  wohl auch  gegen  das  sein,  was er  zerstÄren  will. NÉmlich gegen alle Art zu  leben,  bei der der Mensch sich nur um sich selber dreht, gegen alle Selbstgerechtigkeit,  gegen  alle  Gottfeindschaft  in  den  Herzen  der  Menschen  und  in  dem,  was  aus
einer  solchen  Gesinnung  gestaltet  wird  auf  der  Welt,  also  auch  gegen  eine  staatliche  Ordnung, die mit allen Mitteln der Macht die Gottlosigkeit betreiben will.
Also  auch  gegen  eine  Wirtschaftsordnung,  bei  der  die  Menschen  an  nichts  anderes  mehr
denken, als wie sie mÄglichst schnell  und mÄglichst viel Geld verdienen kÄnnen. Auch gegen
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all die zahllosen VergnÅgungen in dieser unseren Stadt, die zu nichts anderem fÅhren, als die
Herzen der Jugend daran zu hindern, daà sie jemals erfahren, was wirklich Freude ist. Darum
auch gegen jede Regung der Selbstgerechtigkeit in unseren Herzen.
Und darum ist er fÅr alle gestorben, die wissen, daà sie in einem solchen Leben nicht existieren kÄnnen, sondern die sich danach sehen, ihre Seele wiederzufinden und sich damit aufzuschwingen Åber das Leben der Åbrigen seelenlosen Kreatur auf der Welt.
Und  wie  hat  er  uns  erlÄst?  Er  ist  gekommen  und  hat  uns  zunÉchst  einfach  etwas  gesagt.  Er
hat uns gesagt, daà ein  Gott im  Himmel ist,  der  uns kennt, viel besser als wir selber,  der viel
besser als wir selber weià, daà wir alle miteinander nichts taugen. Der uns aber trotzdem ein
gnÉdiger Vater sein und uns hin einnehmen will in  sein ewiges Leben. Das hat er uns gesagt.
Und nun ist es ja schlieàlich leicht, so etwas zu sagen.
Es hat kÅrzlich einer, der in Darmstadt wohnt, in einem Beitrag zu einem vielgelesenem Buch
gesagt:  wenn  jemand  kommt,  und  so  etwas  behauptet,  dann  muà  man  ihm  sagen:  Junger
Mann, lerne erst einmal das Leben kennen und komme nach 30 Jahren wieder, da wollen wir
noch einmal darÅber reden. Aber er hat es eben nicht nur gesagt, sondern er hat es zunÉchst
einmal  verwirklicht  mit seiner  Existenz,  in  dem  er  uns  gezeigt  hat,  wie das  ist,  wenn jemand
lebt,  getragen  von  dieser  gnÉdigen  Gegenwart  Gottes  und  erfÅllt  von  heiligen  Geist  Gottes.
Und dann hat er die Gegnerschaft  der Menschen auf sich genommen.
Dann  ist  er  fÅr  seine  VerkÅndigung  ans  Kreuz  gegangen  und  hat  damit  nun  dieser  ganzen
Menschenwelt die  Frage  vorgelegt:  zu  wem  wollt  ihr  gehÄren?  Zu  dieser  Masse  der  Menschen, die das nicht ertragen kÄnnen, daà jemand kommt und ihr eine solche Wahrheit sagt,
oder wollt ihr  bei mir stehen und im  Blick auf mich euch darÅber klar werden, wie es eigentlich  mit euch  selber  steht,  euch  schÉmen  Åber  euch  selbst  und  zu  empfinden,  daà  eure  Zukunft  nur  bei  etwas  sein  kann,  was ich  bin.  Und  daà  er  denn  denen,  die  zu  ihm  sagen:  nein,
ich  will  nicht  mit der  Masse mitlaufen, die  dich  nicht  ertragen  kann,  sondern  meine  Heimat
ist  bei  dir.  Dann  weist  er  sie  empor  zu  dem,  von  dem  er  da  gesagt  hat,  daà  er  ein  gnÉdiger
Vater  sein  will,  und  sagt  zu  den  Menschen, wie  ich  der  Sohn  dieses  Vaters  bin  und  in  diese
Welt gekommen  bin,  um  auch  dich  zu  suchen,  so  sollst  nun  auch  du  ein  Kind  dieses  ewigen
Vaters sein und in dem Augenblick, wo du darauf vertraust, bist du es wirklich.
Ein erlÄstes Kind dieses Vaters im Himmel, das ist das, was die Heilige Schrift Glauben nennt.
Und  in  dem  Augenblick,  wo  das  geschieht,  da  fÅhlt  sich  der  Mensch  eben  frei.  Da  weià  er,
daà  eine  andere  Art  von  Leben,  als  sie  so  die  Åbrige  Kreatur  und  diese  gleichgÅltige  Masse
der  Menschen  fÅhrt,  bei  ihm  nun  wirklich  angefangen  hat.  Und  das  ist  eine  Befreiung,  daà
man nur sagen kann: wir haben einen ErlÄser und nun ist alles gut.
Und ich  sage  das zweite gleich  hinterher:  weil er  uns  freigemacht  hat  von  uns  selbst,  darum
hat  er  uns  auch  erlÄst  aus  der  Angst.  Das  ist  ja  nun  100  000  mal ausgesprochen  worden  in
unserer Zeit, daà es in der ganzen Geschichte der Menschheit Åberhaupt noch keine Periode
gegeben  hat,  in  der  die  Menschheit so  sehr  im  Zeichen  der  Angst gestanden  hat  wie  heute.
NatÅrlich trifft  uns das im  Herzen Europas in  ganz besonderer Weise, diese Angst davor, daà
diese  Massenvernichtung, auf  die die  groàen  MÉchte der  Welt sich  immer  stÉrker  prÉparieren, einmal losbricht und dann zunÉchst einmal Åber unseren eigenen Raum einhergeht.
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125
Aber es sind ja nicht nur wir, sondern irgendwie liegt diese Angst ja allen in den Knochen. Ich
habe doch in Amerika selber Menschen besucht, die sich ihr Haus gebaut haben irgendwo in
einem  WÉlderversteck  und  wenn  man  sich  fragte:  warum  seid  ihr  denn  hierher  gezogen,
dann ist immer  die Antwort: ja, wenn es losgeht,  dann werden wir vielleicht in unserem Versteck noch am ehesten am sichersten sein. Sie leben den ganzen Tag in der Angst.
Und  selbst  wenn  man  in  die  entlegensten  Enden  der  Erde  kommt,  nach  Kontinenten  wie
Australien,  immer  wieder  begegnet  man  Menschen,  die  sagen:  wenn  es  Åber  die  hereinbricht,  diese  groàe  Massenvernichtung  und  dieses  groàes  Sterben,  dann  bleiben  auch  wir
nicht  verschont,  und  darum  ist  die  groàe  Unsicherheit  Åber  unser  Leben  gekommen.  Ich
habe  auch  Menschen getroffen,  die  immer  von  einem  Kontinent  zum  anderen  gereist  sind,
weil  die  die  Mittel  dazu  hatten,  immer  in  dem  einen  Gedanken,  wo  bin  ich  relativ  noch  am
sichersten in dieser groàen Zeit der Angst, die Åber die ganze Menschheit gekommen ist.
Und  jeden  Tag  steht  die  Kirche  Jesu  Christi  vor  der  groàen  Frage:  bist  du  auch  von  dieser
Angst befallen oder weià du eine (LÄsung)?
65
Liebe Freunde!
Diese 10  Gebote, von  denen  ich  hoffe,  daà  unsere  Kinder  sie  alle  noch  lernen  in  der  Schule,
sie haben ja alle ein „Du“. Aber das „Du“, das da angeredet wird, das ist ja zunÉchst nicht der
einzelne, sondern diese Gebote waren einem Volk gegeben, und das „Du sollst nicht tÄten“,
“Du  sollst  nicht  lÅgen“,  das  ist  alles  zunÉchst    zu  einem  Volk  gesagt  und  das  ist  auch  heute
zunÉchst  einmal  zu  den  VÄlkern,  daà  sie  den  Ehebruch  in  ihrer  Mitte  nicht  zu  einer SelbstverstÉndlichkeit  werden  lassen.  Es  gilt  den  VÄlkern,  daà  sie  nicht  tÄten  sollen.  Es  gilt  den
VÄlkern, daà sie fÅr  eine AtmosphÉre sorgen mÅssen, in  der nicht so ungeheuer viel gelogen
wird,  wie  wir  das  bei  den  groàen  Prozessen,  die  und  in  diesen  Tagen  bewegen,  ja  immer
wieder erleben.
Aber auch  das  letzte  Gebot gilt  zunÉchst  einmal  den  VÄlkern:“  Du sollst  nicht  begehren  deines NÉchsten Weib, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was sein ist“. Ihr  VÄlker Europas, ihr  sollt
nicht  die  BodenschÉtze  begehren,  die  in  einem  anderen  Land  liegen.  Ihr  sollt  nicht  Gebiete
begehren,  die  andere  VÄlkern  gehÄren,  bloà  um  die  eigene  Macht zu  vermehren,  und  sollte
nicht  Menschen  heraustreiben  aus  diesen  Gebieten,  nur  damit  ihr  da  einziehen  kÄnnt.  Ihr
sollt nicht begehren die geistige KrÉfte, also Spezialisten, die in einem anderen Volk sich empor gearbeitet haben, sondern ihr sollt zufrieden sein mit der Aufgabe, die euch Gott gestellt
hat,  fÅr  euer  eigenes  Leben,  fÅr  ihr  eigenes  Land,  fÅr  eure  eigene  Herrschaft.  Wir  wollen
nicht aufhÄren, Gott jeden Tag zu bitten, daà er eine Zeit herauffÅhre, in der diese einfachen
Gebote fÅr die VÄlker wieder etwas gelten.
Und da mÅssen wir es ja  freilich  denen, die die politische Verantwortung tragen,  Åberlassen,
was sie fÅr richtig halten, damit auf der einen Seite dieses Reich Gottes wirklich komme, und
damit  auf  der  anderen  Seite  das  eigene  Volk nicht,  ehe  sich  irgend  etwas  neu  bilden  kÄnne,
schon  zum  Raube  gottfeindlicher  MÉchte geworden  ist.  Aber  was  wir  tun  kÄnnen,  und  was
wir tun  sollen, das ist  das, daà wir die Augen aufmachen und sehen, daà durch dieses Zeitalter  der  Angst  Menschen  hindurchgehen,  die  von  solcher  Angst  vÄllig  frei  sind.  Und  diese
Menschen gibt es.
65
Zeilen fehlen
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Es hat sie gegeben in  dem groàen Zusammenbruch. Ich  habe doch genug Menschen kennen
gelernt,  die,  weil  die  frei  waren von  jeder  Angst,  der  Halt der  anderen  waren im  Luftschutzkeller, auf  der Flucht vom Osten nach dem  Westen. Nicht, weil sie besonders starke PersÄnlichkeiten waren. Es waren ja manchmal ganz einfache, ganz zarte, stille und innerliche Menschen.  Aber  sie  waren  eben  freigeworden  von  der  Angst.  Und  wenn  man  sie  nach  diesem
Geheimnis  fragt,  dann  war  es  doch  immer  so,  daà  sie  auf  einen  gestoàen  waren,  dem  sie
eben vertrauten, und daà dieser eine sie auf den  Gott gewiesen hatte und ihr  Herz dazu bewegt  hatte,  diesem  sich  ganz  hinzugeben,  der  eben  sagt:  Ich  bin  euer  Vater,  und  es  kann
euch  nichts  geschehen,  als  was  ich  hab  ersehen,  und  was  euch  selig  ist.  Sie  sind  vielleicht
gestorben, sie hÉtte ja  immer  sterben mÅssen, aber sie sind eben vielleicht etwas frÅher  gestorben,  als  sie  sonst  gestorben  wÉren.  Aber  sie  sind  mit  einem  nicht  angstverzerrtem  Gesicht  sondern  mit  einem  frÄhlichen  Schimmer  in  ihren  Augen  sind  sie  gestorben,  weil  sie
wussten,  wir gehen  in  die  HÉnde  dessen,  bei  dem  wir ewig  geborgen  sind.  Und sieh,  das  ist
das,  was der  ErlÄser  der  Menschheit in  diese  Welt hineingebracht  hat,  daà  man ohne  lange
philosophische EinÅbung, ohne ein SchÅler von Psychiatern zu sein, die, wenn man sie genau
fragt, selber grade so viel Angst haben vor dem Leben wie andere, sich einfach diesem ihrem
Vater im Himmel hingegen haben. Und daà es solche Menschen gibt, ist ja doch die Frage an
jeden  einzelnen von uns: willst du nicht auch zu diesen Menschen gehÄren, und was das bedeutet, wenn man ein Leben fÅhrt, in dem es wirklich keine Angst mehr gibt?
Es  ist  ein  groàes  Wort, was ich  sage,  aber  ein  Wort, das  ich  aus  der  Wirklichkeit des  Lebens
nehme,  in  dem  ich  jeden  Tag  stehe,  wenn  man wirklich  frei  geworden  ist  von  der  Angst.  Es
ist  ein neues Leben und zu  diesem Leben  ruft  sich der, der der ErlÄser der Menschen ist.  Du
sollst auch einmal sagen kÄnnen: Ich bin erlÄst von der Angst und nun ist alles gut.
Und ich  sage das letzte:  nun sind seine erlÄsten Menschenkinder  freigeworden  fÅr  die dankbare  Tat.  Denn daà wir das,  was wir da  erfahren,  nicht  in  unseren  Herzen verschlieàen  kÄnnen, das versteht sich ja  von selbst. Wem das Herz voll ist,  das geht der Mund Åber. Und wo
eine Existenz ist,  da wirkt sie sich auch  nach auàen aus. Ich  nehme an, daà in  dieser ErlÄserkirche  100mal  der  berÅhmte  Satz  von  Friedrich  Nietzsche  laut  geworden  ist:  „ErlÄster  mÅssen mir seine JÅnger aussehen, wenn ich an ihren ErlÄser glauben sollte“.
Das ist  sicherlich ein  falsches  Wort, denn es handelt sich gar nicht darum, wie wir aussehen,
sondern  es  handelt  sich  darum,  wer  der  ErlÄser  ist,  und  was  dieser  ErlÄser  wirkt  an  vielen
Menschen, vielleicht  noch  nicht  an  mir, aber  an  anderen  und,  wie ich  hoffe,  auch  einmal  an
mir  selbst.  Aber  das  eine  ist  klar,  wir  kÄnnen  dann  nicht  weiter  so  leben,  wie  die  anderen
leben,  sondern  das  muà  sich  irgendwie  auswirken,  was  die  erfahren  haben,  und  worin  soll
sich das anders auswirken als in der dankbaren Tat.
Als wir im Kindergottesdienst waren, haben wir gelernt:
Danken mit dem Mund hat wenig Grund,
Mit Worten Dank hat bessern Klang,
Dank mit der Tat, das ist mein Rat.
Und dieses  Wort wird ja  am  Ende  auch  fÅr  die  Erwachsenen  noch  gelten.  Wir sind  dem,  der
der ErlÄser der Menschheit ist und auch unser ErlÄser, den Dank schuldig in dem, daà wir fÅr
ihn  etwas tun.  Und nun sind wir ja  alle ganz einfache und schlichte Menschen, aber wir wol-
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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len  uns doch an jedem  Tag sagen, daà das, was wirklich bedeutend ist  in  der Geschichte der
Menschheit,  ja  nicht  die  groàen Entscheidungen  sind,  die  von  groàen  MÉnnern  einmal  getroffen  werden.  Nicht  die  groàen  Erfindungen,  die  die  Wissenschaftler  und  die  KÅnstler  in
diese Welt hineinstellen, sondern es ist ja so, wie es in unserem Leben auch ist.
Unser Leben wird ja niemals gemacht durch die besonderen Erlebnisse, die wir haben. Unser
Leben wird gemacht durch die kleinen Dinge, die sich aneinander reihen.  Man muà den Verheirateten  ja  immer  wieder  sagen,  es  ist  das  TÄrichteste,  was  es  gibt,  wenn  einer  zu  dem
anderen  sagt:  “Es  wird  ja  schon  einmal  eine  Gelegenheit  kommen,  bei  der  ich  dir  beweisen
kann,  daà  ich  dich  lieb  habe“.  Sondern  diese  Gelegenheit muà in  jeder  Stunde  da  sein,  muà
da sein an jedem  Tag, muà da sein bei jeder  Handreichung, die man dem anderen macht, in
jedem Wort,  das  man  dem  anderen  sagt.  Und  die  Summe  dieser  kleinen  Dinge  bestimmen
einen  Menschen  leben.  Und  die  Summe  dieser  kleinen  Dinge  bestimmt  das  Leben  unseres
Volkes.
Und wenn ein  Volk beherrscht wird durch eine solche Summen von kleinen  Taten der Dankbarkeit gegen den, der uns erlÄst hat, dieses Volk ist  nicht unter zu- kriegen. Es mag geschehen, was da will. Und darum, es gibt  in  dieser  Zeit der Angst Åberhaupt gar keine andere Sicherheit  als  die,  daà  jeder  von  uns  sagt:  ich  will  in  meinem  kleinen bescheidenen  Kreis  beweisen  mit der  Tat,  daà  ich  ein  Christ  bin  und  meinem ErlÄser  dankbar  bin.  Und  wenn  sich
dann  eines  an  das  andere  reiht,  da  ist  die  Sicherheit,  ich  sage  noch  mal,  die  einzige,  die  es
gibt in dieser Welt der Angst.
Und so  wollen wir etwas  tun  fÅr  den,  der  uns  erlÄst  hat.  Wir wollen nicht  vergessen,  daà  es
auf  dieser  Welt  noch  sehr  viel  zu  erlÄsen  gibt,  sehr wohl auch  Éuàerlich.  Wir  mÅssen  doch
einmal aufhorchen, daà uns gesagt wird, daà die bei weitem grÄàere HÉlfte der 2 Mill. Menschen,  die  es  auf  der  Welt gibt,  nicht  genug  zu  essen  hat,  einfach  nicht  genug  zu  essen  hat.
Wir sollten  doch  am  Ende  aufhorchen,  wenn wir immer  wieder in  unserer  eigenen  Stadt  sehen, wie viele Menschen vor unseren Augen zugrunde gehen, einfach deshalb, und das kann
man jeden  Tag in  der Zeitung lesen,  daà sie schon als Kinder kein wirkliches Zuhause gehabt
haben,  daà  heranwachsende  junge  Leute  keine  elterliche  AutoritÉt,  keine  wirkliche  Heimat
gehabt haben und damit eben zugrunde gehen. Und das fordert doch von uns, daà wir unser
Leben so einrichten, daà davon ein Einfluss ausgeht auf die anderen.
Es  kann  sich  ja  nicht  nur  darum  handeln,  daà  wir  unser  Portemonnaie  immer  wieder ziehen
und sehen, ob wir nicht noch etwas Åbrig haben fÅr die anderen. Das ist auch sehr nÄtig, und
das  muà man gerade  in  Westberlin immer  wieder  sagen.  Denn  hier  in  Berlin  kann  unser  einer  das  ja  mit  HÉnden  greifen,  daà  die  Leute  im  Osten,  die  es  weniger  gut  haben,  viel  grÄàere  Opfer  fÅr  andere  bringen  als  die  Leute  im  Westen, denen es  so  viel  besser  geht.  Aber
wer  da  meint, daà  er  unsere  Jugend  damit  hilft,  daà  er  immer  noch  mehr Geld  gibt,  ist  ein
Narr.  Sondern  es  handelt  sich  um  diese  persÄnliche,  freundliche,  gÅtige  aber  auch  ernste
Hingabe an andere Menschen. Es handelt sich  darum, daà man sich um den Nachbarn kÅmmert,  daà  man  fÅr  einen  jungen  Menschen  auch  mal  ein  gutes  Wort  hat,  daà  man  ein  Beispiel  dafÅr  gibt,  daà  man  seine  Zeit  nicht  bloà  vertrÄdeln  kann  mit  allerlei  Torheiten,  sondern daà man sich sammeln kann um etwas Ernstes. Daà man beten kann.
Es  ist  ja  fÅr  manchen Menschen einfach  ein  Erlebnis  aus  einer  fremden  Welt, wenn  sie  einmal in  ein  Haus  kommen,  wo  die  Menschen nicht  einfach  anfangen  zu  essen,  ohne  daà  sie
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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gebetet haben, und solche Beispiele sind wir den Menschen eben schuldig. Und was es sonst
noch  fÅr  Gelegenheiten  geben  mag. Wir wollen  nicht  aus  unserem  Leben  gehen,  ohne  dem
ErlÄser  der  Menschen  dadurch  gedankt  zu  haben,  daà  kein  Tag  in  unserem  Leben  sei,  an
dem wir nicht etwas getan haben fÅr  die Menschen,  fÅr  die er alle gestorben ist,  und denen
allen er hat ein ErlÄser sein wollen. Das soll das Bekenntnis sein, das von dieser ErlÄserkirche
nun hinaus geht in das Leben unserer Stadt.
Ich  weià  nicht,  ob  wir  alle  das  wirklich  ermessen,  was  das  bedeutet,  wenn  ein  Mensch und
wenn  eine  Gemeinde  sagen  kann:  Ich  habe  einen  ErlÄser,  ich  habe  einen  Gott,  der  zu  mir
spricht: Ich bin dein Heiland und dein ErlÄser. Wir wollen es lernen, besser an jedem Tag und
Åber  jedem  Tag  soll  das  aufleuchten:  Ich  danke  dir,  mein Herr  Jesus  Christus,  daà  ich  einen
ErlÄser habe fÅr Zeit und fÅr Ewigkeit. Amen.
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Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1965
Die evangelische Kirchenleitung  Berlin-Charlottenburg 18. Januar 1956
Berlin-Brandenburg  Jebensstraàe 3
K.I Nr. 292/50
Der Rat der evangelischen Kirche in  Deutschland hat in  seiner Sitzung am 17. und 18. Januar
diesen Jahres den nachfolgenden Beschluss gefasst.
Die  Kirchenleitung  Berlin-Brandenburg  hat  sich  diesen  Beschluss  in  ihrer  Sitzung  von  19.  Januar  diesen  Jahres  zu  eigen  gemacht  und  bringt  ihn  hiermit  zur  Kenntnis  mit  der  Bitte,  ihn
auch  in  den  Gemeinden bekannt  zu  machen. Damit dÅrfen  sich  auch  die  mancherlei Fragen
erledigen,  die  seitens  einzelner  Pastoren  und  GemeindekirchenrÉten  in  dieser  Sache  an  uns
gerichtet worden sind. Der Beschluss hat folgenden Wortlaut:
Die éffentlichkeit ist  in  den  letzten  Wochen durch âuàerungen einzelner kirchlicher PersÄnlichkeiten  beunruhigt worden. Wir stellen fest: diese âuàerungen, wie immer sie auch gelautet haben mÄgen, sind nicht Kundgebungen der evangelischen Kirche, sondern gehen auf die
alleinig Verantwortung derer, die sie getan haben.
Zu den aufgeworfenen Fragen erklÉrt der Rat der evangelischen Kirche in Deutschland:
1. WÅrde und Freiheit des Menschen sind nach christlicher Lehre unantastbar. Auch die
Einheit  des  deutschen  Volkes,  unter  deren  Verlust  wir  heute  mit  unserem  ganzen
Volke  schwer  leiden,  darf  nicht  mit  der  Preisgabe  dieser  wÅrde  und  dieser  Freiheit
erkauft werden.
2. Die  evangelische  Kirche  in  Deutschland  kann  den  infolge  der  Politik  der
BesatzungsmÉchte  entstandenen  eisernen  Vorhang  nicht  anerkennen.  Er  stellt  eine
stÉndige  Bedrohung  des  Friedens  und  damit  der  Freiheit  der  Menschen  und  der
VÄlker dar.
3. Es  widerspricht  der  WÅrde  des  Menschen,  wenn  Angeschuldigte  ohne  geordnetes
Rechtsverfahren  ihrer  Freiheit  beraubt  werden.  Daher  sind  Konzentrationslagern
abzulehnen,  und  zwar  in  jeder  Form  und  in  jedem  Land.  Gradunterschiede  in  der
Behandlung von HÉftlingen Éndern an diesem grundsÉtzlichen Urteil nichts.
4. GegenÅber  dem  Angriff  antichristlicher  MÉchte  haben  beide  christlichen
Konfessionen  gemeinsam  im  Kampf  gestanden.  Diese  Tatsache  muss auch  heute  fÅr
das  VerhÉltnis  der  beiden  Konfessionen  zueinander  gelten,  ohne  dass  wir  dadurch
der  Pflicht  enthoben  sind,  den  konfessionellen  Gewichtsverschiebungen  ernste
Aufmerksamkeiten zuzuwenden.
Die evangelische Kirchenleitung Berlin-Brandenburg
gez. Scharf                    gez. Dr. von Arnim                  gez. Dr. BÄhm
An die
GemeindekirchenrÉte
unseres Aufsichtsbereichs
durch die Herren Superintendenten
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
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Neuaufteilung unseres Gemeindebezirks Okt/Nov 1976
Nachfolgende Straàen gehÄren zu:
Pfarrbezirk I Pfarrbezirk II
Alt- Moabit  35- 51,  Agricolastraàe,  Englische
Straàe, Eyke-von-Repkow-Platz,  Gotzkowskystraàe,  Gutenberg-Straàe,  Hansa Ufer ,  Solinger
Straàe,  Tile-Wardenberg-Straàe,  Wikinger  Ufer,
Wullenweberstraàe, Zinzendorfstraàe
Alt-Moabit 52- 64, Beusselstraàe 1- 14 u. 77- 90,
Erasmusstraàe, Franklinstraàe,  Haller  Straàe,
Helmholtzstraàe,  Huttenstraàe  34-73, KaiserinAugusta-Allee 1-30 u. 96-120, Klarenbachstraàe,
Morsestraàe,  Neues  Ufer ,  Pascalstraàe,  Reuchlinstraàe,  Salzufer, Treidelweg,  Turmstraàe  61,
Wiebestraàe  1- 20  u.  42- 58,  Zwinglistraàe  18-26
100 Jahre ErlÄserkirche, Berlin-Moabit
131
Quellen- und Literaturverzeichnis
Von Heike MÅns
ï‚· Archiv  und  KirchenbÅcher  der  ErlÄserkirchengemeinde,  10555  Berlin    Tiergarten,
Wikingerufer 9
ï‚· Maschinenschriftliche Chronik der ErlÄserkirche, o. Verf., o. J.
ï‚· Schriftwechsel, Akten und Kirchliche Berichte, Gemeindebriefe der Gemeinde
ï‚· BeschlÅsse der Berliner Stadtsynode  in  den Sitzungen am 28.und 29. April 1904, Berlin 1904
ï‚· Goetz, Stefan: Kirchen fÅr Berlin. Der Wilhelminische Bauboom, Berlin 2008
ï‚· Grothe,  JÅrgen:  Ein  Spaziergang  durch  Moabit…wie  Bolle  auf  dem  Milchwagen.  Geschichte und Geschichten. Kassel 2008.
ï‚· Gundermann,  Iselin:  Kirchenbau  und  Diakonie:  Kaiserin  Auguste  Victoria  und  der
Evangelisch-Kirchlicher Hilfsverein. Evangelischer Kirchenbauverein, 1992.
ï‚· LÅtkemann,  Wilhelm:  Deutsche  Kirchen  Bd.  1-Die  evangelischen  Kirchen  in  Berlin.
Berlin 1926.
ï‚· Mirbach, Freiherr  von:  Die  drei  ersten  Kirchen  der  Kaiserin  fÅr  Berlin.  ErlÄser-Kirche.
Himmelfahrt-Kirche. Gnaden-Kirche. Berlin 1901.
ï‚· Oehlert,  Wilhelm:  Moabiter  Chronik.  Festgabe  zur  Feier  der  fÅnfzigjÉhrigen
ZugehÄrigkeit  des  Stadtteils  Moabit  zu  Berlin.  Im  Selbstverlag  des  Verfassers.  Berlin
NW 21, 1910.
ï‚· Rosenfeld, D. Die kirchlichen Handlungen, die Kollekten und die Wohlfahrtspflege des
Kirchenkreises Berlin-Stadt II im Jahre 1924. Berlin 1925.
ï‚· Wendland, Walter: Siebenhundert  Jahre Kirchengeschichte in Berlin, Berlin 1930.
ï‚· Bildnachweis:  Alle  Fotos  und  Dokumente  stammen  aus  dem  Archiv  der  ErlÄserKirchengemeinde.
Ein  groÑes  DankeschÄn  an  alle  ,  die  durch  WortbeitrÖge, Materialbeschaffung, Durchsicht
von Akten und Bildmaterial geholfen haben! Das waren:
Katja Babbel
Christel Weber
Waltraud Bernd
Michaela Erdmann
Christian Syperek
Rolf Jaenke
Pfarrer Wolfgang Massalsky
Gabriele Münster
Jürgen Wendt
Andrea v. Wittken
Pfarrerin Reichwald-Siewert
KMD Edda Straakholder